Literarische Verunklärung der #Eugenik im #Deutschlandfunk

Fast überall, wo es inhaltlich in solchen “Qualitätsmedien” wird, springt einen bei näheren Kenntnissen eine unauffällige, aber kontinuierlich lähmende Ungenauigkeit und Verzerrung von Tatsachen an. Hört man heute die Rezension von Francis Neniks Roman “E. oder die Insel” durch Samuel Hamen, begegnet ein im Programm des Deutschlandfunks wohl allgegenwärtiges Muster: Es gibt ein vorrangig Böses, das sich einmalig in Deutschland manifestierte und Nazismus genannt wird. Eines seiner Anliegen sei die Eugenik gewesen, am brutalsten durchgeführt an behinderten Menschen.

Letzteres ist für sich genommen richtig. Nur fehlt hier eine lange historische Vorentwicklung und zeitgenössische Kontextualisierung. Fokussiert wird – jedenfalls in dieser Besprechung – allein auf eine szenische Konkretion ausführender Mediziner und Wachleute etc.:

Die insulare Ruhe, auch der erste Lese-Eindruck, hier einem Opfer einer Nazi-Dorfintrige beizustehen, haben sich zu dem Zeitpunkt längst aufgelöst. Denn der Mann forscht als Eugeniker und ist an der Deportation und Tötung von geistig und körperlich beeinträchtigten Kindern beteiligt: […]

https://www.deutschlandfunk.de/francis-nenik-e-oder-die-insel-literarische-taeter.700.de.html?dram:article_id=497018

Wieviele Hörer des Deutschlandfunks – ohnehin nur eine winzige Splittergruppe neben ganz anderen Mehrheiten, die kaum ein “Wortprogramm” hören – werden anschließend zu einem Thema wie Eugenik noch nachlesen?

Für mich selbst waren es Leseerfahrungen, die ich bis heute in Gesprächen versuche einzubringen. Spricht man aber mit Menschen, die bestenfalls an einem Diskursgeschehen teilhaben, für das der Deutschlandfunk in seiner heutigen Form repräsentativ ist, ist das Ergebnis erwartbar: Sie kennen diese Kontexte meist wenig bis gar nicht. Und weitere ideologische Programme, die an ihnen verimpft wurden, bewirken auch eine nachhaltige Verhinderung solcher Auseinandersetzungen. Wenn ihr dürftiges Faktenwissen aufgebraucht ist, krakeelen sie im Rückzugsgefecht vielleicht noch ein wenig “Nazi”, und dasselbe Theater wiederholt sich dann beim nächsten Mal.

Der Wikipedia-Eintrag zur Eugenik hilft schon ein wenig weiter und zeigt, dass dieses Denken seit dem griechisch-antiken Platon in Varianten das Abendland an höchster Stelle begleitet.

Deutschlandfunk-Rezensent Salmen darf seinem antideutschen Affen natürlich Zucker geben, indem er als Manifestation von Eugenik nebenbei zunächst eine “Nazi-Dorfintrige” wittert – ein Lieblings-Schema dieses Erklärbärentums. Man reagiert sich von Großstädten aus (in denen nicht wenige Bessergestellte vor dem zu fliehen versuchen, dessen Eindämmung man explizit immer nur als “Nazitum” identifiziert) an der Provinz ab.

Mit der Historie hat das schon anhand des Wikipedia-Eintrags wenig zu tun. Was die deutschen “Nazis” exekutierten, war ja u. a. das Gedankengut ihres späteren Kriegsfeindes und eines der “Befreier” Deutschlands von den Nazis:

Winston Churchill war ebenfalls ein Vertreter der Eugenik; er sah in den „Geistesschwachen“ und „Verrückten“ eine Bedrohung für Wohlstand, Vitalität und Kraft der britischen Gesellschaft. Als Politiker trat er für Segregation und Sterilisierung ein, damit der „Fluch mit diesen Menschen ausstirbt und nicht an nachfolgende Generationen weitergegeben wird“.

https://de.wikipedia.org/wiki/Eugenik

Aber wozu davon erzählen? Dann würde man ja nicht von Herrn Salmen im Deutschlandfunk rezensiert, oder?

Hermann Ploppa hat uns in “Hitlers amerikanische Lehrer” (2008) schon deutlich mehr aufgezeigt, wie die Kultur der späteren Siegermächte nicht zuletzt mit dem verbunden war, was ab 1945 den “Deutschen” als ihre ureigene “Schuld” gelehrt wurde – bis heute in diesen Radiosendungen. Das Betreiben von gefängnisähnlichen Arbeitslagern war ein Beitrag zum unermesslichen Reichtum der Rockefellers, die im sichtbaren Zentrum der bis heute wirksamen globalen Kriegsmaschinerie leitend mitwirkten. Wie die Carnegie-Stiftung förderte die Rockefeller-Stiftung die Eugenik, so auch noch den Ausbildungsgang von Josef Mengele im deutschen Kaiser-Wilhelm-Institut.

