Weihnachtsansprache 2011 an den Bundespräsidenten
Fröhliche Weihnachten, lieber Bundespräsident!
An diesem Weihnachtsfest grüße ich Sie: den Gläubigen, der heute der Geburt seines Religionsstifters gedenkt – und auch die abgespaltenen Teile Ihrer Persönlichkeit, die die Worte der „Heiligen Schrift“ nicht immer so genau nehmen.
Mit Ihnen grüße ich die Frauen und Männer, denen Sie durch Bundesverdienstkreuze und oberflächliche Gespräche Ihre Achtung zum Ausdruck gebracht haben, weil sie „den Zusammenhalt, der unsere Gesellschaft letztlich trägt“, befördern. Ich grüße auch jene, für die diese öffentlich prämierten Personen stellvertretend geehrt wurden – und deren Lohn dafür ungewiss, wenn nicht Undank ist. Auch wenn die allgemeine Form einer solchen Rede es nicht zulassen mag – konkrete Beispiele und Differenzierungen könnten nicht schaden. Sonst bleibt es bei sprachlichen Floskeln, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben. Sie haben bestimmt das Kapitel in Alexander Dills Buch „Der große Raubzug“ (2009) gelesen, in dem Ihnen vorgerechnet wird, dass eine Krankenschwester in Köln unter dem Strich nicht mehr verdient als ein Hartz-IV-Empfänger. Und noch komplexer wird es, wenn Sie zwischen Personen, die „Zusammenhalt“ fördern und denen, die dies nicht tun, anhand weiterer Kriterien unterscheiden wollen. Die Erfolgsmodelle in verschiedensten Berufsfeldern und deren Resultate in puncto Einkommensniveau und Absicherung kann nur selten zu der Beurteilung führen: „Sie helfen ihren Mitmenschen“. Durch Ihre persönliche Freundschaft mit Carsten Maschmeyer werden Sie dies wissen. Sein Vermögen wird auf 500-650 Mio. Euro geschätzt, und zu der von ihm gegründeten Firma berichtet „Der Tagesspiegel“ am 21.12.2011, dass allein
der österreichische Verbraucherschutz – der Verein für Konsumenteninformation (VKI) – mit Unterstützung der Regierung 2500 Opfer in einer Sammelklage vertritt. Der Vorwurf laute, der Finanzvertrieb AWD habe gezielt und systematisch riskante Anlagen mit falschen Versprechungen verkauft.
Die Welt, die Sie und andere Politiker mit immerwährenden Wiederholungen wohlklingender Suggestionen vorgaukeln, ist eine andere als jene, die in Deutschland oder anderswo existiert. Sie gehören offensichtlich zu jenen, die helfen, dass es weiter in Richtung Ungleichheit und Ausbeutung geht. Und sei es nur durch Schweigen und diffus-kitschige Beschwichtigungen.
Sie behaupten in Ihrer Weihnachtsansprache 2011 einen „Geist der Gemeinsamkeit […] in Europa und der Welt“ und danken den Deutschen für ihre Spenden und den Soldaten für ihre Einsatzbereitschaft. Doch während Gutgläubige von ihrem nicht immer großen Reichtum abgeben oder sogar für humanitäre Zwecke ihr Leben riskieren, fährt der ganze Zug in eine andere Richtung. Wenn Ihre Worte nicht inhaltsleer sein sollen, müssten Sie deshalb andere Tatsachen erwähnen. Sie wissen, dass die „Deutsche Bank“ oder „Goldman Sachs“ mit Ihren Finanzprodukten Hungerkrisen forcieren. Sie wissen, dass etwa der neue italienische Ministerpräsident Mario Monti und der neue Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) Mario Draghi für Goldman Sachs gearbeitet haben oder noch tätig sind, und Sie wissen, dass der neue Ministerpräsident Griechenlands, Loukas Papadimos, an der Fälschung von Angaben seines Landes zu den Aufnahmekriterien in die Europäische Union ebenso beteiligt war wie Goldman Sachs. Deshalb ist es eine Verhöhnung aller, die die Folgen solcher politischen Fehlentwicklungen mindestens durch ihre Arbeitskraft und Lebenszeit tragen werden, wenn Sie sagen:
Europa ist unsere gemeinsame Heimat und unser kostbares Erbe. Es steht für die großen Werte der Freiheit, der Menschenrechte und der sozialen Sicherheit.
