Finanzkrisenmanager und ‑propheten

Medial vermittelte Weltsicht klafft immer stärker zwischen der von etablierten Sendern produzierten und alternativen internetbasierten Anbietern auseinander. Ein gutes Beispiel ergibt der Vergleich zweier aktueller Gesprächssendungen, die sich um Wirtschaftspolitik drehen.

Da haben wir einmal „Unter den Linden Spezial“ (Phoenix, 21.12.2010). Die Journalisten Christoph Minhoff und Michael Hirz befragen Jean-Claude Juncker, „christsozialer“ Premierminister von Luxemburg und Vorsitzender der Euro-Gruppe, also einer zentralen Koordinationseinheit des europäischen Wirtschaftsraums. Es geht um vergangene und künftige Rettungsschirme für überschuldete Mitglieder der Europäischen Union und Währungspolitik.

Juncker lobt den Umgang der Europäischen Zentralbank (EZB) mit der Euro-Krise 2010 als „in hohem Maße begrüßenswert“. Minhoff fragt zuvor kritisch nach dem Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB und die Interpretation dieser Strategie, „dass es im Grunde auch nichts anderes ist, als wenn man Geld druckt.“ Juncker betont mehrfach, dass es zu den Handlungen der Staatenlenker „keine Alternative“ gebe.

Kontinuierlich zu fast allem, was es an (nicht nur wirtschafts)politischer Debatte mit aktiven Politikern gibt, werden keine Grundsatzfragen erörtert. Die ‚Alternativlosigkeit‘ ist das diskurslogische Zauberwort, mit dem der Aufmerksamkeitsfokus auf eine sehr eng abgesteckte Gegenwart gerichtet bleibt. Da helfen keine Journalistentugenden, wenn man auf einen Zeitrahmen von 45 Sendeminuten verpflichtet ist, nicht dieselbe Frage dreimal stellen will, obwohl es nötig wäre, und im ungünstigen Fall auch noch über die auflockernden Witzchen der Mächtigen lacht.

In „Unter den Linden Spezial“ kann Juncker sein Programm durchziehen. Behäbig und beschwichtigend, meist mit nahezu versteinerter Miene staatsmännisch. Bei genauerem Hinhören fehlt immer wieder die Konkretion. Manche seiner Äußerungen führen auch in nahezu unerklärliche Erwägungen. So seine Anmerkungen zu Leidtragenden der Schuldenwirtschaft aus verfehlter Finanzpolitik und Marktkrisen:

„Dies ist mit rigorosen Opfern verlangt [sic], die vor allem – um das mal salopp zu formulieren – die kleinen Leute trifft. Aber es gibt nunmal viele kleine Leute in Europa. Deshalb muss man auch von denen manchmal reden.“

Zwar bezieht er zuvor auch einmal in wenigen Sätzen Akteure wie Banken in den Kreis der zur Verantwortung zu ziehenden Instanzen mit ein. Die zitierte Formulierung verliert sich aber in unnötigen Beisätzen („salopp“), alogischen Begründungen („es gibt nunmal viele kleine Leute“, „Deshalb muss man“) und einer unklaren Schlussfolgerung.

„Kleine Leute“ verstehen weder besonders viel von Finanzpolitik, noch haben sie direkte Entscheidungskompetenz. ‚Schuldig‘ an Finanzkrisen können sie nur sein, indem sie Politiker wählen, die falsche Rahmenbedingungen schaffen – und schuldig werden sie dadurch auch nur dann, wenn sie vor der Wahl von der Presse über die Kompetenzen dieser Politiker korrekt informiert wurden. Unklar ist die Schlussfolgerung, weil Juncker gar nicht deutlich macht, warum er nun von den „kleinen Leuten“ reden „muss“: Weil sie mitverantwortlich sind oder weil sie als Unschuldige büßen müssen und ihr Leid deshalb erwähnenswert wird?

