Vuvuzela Surround 5.1 a capella

Auf „Telepolis“ bemerkt Rudolf Maresch gestern schon die eigentümliche Klangcharakteristik, die sich bei der Fußball-WM in Südafrika ab dem ersten Spiel etabliert hat: Tröten, im Fachjargon „Vuvuzelas“, wurden vor Ort massenhaft unter die Leute gebracht, die nun eben tröten, was das Vuvuzela hergibt. Die korrekte Beobachtung ist, dass bei den Spielern – und bei den Zuschauern – das „Nervenkostüm auf Dauer mächtig strapaziert“ wird.

Maresch vernimmt „Hornissensound […], der den der Elefanten imitieren soll“. Um die zoologisch-phonologische Katachrese voranzubringen, könnte auch an Fliegenschwärme gedacht werden, die hinter Moskitonetzen toben. Aber genug der Worte: Sie haben es bestimmt schon selbst gehört, wenn Sie einen Fernseher besitzen und sich, ohne so etwas zu ahnen, in Zeitgenossenschaft üben wollten.

Die ohrenbetäubende Vuvuzela-Orgie verursacht wahrhaft eine neue Qualität in Zumutungen, mit denen das TV aufzuwarten hat. (Abschalten gilt nicht, wenn andere es nicht auch tun.) Einmal mehr realisiert die Programmgestaltung – vorbereitet durch eine instrumentale Verkaufsidee – ihre eindrücklichste Kritik gleich selbst, und zwar hier qua enervierendem Geräusch. Dass der Kommentar dem Stummstellen des Tons am Empfangsgerät zum Opfer fällt, ist dann ein erster Erfolg dieser Selbstdemontage. In den folgenden Wochen wird sich noch zeigen, bei wie vielen Zuschauern dies weitergehend verfängt.

Dass Semantik noch nicht ganz so abgehalftert ist, werden spätestens die auch nur halbwegs Bibelfesten ahnen. Der „Fliegenfürst“, so weiß schon die „Wikipedia“, ist einer der vielen Namen des Teufels. „Beelzebub (von Baal Sebul, Fürst Baal). Weil den Baalstatuen auch im Sommer geopfert wurde, lockte das Opferblut die Fliegen an.“

So kommt Symbolik auch während des Spiels im eher traditionellen Gewand daher. Glen Johnson, ein englischer Außenverteidiger, verletzte sich im zweiten Spiel der WM, England-USA (ARD, 12.06.2010), leicht an der Lippe. Wenn Sie sich die folgenden Screenshots ansehen, können Sie dies in der Abfolge der Einstellungen nachvollziehen. Ich wähle als Einstieg eine amerikanische Einstellung, nachdem sich Johnson schon verletzt hat. Sein Teamkollege Aaron Lennon ist in der Rückenansicht mit seiner Trikotnummer 7 zu sehen. Diese Zahl spielt nicht nur im Aberglauben eine Rolle, sondern auch eine kanonische in Religionen. Bleiben wir beim Christentum: „Im Christentum hat die Sieben ebenfalls ihre Bedeutung; sie wird hier als Kombination der göttlichen Trinität (Drei) mit der irdischen Vier Elemente gedeutet. Von Jesus Christus überliefern die Evangelien Sieben Letzte Worte am Kreuz und sieben ‚Ich-bin-Worte‘.“ (Wikipedia) (Dies sind nicht die einzigen Übertragungen des Zahlenwerts auf mystisch gedeutete Inhalte.)

In der nächsten Einstellung der Fußball-Übertragung folgt eine schräge Sicht auf das Spielfeld. Hier wiederholt sich die Gestalt der Zahl 7 als Kreidemarkierung auf dem Spielfeld: ein Segment der Außenlinie des Strafraums. Nun eine etwas weitere amerikanische Einstellung mit Lennon beim Einwurf. Der Ball in seinen erhobenen Händen verdoppelt symbolisch seinen Kopf. Dieser wird im Christentum ja mit Jesus identifiziert: Laut Epheser 5,23 und 5,30 ist „Christus das Haupt […] der Gemeinde […]. […] Denn wir sind die Glieder seines Leibes, von seinem Fleisch und von seinem Gebein.“ So wird nicht nur in Zeiten der Weltmeisterschaft ein Ball zum neuen gemeinschaftsstiftenden Ritualgegenstand.

Die nächste Einstellung wiederholt den Blickwinkel der vorvorigen und wechselt dann auf eine Halbtotale mit Linien- und Schiedsrichter. Darauf der Sprung in die halbnahe Ansicht: Der Schiedsrichter Carlos Simon ermahnt Johnson, seine Verletzung behandeln zu lassen. Nach links aus dem Bild tretend, geben der Unparteiische und der sich umdrehende Spieler den Blick auf eine Person frei, die in Signal-Gelb und -Rot gekleidet ist. Die gelbe Kapuze hebt abermals den Kopf hervor, nun durch textile Umhüllung. In den folgenden Sekunden nimmt Johnson das Bild fast ganz ein. Und in mittiger Position erhebt er die Arme – scheinbar, um zu protestieren. Für Sekunden nimmt er damit jedoch auch die Pose eines Gekreuzigten ein – mit blutverschmierten Lippen gleich Wundmalen.