Um dies zu verbergen, benutzt ‘man’ heute auch und nicht zuletzt die Wikipedia, in der schon deutlich mehr zu erfahren ist als allermeistens im Deutschlandfunk oder anderswo im intellektualistischen Mainstream. Von Carnegie oder Rockefeller ist dort auch auf Englisch zu diesem Thema nichts zu lesen – was die Wikipedia auch in diesem Fall als “Lexikon” disqualifiziert. Sie ist ein Propaganda-Instrument zu einer schleichenden Art von Geschichtsfälschung, die wohl am deutlichsten George Orwells Roman “1984” (1949) im Vorhinein ausmalte. Und deren konsequente Flankierung hören wir bei Hamen mit Nenik im Deutschlandfunk: ständige Vereinseitigung auf bestimmte historische Beispiele, konsequente Aussparung von Kontext und Historie, wenn sie andere als deutsche Beteiligte (real oder fiktiv) betreffen.

Edwin Black hat 2021 mit “War Against the Weak” den historischen Blick erneut erweitert, wie ihn auch der Deutschlandfunk weiter totzuschweigen versucht:

Eugenics would have been so much bizarre parlor talk had it not been for extensive financing by corporate philanthropies, specifically the Carnegie Institution, the Rockefeller Foundation and the Harriman railroad fortune. They were all in league with some of America’s most respected scientists hailing from such prestigious universities as Stamford, Yale, Harvard, and Princeton. These academicians espoused race theory and race science, and then faked and twisted data to serve eugenics’ racist aims.

https://historynewsnetwork.org/article/1796

Was uns in dem durch die massenwirksamen etablierten Kanäle betonierten Mainstream heute bis ins Private ständig begegnet, ist die bornierte Überzeugung, ein Böses und sonst eigentlich nur Gutes (“Befreier”, “Demokraten”, “Humanisten” etc.) zu kennen. Für komplexe Abläufe interessiert er sich nicht. Und deshalb bleibt sein Interesse für Opfer einstweilen nur geheuchelt – es ist vor diesem Hintergrund Gesinnungskitsch, wie er im Buche steht.

Das gilt erst recht für jüdische Anteile an ‘problematischer’ Geschichte. Noch etwas umständlicher als die Beteiligung von Rockefeller & Co. an der eugenischen Bewegung ist in dieser Hinsicht Material zum Zionismus zu finden, dessen Gründervater Max Nordau den Nazis seinen kulturkritischen Begriff der “Entartung” (2 Bd., 1895) hinterließ. Er träumte zur Optimierung des jüdischen Volkes vom “Muskeljuden”.

Daniel Siemens über “Konzepte des nationaljüdischen Körpers in der frühen Weimarer Republik”:

Besonders der Zionismus war eine hochgradig körperbezogene Ideologie, die viele ihrer Grundannahmen aus der Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen populärwissenschaftlichen und modernitätskritischen Diskursen um Zivilisation, Kultur und „Degeneration“, um Körper und Gesundheit sowie um individuelle Hygiene und Eugenik gewann.

https://core.ac.uk/download/pdf/8773763.pdf

In einer online einsehbaren Einleitung zu “»Die Zukunft der Juden«. Strategien zur Absicherung jüdischer Existenz in Deutschland (1890 – 1917)” (2019) von Anna Michaelis heißt es:

In einer historiografischen Arbeit über Zukunftskonzeptionen und -bearbeitungen deutscher Jüdinnen und Juden im Kaiserreich ausgerechnet die jüdische Demografie, jedoch auch Aspekte der »jüdischen« Eugenik und »Rassenbiologie« mit den Maßnahmen jüdischer Sozialpolitik in Verbindung zu setzen, ist mit Einschränkungen ein gewagtes Unternehmen.

https://www.campus.de/uploads/tx_campus/leseproben/9783593511269.pdf

Hier kommt im besprochenen aktuellen Beispiel noch hinzu, dass wir es bei Nenik mit einem literarischen Text zu tun haben. An relativ willkürlich konstruierten Situationen und Charakteren wird etwas exemplifiziert, was eine zur Einseitigkeit hin organisierte historische Darstellung bereits verzerrt hat. Wer mit diesen Hunderten von Textseiten seine Zeit verbringt, hat erst recht keine weitere Zeit, selbstbestimmt im Internet zu lesen über eine Wikipedia hinaus, in der auch vieles beschwiegen (und von anonymen Redakteuren weitestgehend völlig unbemerkt und -diskutiert ausradiert) wird.

So funktioniert hierzulande eine gut geölte Propaganda-Maschinerie, eindeutig ausgerichtet an den Partialinteressen, die über Institutionalisierung und aktives Handeln genau das förderten und auf den Weg brachten, was schließlich bis heute als historischer Schuldkomplex noch in jeder privaten Diskussion jener in Deutschland verhandelt wird, die sich überhaupt für so etwas verstärkt interessieren.

