Desinfo im Perpetuum Wulffile

Ist es Notwehr? Ist es Verzweiflung? Ach nein, man nennt es wohl die äußeren Umstände, die einen dazu zwingen, die Wulffiaden der letzten Tage bis Wochen mitbuchstabieren zu müssen, obwohl man doch weiß (siehe hier und hier), dass man eigentlich über etwas anderes berichten und diskutieren müsste.

Die Welt der Nachrichten seit der Vorweihnachtszeit ist ein Dokument neuer Qualität dafür, wie Mainstream-Medien die Aufmerksamkeit auf Unwesentliches ablenken. Die Wulff-Affären sind keine Lappalie, aber auch keine Tragödie. Juristisch werden sie wohl keine Konsequenzen haben. Das ist eine andere Kategorie als Barschel oder ein Spion im Kanzleramt. Ein paar Mauscheleien und Luxus-Bonbons am Rande.

Man sollte also die Diskussionen eingrenzen, peripher berichten (vielleicht eine Kurznachricht am Ende der Liste). Abwarten, bis Fragen beantwortet sind. Das Gegenteil ist der Fall: Gefühlt die meisten Hauptnachrichten beginnen in den letzten Wochen mit einer Wulff-Nachricht, und die Rede von der „Salami-Taktik“ der Informationsherausgabe trifft auf eine Berichterstattung, die sich dieser elenden Nicht-Information unterwirft, ebenso zu. (Sonstige Metaphernlehre lassen wir hier mal weg.)

Die „tagesschau“-Website vom 03.01.2012 führt es so vor, dass jedes Satiremagazin kapitulieren muss. 6 von 16 Inhaltskästen variieren das Mantra Wulff in allen formatmöglichen Textsorten:

Am 04.01.2012 dauert die Wulff-Berichterstattung in der „tagesschau“ ganze 7 von 15 Minuten, worauf das 20minütige Interview des Bundespräsidenten mit Ulrich Deppendorf (ARD) und Bettina Schausten (ZDF) folgt. Die Journalisten fragen durchaus direkt und offensiv, doch die Antworten bleiben erwartbar schwammig und rührselig.

Am 03.01.2012 lautet die Top-Meldung der „tagesschau“: Wulff. Erst später in der Sendung geht es um die als Erfolgsmeldung verpackte Arbeitsmarktbilanz für den Dezember: 2,7 Mio. Arbeitslose, 231.000 weniger als im Vorjahr. Dazu wird immerhin der Vorstandsvorsitzende der Arbeitsagentur Frank-Jürgen Weise gehört. Und zwar mit der halsbrecherischen Formulierung:

Man muss an der Stelle sagen, dass die Qualität der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, die gewachsen ist, nicht immer die ist, die sich die Betroffenen wünschen, nicht immer existenzsichernd …

Die Berichterstattung zu den weiteren Implikationen des Themas ist, sagen wir mal, nicht gerade tumultös. Google „hartz iv aufstocker 2011“ bringt einem v. a. Meldungen von 2009/10. Informationsgesellschaft! Mitte 2011 gab es außerdem vereinzelte Meldungen wie diese im „Focus“:

Im vergangenen Jahr habe die Gesamtzahl der sogenannten Aufstocker im Schnitt bei 1,383 Millionen gelegen, berichtete die „Bild“-Zeitung am Freitag unter Berufung auf Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit. Das seien 4,4 Prozent mehr als im Vorjahr und 13 Prozent mehr als 2007 gewesen.

Aktueller unter den findbaren ist der Artikel des „Instituts der deutschen Wirtschaft Köln“ (iwd, 17.11.2011), der Kritik am Aufstocker-Modell zum „Vorurteil“ erklärt. Für die Aufstockung durch Hartz IV werden ein paar für sich einleuchtende Argumente genannt – am stärksten wohl dies, dass die Integration in den Arbeitsmarkt gefördert werde.