Fußball-WM 2010 - England-USA - ARD Fußball-WM 2010 - England-USA - ARD
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Screenshots: ARD, 12.06.2010

Dann lassen seine Kehrtwendung und der Kameraschwenk wieder Simon ins Bild rücken, der seine Figur für Sekundenbruchteile fast verdeckt. Die nächste Einstellung: die gehabte Totale. Dann die Amerikanische, nun mit Lennon beim Einwurf. (Lennons berühmter englischer Namensvetter John wurde durch seine Ermordung 1980 wie andere Pop-Ikonen zu einer Art modernem Heiligen, was er zeitweilig durch messianischen Gestus seiner Liedbotschaften vorbereitete.)

Im folgenden Kader wiederholt Johnson nochmals seine Kreuz-Pose. Nun erfolgt eine weitere numerologische Überdeterminierung: Der US-amerikanische Spieler Ricardo Anthony Clark lässt für Sekundenbruchteile seine Rückennumer über Johnsons Gestalt wandern, bis die Regie hastig von dem unübersichtlichen Bildaufbau zur nächsten, hier nicht mehr gezeigten Ansicht schneidet. Die Zahl 13 wurde in der Historie bekanntlich ebenfalls mit zahlreichen Bedeutungen aufgeladen – von religiösen bis zu verschwörungstheoretischen.

Innerhalb etwa einer Minute werden hier also in der Kunst- und Kulturgeschichte hochcodierte Elemente in Körpersprache, Bildregie und Verwendung von Requisiten und Zahlen durcheinandergewirbelt. Die etwas theatralische Verhaltensweise von Johnson, der sich gegen eine offensichtlich berechtigte Intervention zur Wehr setzt, würde für eine Inszenierungsabsicht sprechen. (Natürlich neigen Fußballer zu solchen Verhaltensweisen – aber sind mit einer solchen Feststellung schon zwingend alle Gründe dafür bekannt?)

In einem scheinbar trivialen Geschehen scheinen Gesten und Symbole auf, die über Jahrhunderte menschliche Blicke gelenkt und religiöse Überzeugungen vermittelt haben – das mag im Trubel dieser Ereignisse kaum ins Gedächtnis zurückkehren. Doch wenn es dieser Tage herrschende Bilder gibt, dann diese – nicht jene, aus deren Traditionsbildung sie solche Beigaben und Formprinzipien übernehmen.

Dass es sich nicht um eine schlichte Wiederaufführung oder Erneuerung einer religiösen Tradition handelt, sollte auf den ersten Blick klar sein. Die Ambivalenz von Christus/Luzifer, die hier interpretierbar wird, hat aber in der Religionsgeschichte etwa die Entsprechung, dass – noch einmal Wikipedia – Christus mit dem Morgenstern verglichen wurde, für den wiederum auch „Luzifer“ als Bezeichnung fungiert. Dazu 2 Petrus 1,19:

Wir haben ein festes prophetisches Wort, und ihr tut wohl, daß ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheinet in einem dunkeln Ort, bis der Tag anbreche, und der Morgenstern („Luzifer“) aufgehe in euren Herzen.

Und das senderseitig implementierte Störfeuer in der reinen Fußball-Gaudi kann noch mehr: Auf der visuellen Ebene haben sich Designer und Bildregisseure – wohl ergänzend zu den Vuvuzela-Peinigungen – mit einem kaum sekundenlangen Einspieler des internationalen Fußballverbands FIFA einen permanent wiederkehrenden Schockeffekt – um nicht zu sagen: Lichtbringer – ausgedacht:

Fußball-WM 2010 - England-USA - ARD Fußball-WM 2010 - England-USA - ARD
Fußball-WM 2010 - England-USA - ARD

Screenshots: ARD, 12.06.2010

Im gewählten Beispiel gibt der Trainer der englischen Nationalmannschaft, der Italiener Fabio Capello, hastige Anweisungen und produziert dabei einen grotesken Gesichtsausdruck, auf den auch noch von seinem Co-Trainer und von ihm selbst mit energischen Gesten der Hände hingewiesen wird. Von diesem Bild schneidet die Regie abrupt auf das erwähnte FIFA-Logo, das – im Farbwert stark kontrastierend hell – blitzschnell durch den Beginn der nun einsetzenden Totalen des Spielfelds schießt.

Fliegenfürst, Erlösertum und shock treatment in Ton und Bild geben die Psychotechnik des populärsten Bildschirmsportes in Europa ab.

Daniel Hermsdorf

Verleger, Autor, Journalist bei filmdenken.de - Medienkritik, Verschwörungstheorie und Physiognomik

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