Zu den begleitenden propagandistischen Maßnahmen gehört, der Gegenseite permanent ‘rechte’ Ideologie, Verbreitung von “Fake News” und “Verschwörungstheorie” (in einem jeder Wissenschaftstheorie widersprechenden, erklärungslos vorausgesetzten schlechten Sinne) vorzuwerfen. Ob jemand Recht behält, der meint, in konsequenter Verbreitung von Halbwahrheiten, in offensichtlich willkürlichen, historisch schon aufgrund bereits gesicherter Kenntnisse eigentlich schon überkommenen Redeverboten und Diffamierungen seines Gegenübers dauerhaften Frieden fördern zu können, halte ich persönlich für sehr fragwürdig.

Daniel Hermsdorf

Verleger, Autor, Journalist bei filmdenken.de - Medienkritik, Verschwörungstheorie und Physiognomik

3 Antworten

  1. Johannes Lachmann sagt:

    Sehr geehrter Herr Hermsdorf,
    ich weiß nicht, ob Sie nur die Rezension kennen oder auch den Roman “E.” von Francis Nenik. Ich lese das Buch gerade (bin fast durch).
    Jedenfalls: Ihre Vorwürfe gehen ins Leere, denn genau das, was Sie sich wünschen, leistet der Roman. Er zeigt detailliert anhand von Beispielen russischer, englischer und amerikanischer Eugeniker auf, wie weit verbreitet dieses Denken damals war und wie eng diese “alliierten” Forscher mit den deutschen Forschern zusammenarbeiteten. Genau das ist – für mich – einer der großen Verdienste dieses Buches, dass es eben nicht in der billigen Zweiteilung Gut vs. Böse hängenbleibt, sondern die Grautöne der Geschichte und die Mannigfaltigkeit der damaligen Diskurse zeigt. Auch die von ihnen erwähnte Rockefeller-Stiftung und ihre Förderung für die deutsche Eugenik wird im Roman explizit genannt und an konkreten Beispielen belegt. Auch der Einfluss jüdischer Mediziner auf die Gesetzgebung des Deutschen Reiches bzw. der Einfluss der amerikanischen Eugenik auf Sterilisationsgesetze werden genannt.
    Dieses Buch verweigert sich meines Erachtens ganz bewusst der Frage von Gut und Böse, zumal Nenik als Autor gar nicht kommentierend oder wertend eingreift, sondern einzig und allein den deutschen Eugeniker sprechen lässt. Von “guten Befreiern” ist nirgends die Rede, im Gegenteil, die Hauptfigur erklärt immer wieder, dass die Russen und Amerikaner genau so gehandelt hätten. Ob das stimmt, ist eine andere Frage, aber Ihre Kritik sollte nicht an einer Rezension über ein Buch, sondern am Buch selbst festmachen – und vor dem hat sie keinen Bestand.

    • Sehr geehrter Herr Lachmann,
      erstaunlich, an welche Wunder Sie glauben: Hörer einer Rezension sollen per Telepathie die Inhalte eines Romans begreifen, den sie zu 99,9995% selbst niemals lesen werden – ein größerer Teil von ihnen selbst dann nicht, wenn sie ihn, angeleitet vom Dlf, gekauft haben sollten?
      Wieso fragen Sie nicht einmal, warum derlei nicht in einer Rezension vorkommt und auch sonst wohl nur allerseltenst irgendwo? (Oder können Sie mir zeigen, wo? Fragen Sie einmal, warum Rockefeller in der Wikipedia zu Eugenik nicht erwähnt wird, in einem von Ihnen deshalb gelobten einzelnen Roman zum Thema aber schon als Hauptreferenz?) – Nein, wir fallen auf dieses Portionieren und Abschieben von Informationen mit anschließendem Hinweis, irgendwie könne man es irgendwo doch schon erfahren haben (“Öffentlichkeit”, “Freiheit der Meinungsäußerung”, “Möglichkeit von Kritik”), während jeder Schwachsinn tausend Mal gebracht wird, je größer er ist, nicht mehr herein.
      Mein Blog betreibt Medien- und eher selten Literaturkritik. Hier ging es um die Darstellungsform im Dlf und nichts anderes (oder entnehmen Sie das irgendwo meinem Text?), mein Zeitbudget wird die Lektüre des Romans voraussichtlich auch nicht erlauben.

  2. Kapp sagt:

    Das Beruhigende ist doch, dass so langsam, so ganz langsam, den Leuten klar wird: Es gibt einen Unterschied, es muss doch einen geben, zwischen “Qualitäts-” und “Quantitäts”-Medien. Dass damit auch ein Ende der sog. “Demokratie” – wie wir sie kennen – eingeläutet wird, ist vielleicht auch nicht so schlecht.

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