Es ist genau diese Unklarheit über Verhältnisse und Verantwortung, die die Basis für das garantiert, was in den vergangenen Jahren eine ernste wirtschaftliche Krise auf die nächste folgen lässt. (Über noch unwägbarere Andeutungen Junckers zu Schuldigen der Finanzkrise kann an dieser Stelle nicht debattiert werden. Sie entziehen sich jedenfalls einer hier objektivierbaren Aussagestruktur.) Das Lavieren eines solchen Politikersprechs hält wirkungsvoll die Debatte von Entscheidungsträgern und Mechanismen der Vorteilnahme und Machtausübung fern – zumindest in diesem Rahmen, d. h. in Sendungen, die ‚Normalverbraucher‘ derzeit noch mehrheitlich sehen, wenn sie sich für Politik interessieren und eben nicht selbstbestimmt das Internet nutzen.

In Letzerem hört sich derlei ganz anders an. Bei den dortigen Akteuren trifft man zudem auf für eine breitere Öffentlichkeit fragwürdige ‚politische Korrektheit‘ und biografisch-weltanschauliche Brüche, wie sie öffentlich-rechtliche Journalisten kaum einmal erkennen lassen.

Die Rede ist von einem Video-Stream mit dem Titel „Das Spiel ist aus. Wir müssen neu starten!“, das auf der Website „alpenparlament.tv“ kostenfrei anzusehen ist. Bei „esowatch.com“ kann man sich informieren, welchen Werdegang der Interviewer Michael Vogt aufzuweisen hat. Sein Gast ist der Wirtschaftsjournalist Michael Mross. Dieser gerät in neuerer Zeit mit seinen oppositionellen Tendenzen in den Ruch, ein Verschwörungstheoretiker zu sein (so etwa ein Beitrag auf „hagalil.com“).

Über das Gesamtbild beider Personen kann hier nicht weiter geurteilt werden. Komisch wirkt allerdings Mross’ offensichtlich veraltete persönliche Website „mross.de“, auf der „Zur Person“ bemerkt wird:

Das Thema Börse – locker und anekdotisch gewürzt, lebensnah und voller geldwerter Tipps. Der Börsenmann hält immer ein [sic] Portion Optimismus bereit.

Im Gespräch mit Vogt bekundet Mross, als Börsenberichterstatter (u. a. für den Nachrichtensender N24) nie die Zusammenhänge verstanden zu haben und seit der Wirtschaftskrise 2008 schockiert und geläutert zu sein. Meist eloquent, manchmal nach Worten ringend stellt er – einmal wird im Gespräch auch Karl Marx respektvoll erwähnt – die Tragfähigkeit des gesamten kapitalistischen Wirtschaftssystems in Frage:

„Der Untergang ist programmiert. […] Wenn man mal hinter die Kulissen guckt, was an den Universitäten gelehrt wird, da wird einem ja schlecht. Geld spielt da überhaupt keine Rolle. Die Leute sprechen von Wirtschaftswachstum. Wachsen, wachsen, wachsen – ja, wohin denn wachsen? Und mit was denn wachsen? […] Es ist eine Krise unseres Bewusstseins. Wir können nicht so weitermachen wie bisher. […] Fakt ist, dass das System selber immer mehr Schulden braucht.“

Dies ist – wie Mross korrekt konstatiert – die direkte Antithese zu dem, was ein Politiker wie Juncker als Rezept zur Krisenbewältigung ausgibt. Hier für die Überwindung der Euro-Krise:

„Wir sind so aufgestellt, dass wir, falls es mehr bräuchte, gerüstet sind, um mehr zu leisten. Eigentlich gibt das aber keine Ursache, dass wir mehr tun, weil die hochverschuldeten Staaten, die schwächelnden Staaten Portugal, Irland, Griechenland dabei sind, sehr zünftige Haushaltskonsolidierungsmaßnahmen durchzuführen mit anhaltendem Effekt, Spanien und Portugal und Griechenland auf dem Weg sind, sehr ernsthaft sich in Sachen Strukturreformen auf den Weg zu machen, um ihr Wachstumspotenzial zu steigern. Man muss ja sehen, dass man durch diese enormen Haushaltskonsolidierungsanstrengungen das Wachstum eher entschleunigt als beschleunigt in diesen Ländern. Und diese Länder brauchen eine Perspektive, die Menschen dort auch. Und deshalb ist Sorge dafür zu tragen, dass Wachstumspotenzial wieder entsteht. Dies erreicht man a) durch Haushaltskonsolidierung – wer seinen Haushalt nicht in Ordnung hat, wird nie mehr anständig wachsen – und b) durch Strukturreformen, die halt/alten (?) Wachstumskräfte, die es schlummernd in diesen Volkswirtschaften gibt, zu dynamisieren.“

Für den Medienkonsumenten bleibt es zunächst unentscheidbar, wem in diese Spielen mehr zu trauen ist: den Großkopferten, die mit enervierender Coolness ‚Krisen managen‘ und rhetorische Programme zur Ablenkung von Systemfragen und sprachlicher Abwärtstransformierung lebensweltlicher Skandale mit unabsehbaren Folgen abspulen – und nur hier und da angstproduzierende Nadelstiche setzen, indem sie, wie Juncker, auch einmal die hohe Verschuldung jedes deutschen und, noch viel mehr, jedes griechischen Neugeborenen in Erinnerung rufen; oder den mehr oder minder selbsterklärten drop outs und zu Verschwörungstheoretikern Abgestempelten, die in hysterischer Umkehrung nichts Gutes mehr am Ganzen finden können. So Mross über die Verlogenheit eines Selbstbildes des gegenwärtigen Wirtschaftssystems als marktwirtschaftlicher Wettbewerb:

„Wo gibt’s denn hier noch Konkurrenz? Die gesamte Welt, mit all ihren Geschichten, mit allen Dingen, die benötigt werden, sind doch in der Hand entweder von Monopolen oder Oligopolen. Und ob es jetzt ’n Oligopol ist oder ’n Monopol, ist auch egal – die sprechen sich eh ab. Das haben wir im Energiebereich, das haben wir im Telekommunikationsbereich, das haben wir im Nahrung… die Supermarktketten – es ist alles zentral … […] Das ganze System ist verrottet, von A bis Z.“

Man fragt sich dann noch, ob Mross seine handgenähten Lederschuhe zum Pfandleiher bringen musste. Im „alpenparlament.tv“ jedenfalls trägt er Turnschuhe ohne prominentes Markenzeichen:

Screenshot: alpenparlament.tv, 10.06.2010

Ist er also wirklich der Renegat aus dem Wirtschaftsteil? Oder soll uns die jugendliche Fußbekleidung andeuten, es fehle einem solchen Aufbegehren an Reife, und man solle sich lieber an notorische Schlipsträger halten? Mross betreibt noch eine andere als die erwähnte Website – eine, die „mmnews.de“ heißt und in hoher Frequenz die Endzeit des Finanzystems verkündet. Potenzielles Verdachtsmoment ist hier, dass zu den kontinuierlichen Anzeigenkunden Vermarkter von Edelmetallen gehören, in die panische Anleger krisenbedingt so gerne flüchten.

Ein endgültiges Argument kann dies jedoch nicht sein. Jedenfalls erscheint die Nadelstreifenfraktion gerade im Fall Juncker nicht glaubwürdiger. Im „Phoenix“-Interview heißt es auf Minhoffs Frage nach dem Umgang mit Banken und Rating-Agenturen als wesentlich Mitverantwortlichen der Finanzkrise einmal mehr allgemein und nur pauschal Konsequenz behauptend:

„Wir haben da schon angesetzt, weil wir ja eine … eine europäische Regelung über den Umgang mit Rating-Agenturen verabschiedet haben, dadurch, dass wir viele Finanzmarktregularien in Europa jetzt auf den Weg gebracht haben. Ich sehe also schon das energische Durchgreifen europäischer Politik in Sachen Finanzmarktregulierung bis hin zu gemeinsamen Bankenaufsichtsregelungen, teilweise äh … Bankenaufsichtsinstitutionen. Das geht alles in die richtige Richtung.“

