Elisabeth Noelle-Neumanns Prophezeiung zur Fernsehkultur

In einem Buchbeitrag von 1988, „Das Fernsehen und die Zukunft der Lesekultur“, verbindet die Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann (1916-2010) wahrnehmungspsychologische Thesen aus älteren und neueren Veröffentlichungen. Der Gegensatz von kognitiven Fähigkeiten, die das Lesen fördert, und der Ästhetik des Fernsehens wird hier deutlich.

Einige ausführliche Zitate können zeigen, welches Wissen in einer solchen Veröffentlichung vom Ende der 1980er Jahre enthalten ist, und wie sie sich zur medialen und politischen Gegenwart verhalten.

Zunächst geht es um Forschungen zu Wahrnehmung und Informationsverarbeitung im Vergleich von lesenden und nicht-lesenden Testpersonen sowie darum, inwiefern Informationsangebote bestimmte gesellschaftliche Gruppen erreichen – oder eben nicht:

Schon in den 40er und 50er Jahren hatten Kommunikationsforscher, die die Wirkung von Aufklärungskampagnen untersuchten, irritiert gefunden, daß diese Kampagnen ihre Adressaten nicht erreichten. Vor allem diejenigen, die schon Bescheid wußten, vergrößerten während der Kampagnen ihr Wissen, diejenigen, denen jedes Wissen fehlte, bemerkten die Kampagnen kaum. Wissen weckt Interesse, Interesse erleichtert Lernen, so vergrößert sich das Wissen, es ist ein Wechselspiel, und unvermeidlich wird dabei die Kluft zwischen den Aktiven, die zulernen, und den Passiven, die nicht zulernen, immer breiter. Für dieses Phänomen wurde der Ausdruck vom wachsenden Informationsabstand, vom ‚increasing knowledge gap‘ geprägt. Zu beobachten war diese Scherenbewegung in der modernen Welt überall, in den Industrieländern ebenso wie in den Entwicklungsländern, denen man mit Informationsprogrammen helfen wollte.
(S. 229)

Neuropsychologisch präziser geht es dann um die Rolle der beiden Hemisphären des menschlichen Gehirns in diesem Kontext:

Viele Befunde der Kommunikationsforschung der letzten Jahrzehnte kommen erst jetzt mit diesem neuen Wissenszweig ihrer Aufklärung näher: so wahrscheinlich die eingangs erwähnte Beobachtung, daß Zeitungsleser Fernsehnachrichten besser aus der Erinnerung wiedergeben können als Viel-Fernseher, die wenig Zeitung lesen; die passive Erinnerung an Fernseheindrücke, also das Wiedererkennen von Bildeindrücken ist gut entwickelt, die Bildereindrücke haften. Aber ohne eine ständig eingeübte Entschlüsselung von Worten und noch eine Stufe weiter von Schriftzeichen ist es offenbar schwerer, sie aktiv ohne Gedächtnisstütze auf einen Willensimpuls hin zu reproduzieren; dies gelingt eher, wenn die linke Hemisphäre, die auch die ‚lexikalische Hemisphäre‘ genannt wird, stärker beteiligt und geübt ist, es ist also eine Sache des ‚retrieval‘.
(S. 239)

Was dann über die Ästhetik der Repräsentation von Ereignissen durch das Fernsehen folgt, ist ein elementares Argument, um über seine gesamtgesellschaftliche und psychologische Wirkung zu reflektieren:

Das Fernsehen bringt ein ausschnitthaftes Bild des Geschehens, und zwar in einem, wie amerikanische Untersuchungen zeigen (Lang, Lang, 1953), beträchtlichen Dramatisierungseffekt, der in der Natur dieses Mediums liegt. Diese pointierten Bilderkürzel, die das Fernsehen als Realität vermittelt, fügen sich erst durch synthetische Leistungen des Zuschauers – er interpretiert, er fügt die Informationen in einen Rahmen ein, er relativiert – zu einem realistischen Bild zusammen. Für denjenigen jedoch, der diese gedankliche Organisation nicht leistet, weil er nicht liest, ergibt sich tendenziell ein zusammenhangloses Bild des Geschehens. Es passiert zwar viel, viel Streit, aber gerade dieser Eindruck schieb sich vor ein Verständnis der politischen Materie. Ohne Kontrakt mit Gedrucktem fördern die Darbietungen des Fernsehens ein falsches Bild von Politik (Noelle-Neumann, Schmidtchen, 1968, S. 56-58).
(S. 242)

