Suizid ist Pop
Eine „inoffizielle News- und Fan-Seite“ zu der Reihe „Popstars“ (Pro7), „popstars-news.de“, bemerkt in einem Eintrag vom 02.09.2010 zum „Girls forever“-Casting in Duisburg sehr richtig:
Wie gewohnt gab es viele traurige Geschichten, die die Kandidaten schon erlebt haben.
Dazu gehört in der „Episode 4“ am 09.09.2010, dass Musik-Manager und Jury-Mitglied Thomas M. Stein zu der 23jährigen Kandidatin Ines einleitend zum Vorsingen plötzlich sagt: „Beim Casting hast du mal drüber gesprochen. Du hast gesagt, deine … du warst ziemlich traurig, als deine Freundin gestorben ist …“ – Ines: „Mhm, genau …“ – Stein: „… und du hättst Schuldgefühle. Warum hast du Schuldgefühle, wenn deine Freundin stirbt?“ – Ines: „Ähm … Das ist ja nicht so gewesen, dass es halt ’n Unfall war, sondern, dass sie sich selber leid… Oh Gott, ’tschuldigung … dass sie sich selber leider das Leben genomm…“ (fängt an zu weinen, dreht sich weg) – Stein: „Ah, entschuldige … Das hatt ich jetzt … Da hab ich jetzt nicht damit gerechnet, deswegen …“
In anekdotischer Form begründet die Kandidatin, als sie sich gefasst hat, ihr Schuldgefühl damit, dass sie für ihre Freundin zwei Tage nicht erreichbar gewesen sei und diese sich in diesem Zeitraum umgebracht habe. Stein bemerkt abschließend: „Also, Ines, jetzt muss ich dazu eines sagen: Mir ist das zweimal im Leben passiert. Es tut einem weh, aber ich kann dich wirklich trösten – du musst dir da wirklich überhaupt keine Vorwürfe machen. Aber – um dem Thema jetzt ’ne kleine Wendung zu kommen: Was hast du denn uns vorbereitet im Gesang?“
Die Pro7-Website bemerkt zum darauf folgenden Eingreifen des Jury-Mitglieds Detlef Soost:
Kandidatin Ines kann nicht mehr aufhören zu weinen – gut, dass es Papa Detlef gibt!
Hier ist die Szene auch noch nachzusehen.
Man kann als Außenstehender nicht genau beurteilen, was Stein genau mit seiner Äußerung meint. Öffentlich bekannt wurden bittere Ereignisse seines eigenen Privatlebens am 27.02.2006 durch die „Bild“-Zeitung:
Am 13. November 2005 verlor Stein seine Ex-Frau Waltraud († 53), die Mutter seiner Tochter Alana (19). Sechs Wochen später, am 28. Dezember, starb seine geliebte Ehefrau Margret († 51), die er bis zuletzt aufopferungsvoll gepflegt hatte. […] „Ich will aufrütteln. Unsere Gesellschaft darf den Tod nicht mehr verdrängen.“
Die Frage ist, ob das geeignete Mittel dazu die Überrumpelung einer medienunerfahrenen Kandidatin vor einem Millionenpublikum ist. Auch dann, wenn Stein nicht die Tode seiner Ehefrauen, sondern Selbstmorde in seinem eigenen persönlichen Umfeld meint – was diesen Hinweis nur rechtfertigen würde – ist diese sekundenschnelle Aufführung des Themas in der Casting-Show recht würdelos. Stein spielt sich zum Priester auf, der die Absolution erteilt – obwohl er dies schon wegen seiner oberflächlichen Kenntnis der Lebenssituation der Teilnehmerin nicht könnte.
Seine Selbstbezichtigung „Da hab ich jetzt nicht damit gerechnet“ dürfte für einen Medienprofi wie ihn wohl nur als gezielte Falschaussage anzunehmen sein: Natürlich sieht er an fast jeder Kandidatin, wie nervlich angespannt sie ist. Mit dem Verweis auf seine Kenntnis des tragischen Erlebnisses von Ines kann Stein – so weiß er, wenn er nicht ungeeignet für seinen Job wäre – eine Gefühlsaufwallung provozieren, wie sie auch an anderer Stelle dieser Episode von „Popstars“ für dramaturgisch gewollte Tränen sorgt.
Dass Ines sich – nachdem sie trotz von Heulattacken geschwächter Performance für den „Recall“ eingeladen wird – noch nett mit Kusshand bedankt, repräsentiert beispielhaft eine von Zweifeln an der Lauterkeit der Veranstalter ungetrübte Sicht der Konsumenten.
Dass das dritte Jury-Mitglied Marta Jandová hauptberuflich Sängerin der Band „Die Happy“ ist, kommt als Information in Einblendungen nach den morbiden Schluchz-Provokationen des Jury-Seniors Thomas M. Stein natürlich noch besser.
Es verwundert kaum, dass diese existenziell randgängerischen Initiations- und Machtspiele an das erinnern, was in der fabelhaften Dokumentationsserie „Okkulte Musikindustrie“ auf „YouTube“ ausführlich dokumentiert und erklärt wird. Neben dem Stern, der hier schon im Logo prangt, wird dieser im Mikrofonständer auch noch mit dem Motiv des Punktes im konzentrischen Kreis kombiniert:
Screenshot: Pro7, 09.09.2010
Etwa hier wird dieser als keltisches „Symbol für die Ganzheit des Universums“ interpretiert. Auch an die Form des menschlichen Auges ist zu denken, das die Doku-Serie „Okkulte Musikindustrie“ naheliegenderweise mit der geheimbündlerischen Symbolik in der Tradition der Freimaurerei in Zusammenhang bringt.
In „Popstars“ spielt sich in dieser Dekoration in der geschilderten Szene jedoch eine vordergründig rein private und menschliche Geschichte ab. Die Instrumentalisierung von unerfahrenen Akteurinnen und Emotionen ist sehr durchsichtig, aber effektiv. Am 20.08.2010, zu Beginn dieser Staffel von „Popstars“, wusste der Branchendiest „kress“ auf seiner Website:
Großes Aufatmen bei ProSieben: Die “Popstars” sind wieder da und machen die Quotenmisere von “Crazy Competition” vergessen. Zum Auftakt holten D! und die trällernden Mädels 16,9% Marktanteil, es schalteten 1,78 Mio 14- bis 49-Jährige ein.
Die auf die unmittelbare Einfühlung in Erregungsmomente und Gefühlsausbrüche abzielende Inszenierung findet in der Psychotechnik von Thomas M. Stein eine sehr perfide mustergültige Realisierung. Die Sendereihe setzt sich mit einer Tendenz zu fragmentarisch eingebetteten Psycho-Themen und eher verständnisvollen Gutachtern hinter dem Jury-Tisch von den Pöbeleien der RTL-Kokurrenz „Deutschland sucht den Superstar“ ab. Das besprochene Beispiel sollte jedoch die Geistesart und lesbaren Absichten der Macher deutlich machen: Die einzig ehrliche Konsequenz einer von Stein in der „Bild“ vor sich her getragenen Rührseligkeit wäre die Abschaffung der Art, nach der er sich gegenüber solchen „Popstars“ verhält.
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