Europa wird, wie alles andere, zunehmend zu einem Spielball rücksichtsloser Raffzähne, die Politiker entweder korrumpieren oder instrumentalisieren, weil sie ahnungslos sind. Nehmen wir Letzteres zu Ihrem Vorteil, soweit es geht, noch einmal an. Dies ändert nichts daran, dass wir weiter in eine gefährliche Spirale der allgegenwärtigen Verschuldung geraten, die nur eine kleine Gruppierung nicht betrifft: die der sehr Wohlhabenden, die auf vielfältige Weise von trickreichen Effekten der Verschuldung anderer und der öffentlichen Haushalte profitieren.
Herr Wulff, Sie sagen:
Wir Deutschen haben selber immer wieder europäische Solidarität erfahren, und wir sind auch zukünftig solidarisch gegenüber Europa.
Ein Denkfehler dabei besteht darin, dass ein Wort wie „Europa“ allein den wirtschaftlichen Tatsachen nicht gerecht wird. Es kann eine Völkergemeinschaft bezeichnen, die derzeit erfreulicherweise friedlich zusammenlebt. Doch nur bis dahin ist eine solche Wortverwendung korrekt. „Europa“ ist eben auch ein Verwaltungsapparat, in dem zahlreiche Akteure relativ unbeobachtet am Werk sind. Und selbst da, wo man ihre Aktivitäten konkret benennt, erreicht dies nicht im Detail und in zutreffender Beschreibung alle Bürger, an die Sie sich mit Ihren schönen Worten richten. Wer Ihnen glaubt, ist schlecht informiert.
Die Skandale um Ihre Person aus den letzten Wochen, Herr Wulff, nehmen sich in ihrer Bedeutung für die Gemeinschaft sehr bescheiden aus gegenüber den Folgen der Finanztransaktionen, die derzeit über die Bühne gehen. (Vielleicht werden sie auch als Ablenkungsmanöver für diese verwendet, ob mit Ihrem Wissen oder ohne dieses.) Die eigentliche Hauptnachricht dieser Tage hätten eigentlich die 489 Mrd. Euro sein müssen, die die EZB an 523 Banken zu einem Zinssatz von 1 % auf drei Jahre verliehen hat.
Die Realität „Europa“ beschreibt an diesem Beispiel einmal mehr Alexander Dill in einem aktuellen Beitrag. Das billig geliehene Geld wird voraussichtlich etwa so investiert:
Eine Idee wäre es, italienische Staatsanleihen zu sechs Prozent zu kaufen. Für Staatsanleihen muss nämlich – im Gegensatz zu Krediten an Wirtschaftsunternehmen – kein Eigenkapital nachgewiesen oder gebildet werden. Die Zinsen für diese Anleihen zahlt der italienische Steuerzahler. Er zahlt damit zum dritten Mal: Zunächst muss er die Einlagen in die Europäische Zentralbank finanzieren, zum Zweiten deren Erhöhung und Haftung zur Auszahlung der 489,2 Milliarden Bankenhilfe und zum Dritten dann die Zinsen, von denen fünf Prozent zur Auszahlung eines absolut leistungslosen Einkommens von Banken und Anlegern und zur Finanzierung korrupter Beamter und Politiker dienen.