Bemerkenswert ist immer wieder, dass von „Regeln“ und „Regelungen“ statt von „Gesetzen“ gesprochen wird, die eine größere Verbindlichkeit hätten. Da bleibt den Interviewern zunächst nur übrig, misstrauisch dreinzuschauen:

Screenshot: Phoenix, 21.12.2010

In der Presse-Berichterstattung wirkt das, was Juncker so zuversichtlich beschreibt, inkonsequenter und weniger angetan, den nächsten Zusammenbruch zu verhindern. So heißt es im „Handelsblatt“ am 28.01.2010, dass

die Staaten wenig dagegen tun, dass sich viele Geldinstitute im Vertrauen auf weitere Bail-outs wieder in riskante Geschäfte stürzen und sich neue gefährliche Blasen an den Finanzmärkten bilden.

Und, noch neueren Datums, in der „Zeit“ vom 14.07.2010:

Von Anfang an klar war, dass die britische Regierung nicht mitspielen würde. Der Finanzplatz London, der in Boomzeiten 15 Prozent zur britischen Wirtschaftsleistung beisteuerte, soll nicht von Brüssel überwacht werden. […] Der EU-Abgeordnete Udo Bullmann (SPD) spricht von politischem Versagen: »Während die Bundesregierung zu Hause den Mund voll nimmt, regiert in Brüssel der kleinste gemeinsame Nenner. Die groß angekündigten Finanzmarktreformen strebt diese Bundesregierung auf europäischer Ebene bislang jedenfalls nicht an.«

Am 15.09.2010 liefert ebenfalls Claas Tatje in der „Zeit“ nochmal nach::

Experten wie der Frankfurter Wirtschaftsprofessor Jan Pieter Krahnen fürchten nun, dass Ausnahmen für die Industrie zum Einfallstor für die nächsten Exzesse werden könnten. Das bedeutet: Investmentbanken können etwa über den Umweg einer Zweckgesellschaft munter weiter Handel treiben und Regulierungslücken ausnutzen. Staatliche Aufseher können das praktisch nicht kontrollieren. Banken- und Unternehmensderivate sind schließlich kaum voneinander zu trennen.

Das Problem bleibt offensichtlich (nicht nur hier), dass für eine breitere politische Debatte die Einzelheiten zu speziell und kompliziert sind, um z. B. in vorgegebenen zeitbegrenzten Sendeformaten wiedergegeben zu werden. Immer unzugänglicher klingt es, wenn man sich dem Jargon der tatsächlich involvierten Akteure nähert – wie man etwa hier in einer Eingabe des „Bundesverbands Öffentlicher Banken Deutschlands“ (VÖB) vom 15.09.2010 zu den umstrittenen Credit Default Swaps lesen kann:

Das Flagging von Leerverkaufsorders an Börsen setzt voraus, dass jeder Marktteilnehmer jederzeit feststellen kann, ob eine einzelne Order im Moment der Orderaufgabe einen Leerverkauf darstellt. Es dürfte mit einem hohen Umsetzungsaufwand einhergehen. Außerdem wäre der Nutzen für die Aufsicht fraglich. Der Ausschuss der europäischen Wertpapieraufsichtsbehörden (CESR) selbst hatte von einem solchen Vorgehen abgeraten. Das Verbot ungedeckter Leerverkäufe entspricht nicht den Erfordernissen im Wertpapierhandel.

Deshalb bleibt es bei den mit dem Sendeschema kompatiblen, reduzierten und beschwichtigenden Sprechweisen, die allem Anschein nach – und im Habitus zur Schau gestellter Seriosität – Verfälschungen von Tatsachen sind.

Daniel Hermsdorf

Verleger, Autor, Journalist bei filmdenken.de - Medienkritik, Verschwörungstheorie und Physiognomik

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