Probleme mit unlösbaren Problemen

Horst Seehofer erreicht am 09.10.2010 mit Äußerungen in der Debatte über Integration ein großes Medienecho. In der „tagesschau“ um 20 h wird ein Interview mit dem „Focus“ zitiert. Auf deren Website ist das Statement im Original zu lesen:

„Es ist doch klar, dass sich Zuwanderer aus anderen Kulturkreisen wie aus der Türkei und arabischen Ländern insgesamt schwerer tun. Daraus ziehe ich auf jeden Fall den Schluss, dass wir keine zusätzliche Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen brauchen.“

Hier wie bei anderen Themen besteht die mediale Öffentlichkeit aus einem konfusen bric à brac, in dem Partialwahrheiten, Fehlinformationen und Trugschlüsse das Publikum dazu anleiten, das Problem letztendlich als ‚irgendwie sehr kompliziert‘ zu empfinden, um dann zum nächsten Thema überzugehen – vorzugsweise zu ‚was Einfacherem‘. Letzteres ist an diesem Abend: „Das Supertalent“ (RTL, 7,82 Mio. Zuschauer), „Melodien der Berge“ (ARD, 3,59 Mio.) oder „Die große TV Total Stock Car Crash Challenge“ (Pro7, 2,14 Mio.).

„Reformstau“ nennt man mit einem – derzeit seltener verwendeten – Wort das Resultat aus dieser Ökonomie der Kommunikation. Im Fall des bayerischen CSU-Ministerpräsidenten Seehofer kann man mehrere Faktoren studieren. Zunächst betreibt er Klientelpolitik, indem er Zuwanderung ablehnt. Dies als Populismus zu geißeln, ist gewiss naheliegend und deshalb beinahe überflüssig.

Nur mit diesem Begriff lässt sich als Verhalten eines politischen Individuums notdürftig erklären, was auf der Sachebene zur Psychopathologie tendiert. Es handelt sich – in einer der drei Definitionen von „Wahn“ durch Karl Jaspers –, um

Unkorrigierbarkeit (Unbeeinflussbarkeit durch Erfahrungen und zwingende Schlüsse)

Es gilt schlicht festzuhalten, dass man CSU-Vorsitzender sein, dabei jedoch nicht einmal eine „Google“-Recherche mit Stichworten wie „migration osteuropa prognose“ durchführen kann (oder Mitarbeiter damit beauftragt) – und im Anschluss daran, ‚wahnhaft‘ nach Schulbuch, davon ‚unbeeinflusste‘ Äußerungen tätigt. Bei der genannten „Google“-Suche findet man auf der zweiten Ergebnisseite z. B. Veröffentlichungen der FDP-nahen „Friedrich Naumann Stiftung“. In einem Beitrag von Gérard Bökenkamp heißt es:

Das Berliner Institut für Bevölkerung und Entwicklung erklärte in seinem Dezember-Newsletter aus dem Jahr 2009: „Im Unterschied zur Situation in kinderreichen Ländern wie Frankreich oder Schweden stellt in Deutschland die Zuwanderung deshalb die einzige Möglichkeit dar, den Bevölkerungsrückgang der Zukunft wenn auch nicht aufzuhalten, so wenigstens abzumildern.“ Das Institut fügt allerdings später hinzu, es sei „offen, aus welchen Herkunftsländern diese kommen sollen und wie diese Menschen in Deutschland zu halten wären.“

Diese Einschätzung scheint mir repräsentativ für das zu sein, was sonst zum Thema in fundierten Publikationen zu finden ist. (Ich gab weitere Hinweise schon in Beiträgen zur Sarrazin-Debatte.) Die Kenntnisnahme von Statistiken und Prognosen lautet dann recht unisono:

Unter den jetzigen Bedingungen ist es also eher unwahrscheinlich, dass der Bedarf an Facharbeitern und Hochqualifizierten durch Zuzug von außen gedeckt werden kann, da andere Staaten wie die USA und Großbritannien sich als attraktivere Zielländer für Hochqualifizierte darstellen.

Horst Seehofer geht demnach aller Voraussicht nach fehl in der Annahme, „dass wir keine zusätzliche Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen brauchen“. Dies führt dazu, sich gar nicht erst fragen zu müssen, woher die benötigten Teilnehmer am Sozialsystem denn kommen sollen und ob sie den Fachkräftemangel auch nur annähernd ausgleichen könnten. Der logische Mechanismus dieses Debattenbeitrags ist demnach eine doppelte Verleugnung von Tatsachen mit dem Ausweichen auf eine z. Zt. illusionäre und sehr unwahrscheinliche Zukunftsoption – nicht gerade ein Rezept für ‚Realpolitik‘.