Der „Streit“ bezieht sich auf Inhalte politischer Berichterstattung. Fast jede aktuelle Talkshow gibt hierüber beredt – oder eben beschreiend – Auskunft. Themen werden aufgebauscht und zerredet, Teilnehmer reden durcheinander und zerstören gedankliche Zusammenhänge, wenn man sie in zu großer Zahl für die zur Verfügung stehende Spanne von Sendeminuten aufeinanderhetzt.

Die in den nächsten Monaten bevorstehende Praxis etwa der ARD bedeutet vor dem Hintergrund der besonnenen Erwägungen einer Noelle-Neumann eine paradoxe Intervention, die allerdings ihre heilende Wirkung erst erweisen müsste – noch sind wir damit von „Reframing“ und „Alternativverhalten“ relativ weit entfernt. „Der Spiegel“ bemerkt am 05.12.2010 zur Programmplanung ab dem Herbst 2011, dass dann allein auf diesem Sender fünf wöchentliche Talkshows mit den Moderatoren Reinhold Beckmann, Günther Jauch, Sandra Maischberger, Frank Plasberg und Anne Will auf dem Programm stehen.

Für Noelle-Neumann ergibt sich die Schlussfolgerung:

Die Hemisphären-Forschung erweckt die Hoffnung, daß man eine solche Wirkung von viel Fernsehen in Zukunft erklären kann. Vom jetzigen Wissens- und Beobachtungsstand aus würden wir vermuten: Das Fernsehen trainiert nicht die Fähigkeit, der Darstellung von längeren Zusammenhängen zu folgen. Es preßt seine Mitteilungen in knappste Zeit, es erzeugt damit eine unterschwellige Ungeduld gegenüber Mitteilungen, die mehr Zeit beanspruchen. Das Fernsehen nutzt seinen Vorteil, durch rasch wechselnde Bilder anzuregen, zu beleben, Interesse zu wecken, zu unterhalten. Es entwickelt nicht die rationale Gliederung, die logische Verknüpfung, um Mitteilungen verstandesmäßig zu verarbeiten. Informiert zu sein, besteht ja nicht aus punktuellen Kenntnissen. Verstehen heißt, im wesentlichen die Zusammenhänge zwischen Fakten und Argumenten in Gedanken nachvollziehen zu können. Dabei spielt eine besonders große Rolle der direkte Zusammenhang, das heißt, daß man in der Lage ist, nicht nur Zusammenhänge zwischen einem und einem anderen Faktor zu erkennen, sondern Zusammenhänge, die in mehreren Schritten verlaufen: A beeinflußt B, und B beeinflußt C, so hängen dann A und C zusammen. Ebenso können Wechselwirkungen fast nicht durch das Fernsehen dargestellt werden.
(S. 245)

Die Aussicht, die so im Jahr 1988 gegeben wird, sollte an der Gegenwart überprüft werden:

Die Aufgabe heißt jetzt, die Beziehungen zwischen Lesen und Fernsehen zu erforschen und die Methoden zu erkunden, wie zu verhindern ist, daß sich Fernsehen ohne Lesen ausbreitet. Es würde in einer Gesellschaft von Fernsehzuschauern, die nicht zugleich Leser sind, im gesamten politischen Bereich, in allen Bereichen, in denen Menschen auf Informationen außerhalb ihrer Erfahrung angewiesen sind, die Manipulierbarkeit erleichtert. Und würden wegen Mangels an Übung und Verwöhnung durch Fernsehen die Barrieren, ein Buch zu lesen, höher werden, dann würden die Ich-Erfahrung und Phantasie veröden.
(S. 251)