Dennoch klingen die harten Zahlen anders – wenn man die Statistiken bis zum Ende liest. Das kommentiert im „Deutschlandfunk“ am 30.12.2011 Wolfram Weltzer, indem er auf die aus der Kategorie „Arbeitslos“ statistisch verbannten Arbeitslosen zusammenrechnet:

Nicht 2,7 Millionen Menschen wären im November arbeitslos gewesen, sondern 3,9 Millionen.
Auch diese Zahl findet sich im Nürnberger Zahlenwerk. Ganz am Ende der dicken Statistik weist die Bundesagentur für Arbeit detailliert die Unterbeschäftigung aus. Wohlweislich aber ganz am Ende – so schafft es die Zahl nicht in die Meldungen der Nachrichtenagenturen, und so müssen die Politiker der jeweiligen Regierung sie auch nicht kommentieren oder sich gar noch dafür rechtfertigen.

Und noch wesentlicher als dieses schon sehr wesentliche Thema sind derzeit die Entwicklungen in der „Europäischen Union“ und ihrer finanziellen Organisation. In der „tagesschau“ vom 03.01.2012 ist auch dies Thema, und zwar durchaus instruktiv mit einer Aussage von Thorsten Polleit (Barclays Capital):

Deutschland hat nun nicht mehr die Vertretung des Chefvolkswirtes und kann dadurch auch nicht mehr wie bisher die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank maßgeblich mitbeeinflussen.

Wäre es wirklich tendenziös, eine solche Aussage als erste Meldung zu platzieren? Diese Meldung kommt hier als zweite nach 4 Min. Wulff. Und wer weiß, wieviele Zuschauer erst einmal ein Kurzgespräch über die Abstrusitäten des Wulffiversums führen, als die nächste Meldung eingeblendet wird, die irgendwie weit weg und dazu noch aus dem trockenen Wirtschaftsressort stammt: „Neuer Chefvolkswirt der EZB“. Der Belgier Peter Praet ist es geworden – statt des ursprünglich vorgesehenen Jörg Asmussen.

Herrn Asmussen kennt kaum jemand. Er läuft in den Hauptnachrichten immer nur im Hintergrund herum:

Screenshot: ARD, 03.01.2012

Asmussens Mitverantwortung für die Verluste des deutschen Staates in der Finanzkrise ab 2008 haben andere (wie hier Guido Kirner) schon ausführlicher besprochen. Aus den dort genannten Gründen müsste eigentlich Asmussen – und nicht nur einmal, und nicht nur für 20 Min. – von Journalisten zur Hauptsendezeit befragt werden.

Derzeit bestätigt sich an solchen Strategien der Desinformation (wir sehen, das geht auch, indem man die Ereignisse als solche gar nicht verschweigt), dass wir uns in einer Transformation befinden, über die man in einer Demokratie eigentlich öffentlich und effektiv sprechen müsste.

Die Kosten für Hartz-IV-Aufstocker (nicht nur, aber auch billige Arbeitskräfte für Unternehmen) betrugen 2005-09 insgesamt 50 Mrd. Euro. Durch die Manöver in der EZB (auch diese hier erwähnt) kommen noch ganz andere Dimensionen von Ausgaben und Risiken auf den deutschen Steuerzahler bzw. unser aller Schuldenkonto zu.

Zur Frage, wie die zunehmende Verschuldung in der Administration gehandhabt wird und wer von ihr profitiert, sei abschließend dieser „Panorama“-Beitrag empfohlen, der „YouTube“-Zuschauer nicht so wirklich zu interessieren scheint (knapp 3000 Abrufe in einem Jahr):

Daniel Hermsdorf

Verleger, Autor, Journalist bei filmdenken.de - Medienkritik, Verschwörungstheorie und Physiognomik

Kommentar verfassen

Diese Seite verwendet Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Mit der weiteren Verwendung stimmst du dem zu.

Datenschutzerklärung