#Regression, #Nostalgie, Privatismus, Ablenkung – Henning Sußebach für die Alten-Republik

2017 hatte ich schonmal zu diesem Fall auf das entsprechende Mindset des embedded journalism hingewiesen. Gerade springt es mich beim Blick auf die aktuelle Sachbuch-Bestellerliste auf Platz 1 wieder an: Der ZEIT-Journalist Henning Sußebach setzt einem (nach hier diskutierten Aspekten jedenfalls eher:) realitätsfernen Journalismus ein weiteres Denkmal.

Diesmal ist es ein historischer Rückblick auf die eigene Familiengeschichte. Ich bemerke es deshalb hier, weil ich es schlichtweg nicht für symptomatisch oder aktuell angebracht halte, sich mit derlei in einer solchen Ausführlichkeit zu beschäftigen. Das mag man an jedem Einzelfall auch nochmal diskutieren, in der Summe halte ich es aber aus eigener Lebenserfahrung für gerechtfertigt, in dieser Schärfe darauf hinzuweisen.

Sußebach wurde 1972 in Bochum geboren – in der Stadt, in der ich weitgehend die zweite Hälfte meiner ersten 40 Lebensjahre verbracht habe. Die Wikipedia vermerkt zu ihm, dass er mit Familie “bei Hamburg” lebe.

Journalismus hätte sich nach meinem Verständnis in der Gegenwart an erster Stelle Phänomenen zu widmen, die für eine linksliberale Mentaität (wie DIE ZEIT sie traditionell repräsentiert) eine immer größere Zumutung darstellen. (Derlei kann man an einem Beispiel wie Berlin-Kreuzberg genau so beschreiben, wie es gerade heute die WELT mit einem CDU-Politiker tut: “Junge Eltern, die die Grünen wählen, ziehen weg, damit ihre Kinder auf andere Schulen gehen”.)

Henning Sußebach hingegen hält es für vordringlich, sich in seiner Familiengeschichte bis zur Urgroßmutter voranzugraben. Das Verlags-Info:

Anna oder: Was von einem Leben bleibt

Henning Sußebach

C.H. Beck
€ 23,00

Eine Frau vor ihrer Zeit – die berührende Suche nach dem Leben der eigenen Urgroßmutter

1887, tief im Sauerland. Eine junge Frau kommt den Weg hinauf ins Dorf Cobbenrode. Dort soll Anna Kalthoff die neue Lehrerin werden. Doch sie wird es nicht bleiben. Denn Anna widersetzt sich bald den Erwartungen des Ortes und den Regeln ihrer Zeit. Sie entscheidet selbst, was sie zu tun und zu lassen hat, wie sie leben und wen sie lieben will. Zwei Jahrhunderte später rekonstruiert der Urenkel Annas inspirierendes Leben und rettet so die Geschichte einer selbstbewussten Frau vor dem Vergessen. Sein Buch ist eine zauberhafte Annäherung an die Vorfahren, ohne deren Entscheidungen und Mut es uns nicht gäbe.
Einige Fotos, Poesiealben, Postkarten, ein Kaffeeservice, ein Verlobungsring: Viel mehr stand Henning Sußebach nicht zur Verfügung, als er sich auf die Spuren seiner Urgroßmutter Anna begab. Nach einem Jahr der Suche fügte sich ein Bild: Da hat eine scheinbar gewöhnliche Frau ein außergewöhnliches Leben geführt, gegen allerlei Widerstände. Anna nahm sich, was sie vom Leben wollte. Männer, Arbeit, Freiheit! Diesem Willen hat der Autor seine Existenz zu verdanken. Sein Buch ermuntert uns alle, nach den Annas zu suchen, die es in jeder Familiengeschichte gibt.

Es dürfte jedem aufmerksamen Beobachter kaum entgangen sein, wie man im Design solcher Medienprodukte den Zeitgeist bedient: Eine besonders selbstständige Frau, die Diskriminierungen überwindet, eignet sich am besten als Protagonistin. (Gibt es auch noch andere Frauentypen? Jeder wird sich in seiner eigenen Lebensrealität umschauen können. Was gibt es da für vorherrschende Muster? Die Frau, die sich “frei entscheidet”, allein zu erziehen zum Beispiel? Mit am liebsten auch gar nicht thematisierten Konsequenzen nicht nur für die eigene Familie? Wo wären solche Muster Thema in einer Öffentlichkeit, die bei teilweise irren Positiv-Diskriminierungen immer noch über Benachteiligungen wehklagt, als hätte der Frauenraum an der Uni gerade erst eröffnet?)

Henning Sußebach mag sich durch Bestätigungen wohlfühlen, deren darin enthaltenen Lebenserfahrungen oder auch nur deren Wunschdenken und Weltflucht das schmeichelt.

Im Sauerland war ich selbst oft, um meine Großmutter zu besuchen. Dorthin hatte sie nach dem Zweiten Weltkrieg die Flucht vor den Russen getrieben. Alleinerziehend mit zwei Kindern war sie unfreiwillig. Die Tochter wurde von Nonnen unterrichtet. Ihr Mann verbrachte die besten Lebensjahre im Krieg nicht nur von Hitlers, sondern auch Rockefellers Gnaden (und mit Hanfstaengls bis heute kaum beachteter Hilfestellung für einen österreichischen Kunstmaler als Kriegsherrn), anschließend noch Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft. Den sexuellen Übergriff belgischer Besatzungssoldaten auf die Tochter verschwieg man. (Lässt sich im “Qualitätsjournalismus” immer noch eher schlecht erzählen – gewalttätig? Jemand anderes als deutsche Nazis? Was nicht sein darf, kann auch eher weniger berichtet werden – entscheidet sich dort, wo über die Bezahlung entschieden wird.)

Protestanten waren im katholischen Umfeld um 1950 zunächst nicht gerne gesehen. Auch in dieser Hinsicht: Gibt es darüber wirklich gut sichtbare ausführlichere historische Berichte? Wie religiöses Denken Gesellschaften spaltet, mit welchen immer wirklichkeitsferneren Vorstellungswelten entsprechende Vertreter immer noch hausieren gehen, einschließlich behutsam aktualisierter Psychomanipulationen, die in allerlei menschlichen Belangen zerstörerisch und irreführend sein können? Nicht wenige journalistische Karrieren laufen auf diesem kirchlichen Ticket – man findet es meist schnell in Biografien der Betreffenden, soweit zugänglich.

Und ach, wen wundert’s – in Sußebachs Wikipedia-Eintrag ist die Facheinrichtung für psychische und sexuelle Übergriffigkeit wie deren langwährender Verleugnung nicht allzu weit. Und was für ein possierlicher Titel:

2009 Katholischer Medienpreis für Die Opokus von nebenan erschienen am 7. Mai 2009 in Die Zeit.

Daniel Hermsdorf

Verleger, Autor, Journalist bei filmdenken.de - Medienkritik, Verschwörungstheorie und Physiognomik

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