Auch Elisabeth Noelle-Neumann nahm gelegentlich an Talkshows der ARD teil. Vielleicht ist es nicht nur Zufall, dass der Pianist Lang Lang (s. o.) in derselben Sendung von „Reinhold Beckmann“ am 18.12.2006 zu Gast war, als die langjährige Leiterin des Allensbach-Instituts, eines think tank nicht nur für die CDU und Noelle-Neumanns persönlichen Freund Helmut Kohl, sich in dieser Sendung ausgerechnet einer Ägyptenreise erinnerte, der sie ihren neuen Glauben an Wiedergeburt verdanke. Ihre Schilderung lässt sich abermals als paradoxe Intervention lesen, mit der sie scheinbar mit Veränderungen des Zeiterlebens Frieden schließt, die sie – in umgekehrter Logik für das Zeitempfinden von TV-Zuschauern – in ihrem zitierten Text als medienästhetische Struktur qualifiziert, die „unterschwellige Ungeduld gegenüber Mitteilungen [erzeugt], die mehr Zeit beanspruchen“ (s. o.):

„Ich hatte plötzlich das Gefühl, und das war das Entscheidende: Es gibt keine Zeit. Die Zeit ist einfach im Boden verschwunden. Herrlich.“

Als wie „herrlich“ die Dame die realgeschichtlichen Entwicklungen in ihrem Land, die sie dem Wortlaut ihrer schriftlichen Veröffentlichungen doch in Richtung Bildungsförderung und Aufklärung zu lenken versuchte, ansah, werden wir nun nicht mehr erfahren. Dass ihrer Meinung zufolge eine Zunahme von audiovisueller Prägung „die Manipulierbarkeit erleichtert“, führt in Kombination mit anderen Quellen zu dem Schluss, dass Manipulierbarkeit und Manipulation zugenommen haben. So die Ergebnisse der Studie „Leseverhalten in Deutschland im neuen Jahrtausend“ im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung von der Stiftung Lesen von 2001:

Die Buchlektüre ist bei den Bundesbürgern in den letzten Jahren im Schnitt zurückgegangen, und es gibt mehr Nichtleser. Vor allem bei den 14- bis 19-Jährigen ist ein Rückgang erkennbar: Haben 1992 noch 83% bis zu einmal pro Woche ein Buch gelesen, so sind es heute nur noch 71%. Bei den 20- bis 29-Jährigen sind es 44% gegenüber 58% in 1992.

Vielleicht ist es nicht unsymptomatisch, dass Noelle-Neumanns hochaktuelle, aber in der (massenmedialen wie wissenschaftlichen) Öffentlichkeit kaum präsente Aufsatzveröffentlichung mir in jenen Tagen begegnet, in denen – jedenfalls nach Auffassung von Slavoj Žižek in einem Artikel des „Guardian“ vom 01.02.2011 – „[i]n the best secular democratic tradition, people simply revolted against an oppressive regime“.

Für das von Žižek beschriebene Ägypten wie für das hiesige Land steht der Erfolg solcher emanzipatorischer Bewegungen in ganz unterschiedlicher Weise und divergierenden historischen Phasen kontinuierlich auf der Probe.

Zitate, sofern nicht anders verlinkt, aus
Noelle-Neumann, Elisabeth (1988): Das Fernsehen und die Zukunft der Lesekultur. In: Fröhlich, Werner D. / Zitzlsperger, Rolf / Franzmann, Bodo (Hg.) (1988): Die verstellte Welt. Beiträge zur Medienökologie. M. e. Einf. v. Neil Postman u. e. Nachw. v. Hilmar Hoffmann. Frankfurt a. M., S. 222-254

Daniel Hermsdorf

Verleger, Autor, Journalist bei filmdenken.de - Medienkritik, Verschwörungstheorie und Physiognomik

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