Seehofers verbales Verhalten, das alleine die „tagesschau“ zur besten Sendezeit unkommentiert als dessen parteipolitische Eigenwerbung an 4,8 Mio. Zuschauer übermittelt, wirkt vor dem Hintergrund von relevanten Sachinformationen nicht nur klinisch wahnhaft, sondern auch wirtschaftlich kontraproduktiv. Denn der unsachliche Umgang mit Migranten und deren Zurückweisung in zukünftiger Perspektive dürfte einen Effekt verstärken, den ebenfalls Bökenkamp erwähnt:

Der Vorsitzende des Sachverständigenrats für Integration und Migration Klaus Jürgen Bade beklagt, dass auch immer mehr junge, gut ausgebildete Deutsch-Türken in die Türkei ziehen. Bade sieht einen wesentlichen Grund für die Entwicklung darin, dass viele junge Türken in Deutschland kein Heimatgefühl entwickelten. Es bestehe deshalb die Gefahr, dass die Tüchtigen Deutschland verließen, während die Chancenlosen blieben, weil es nirgendwo ein vergleichbares Sozialsystem gebe.

An einem solchen Argument lässt sich erkennen, dass gerade eine Diskussion über Bildungserfolge von Migranten, wie von Sarrazin angestrengt, dringend erforderlich ist. Trittbrettfahrer dieses Diskurses, die ihn auf eine Zurückweisung von Zuwanderung verkürzen, schaden nach aktueller Lage der Dinge dem Gemeinwesen, wenn sie keine anderen Alternativen aufzeigen und an ihrer Realisierung mitwirken.

Die Informationen der FDP-nahen Naumann-Stiftung bestärken also nicht Seehofer, sondern in puncto Bildung Cem Özdemir von den „Grünen“:

Doch an der Bildungsungerechtigkeit hat sich fast zehn Jahre nach der ersten PISA-Studie immer noch nicht viel geändert. Die soziale Lage in manchen Milieus und Situation in problematischen Stadtteilen sind ein Auftrag an die Politik, endlich unser Bildungssystem, radikal zu stärken – und zwar angefangen bei den Kleinsten bis hin zu den Hochschulen. Wenn wir das nicht tun, wird dieses Land an die Wand fahren.

An dieser Stelle können zunächst weder Fragen der Staatsfinanzen noch der demografischen Entwicklung im Detail erläutert werden. In der Gesamttendenz sprechen sie wohl gegen Hoffnungen, dass hier im Vergleich zur jüngeren Vergangenheit deutliche Erhöhungen von staatlichen Ausgaben möglich sind, was auch diese bildungspolitische Devise in ihrer Machbarkeit zweifelhaft werden lässt. Eine selten ausgesprochene Konsequenz lautet: Zur Erziehung von für die jeweilige Gesellschaft schließlich ‚produktiven‘ Kindern unfähige Eltern, ob Migranten oder nicht, können nicht großflächig und auf Dauer durch das Bildungssystem substituiert werden (Diskussionspunkte: Bildungsniveau, Freizeitverhalten, Wertevorstellungen, Geschlechterrollen, Aufgabenteilung). Bei den letztgenannten Punkten trifft das (Privat‑)Fernsehen aufgrund seiner Diskursmacht von mittlerweile 70% Marktanteil eine eminente Verantwortung. Die Rolle der Medienkritik wie auch sog. staatlicher „Medienwächter“ in der Entwicklung der vergangenen drei Jahrzehnte scheint sich diesbezüglich als beschämend und weitgehend korrupt herauszustellen. Frage, auch an Cem Özdemir: Wie könnte man ein „Bildungssystem“ unter Beibehaltung der jetzigen Kultur des Privatfernsehens „radikal […] stärken“? Würden RTL & Co. lehrreiche Dokumentationen senden, wären sie nicht mehr sie selbst. Würden Kinder entgegen ihrer Gewohnheit Hausarbeiten machen und dabei den Fernseher abstellen, bräuchte man nicht von frühmorgens an ein TV-Programm, das auf sie ausgerichtet ist.

Dem Bundesministerium für Bildung und Forschung gelingt in seinem Referat der OECD-Veröffentlichung „Bildung auf einen Blick“ (2006) eine im Zusammenhang der Bevölkerungsentwicklung symptomatische pseudo-argumentationslogische Maßnahme. Zu Anfang des Papiers geht es um „die Entwicklung der Schüler- und Schülerinnenzahl im Primar- und Sekundarbereich I“ 2005-2015:

Für Deutschland ist mit einer Verringerung um 14 % zu rechnen. Dies ist weit mehr als im OECD-Schnitt erwartet wird (‑6 %). Noch deutlich höhere Rückgänge werden jedoch insbesondere für Polen (‑19 %), die Slowakische Republik (‑21 %) und Korea (-29 %) prognostiziert.

Das steht auf S. 2. Auf S. 7 ist man jedoch schon wieder guter Hoffnung, indem man offenkundig in von Wunschdenken geleitete Ankündigungsrhetorik verfällt:

Eine hoch entwickelte Dienstleistungsgesellschaft, deren Wachstum zunehmend von der Ressource Wissen abhängt, ist auf einen wachsenden Anteil hoch qualifizierter Fachleute angewiesen. Hohe Studienanfängerquoten und eine hohe Bildungsbeteiligung im Tertiärbereich tragen dazu bei, die Entwicklung und den Erhalt einer hoch qualifizierten (Erwerbs‑)Bevölkerung sicherzustellen.