Auch den deutschen Staatshaushalt werden die Rettungsmaßnahmen für die Euro-Zone in den kommenden Jahrzehnten zusätzlich und erheblich belasten. Sie hingegen sind der Auffassung:
Regierung und Opposition haben in den vergangenen Monaten unter höchstem Druck gemeinsam weitreichende Entscheidungen getroffen. In diesem Geist der Gemeinsamkeit wird es auch mit unseren Freunden in Europa und der Welt gelingen, den Weg aus der Krise zu gehen.
In den Worten des zurückgetretenen EZB-Chefvolkswirtes Jürgen Stark klingt dies hingegen so:
Die Lösung dieser Krise lässt sich in keinem Lehrbuch nachschlagen, und all die klugen Äußerungen aus dem akademischen Bereich widersprechen sich sowohl in der Analyse als auch in den Rezepten. Das bringt die Regierungen immer wieder in fast ausweglose Situationen – dennoch müssen sie Entscheidungen treffen.
Ihnen wird vielleicht aufgefallen sein, dass wichtige Entscheider in europäischen Staaten und Gremien aus jenem Stall kommen, der nach recht einhelliger Meinung zu den strategischen Verursachern der Finanzkrise gehört. Ihnen wird auch aufgefallen sein, dass die Geldpolitik der EZB sich, wie beschrieben, mit ihrer Ausschüttung ‚billigen Geldes‘ am Vorbild der US-amerikanischen „Federal Reserve Bank“ seit den 1970er Jahren orientiert. Und Sie wissen vielleicht, dass in den USA mittlerweile 18 % der Privathaushalte wegen ihrer Armut Lebensmittelmarken erhält. Dies ist eine der Folgen, die bei einer Beibehaltung der von Ihnen, Herr Wulff, mitgetragenen Politik, mittelfristig für betroffene Staaten absehbar ist. Zu möglichen „Wegen aus der Krise“ gibt es auch Meinungen wie jene von Yoshi Frey, die corporate media aus einer Reihe von Gründen vollkommen ausblenden:
Die Sparmaßnahmen stürzten Griechenland z.B. nur noch tiefer in die Verschuldung, weil sie die Wirtschaft abwürgen. Mehr Schulden sind aber auch nicht möglich, da sowohl Staat als auch der private Sektor keine Schulden mehr bedienen können. Das Ponzi-Geldsystem ist einfach am Ende eines Zyklus angelangt. Wir brauchen ein Schulden-Reset und eine Reform der Geldordnung damit der Unsinn dann nicht von vorne beginnt.
Sie sollten sich also bewusst darüber sein, dass mit der grundlosen Beförderung von Optimismus vielleicht nur ein für die meisten schädlicher „Unsinn […] von vorne beginnt“. Es mag für Sie eine vage Motivation darin bestehen, dass Sie in diesem Unsinn bisher gut leben konnten. Für andere gilt dies nicht – etwa solche, die nicht einmal soviele Urlaubstage hatten, wie Sie sich von anderen verbilligen ließen.
In der rhetorischen Form einer Weihnachtsrede könnte man die angesprochenen Fakten in Formulierungen verpacken wie: „Für uns Politiker besteht in Zukunft die Verantwortung umso mehr darin, in Ihrem Wohle, liebe Bürger, die ungerechtfertigte Vorteilnahme einzelner zu verhindern. In diesem gemeinschaftlichen Geist, den auch und gerade das Christentum prägt, wollen wir verstärkt handeln.“ Oder: „An der anhaltenden Finanzkrise haben wir auch erkannt, wo unser Finanzsystem seine Grenzen hat. Um Armut und Gewalt zu verhindern, müssen wir alle Anstrengungen unternehmen, Wohlstand gerecht zu verteilen und nicht auf Kosten unserer Nachkommen zu leben.“
Solche Formulierungen zu finden, ist Ihnen, Herr Wulff, leider nicht gelungen. Sie haben sich für den Kitsch entschieden. Dieser Sprachkitsch zeigt uns umso deutlicher, für wen Sie präsidieren.
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