Es gibt also in Deutschland, wie auch in anderen Ländern, aus denen potenziell Zuwanderung zu erwarten wäre, zurückgehende Schülerzahlen aufgrund des demografischen Wandels. Die später anschließende Formulierung eines erwünschten „wachsenden Anteils hoch qualifizierter Fachleute“ kaschiert, dass es nicht nur um einen „Anteil“, sondern auch um eine absolute Zahl im Verhältnis zu voraussehbaren Kohorten von Leistungsnehmern wie Arbeitslosen, Aufstockern und – mit rapide zunehmendem Anteil v. a. – Rentnern geht.

Die Verhackstückung von stundenlangen Nonsens-Darbietungen als RTL-„Supertalent“ – am selben Samstagabend wie Seehofers Zitat von wenigen Sekunden in den Nachrichten gesendet – kann man als die triviale Kehrseite solcher folgenschwerer Verkennungen sehen: Wo einmal die Grenze des Sinnverlustes und der Verleugnung von Wirklichkeit überschritten ist, brechen sich im höher gebildeten Segment ebenso sprachliche Kosmetik ohne nachweisbaren – und vermutlich schwindenden – Bezug („Ressource Wissen“) wie auch eine Unterhaltungskultur Bahn, in der ein Publikum von jahrelang herangezüchteten Idioten nach dem vermeintlich noch größeren Idioten schreit – und ihn von Dieter Bohlen und Redaktion geboten bekommt.

Seehofer müsste, wenn es nicht um Zuwanderer „aus anderen Kulturkreisen“ ginge, an Länder wie Polen oder die Slowakei denken. Doch von deren demografischer Entwicklung weiß er angeblich nichts, ebensowenig wie von derjenigen anderer osteuropäischer Länder, wie das „Migazin“ am 16.12.2009 berichtet:

Die neuen Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes spekulieren auf das Jahr 2014, von dem an für die 2007 beigetretenen EU-Mitgliedsstaaten Bulgarien und Rumänien die Freizügigkeit auch auf dem deutschen Arbeitsmarkt gilt. Die Zuwanderung aus diesen Ländern wäre ab diesem Zeitpunkt nicht mehr reglementiert und die Grenzen wären somit offen. Mehrere Hunderttausend sind bei der aktuellen Entwicklung aber nicht zu erwarten. Denn die auswanderungswilligen Rumänen und Bulgaren sind bereits in den vergangenen Jahren in Länder wie Großbritannien, Irland und Spanien gezogen, die ihren Arbeitsmarkt für die neuen Mitgliedsstaaten frühzeitig geöffnet haben.

Und weiter hier:

Im Jahr 2030 werden in Rumänien rund 1,1 Millionen weniger Erwerbsfähige leben, was einen Verlust von rund acht Prozent gegenüber dem Jahr 2008 bedeutet. Bulgarien wird bis 2030 bereits 16 Prozent seines Arbeitskräftepotenzials verloren haben. Der demografische Wandel in Europa wird den Wettstreit um Arbeitskräfte zunehmend verschärfen – insbesondere um die qualifizierten.

Für Bayern gibt das Statistische Landesamt Prognosen ab, die eher nach der im „Migazin“ angesprochenen ‚Spekulation‘ klingen, einen vorübergehenden möglichen Trend aufzeigen und zudem eines der wohlhabenderen und damit auch für Zuwanderung attraktiveren Bundesländer beschreiben:

Ab 2011 wird auf Grund der vollständigen Arbeitnehmerfreizügigkeit nach der EU-Osterweiterung ein Anstieg der Zuwanderung erwartet, der sich vorübergehend auch auf die Bevölkerungszahl auswirkt. Voraussichtlich im Jahr 2022 wird die bayerische Bevölkerung mit rund 12,75 Millionen Personen ihr maximales Niveau erreichen und danach wieder abnehmen.

Wovor Politiker zurückscheuen und was sie beizeiten ins krasse Gegenteil verkehren, sind Problemlagen, deren Ursachen kaum oder gar nicht bekämpft werden können. Fatal ist, dass es hierzu keinen ausreichenden journalistischen Widerpart gibt, der – wie gezeigt – inhaltlich sinnlose, falsche und manipulative Verlautbarungen in ihrem Kontext verorten würde. (Andere Parteipolitiker äußern sich wiederum nur in Sentenzen, die Seehofers Aussage ins Gegenteil verkehren und ihn zugunsten anderer Ideologien diskreditieren, wie etwa hier in einem Bericht der „Süddeutschen Zeitung“ von Daniel Brössler nachzulesen.) Das, was zu sagen und zu tun wäre, kollidiert in der gegenwärtigen Kultur mit falsch verstandener political correctness sowie zerstörerischen ökonomischen und politischen Einzelinteressen, die z. B. Rechte und Pflichten von Migranten oder die Ursachen von Kinderlosigkeit und Bildungsarmut betreffen.

Daniel Hermsdorf

Verleger, Autor, Journalist bei filmdenken.de - Medienkritik, Verschwörungstheorie und Physiognomik

Kommentar verfassen

Diese Seite verwendet Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Mit der weiteren Verwendung stimmst du dem zu.

Datenschutzerklärung