Mathieu Deleuze goes (went?) to Dschungelcamp

Das Spannende bleibt ja: Die Menschheitsgeschichte wartet mit immer neuen großen Rätseln auf. Für Gott ist es ein Handumdrehen, dass der werdende Schauspieler Mathieu Carrière ab 1969 in Paris Philosophie bei Gilles Deleuze studierte (hier und hier ausführlicher thematisiert), um nach zahlreichen Filmrollen 2011 in der RTL-Showserie „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!“ aka „Dschungelcamp“ neben Rainer Langhans den zweiten ergrauten 68er zu geben.

Aber beginnen wir sozusagen am Anfang: Ein weiteres Rätsel stellt dar, dass der Sender RTL diese seine Show links oben im Bild mit der Einblendung „RTL LIVE“ schmückt. „Irgendwie“ wertet das solche Ereignisse auf, wenn es am Inhalt mangelt (so die einhellige Meinung der Kritiker). Zur vorgeblichen Ortszeit um 8.09 h wird der „Echtzeit“-Charakter in der Ansicht mit den Moderatoren Dirk Bach und Sonja Zietlow dann noch mit einer zweiten Einblendung namens „LIVE“ links unten im Bild bekräftigt:

Dschungelcamp - Dirk Bach, Sonja Zietlow

Screenshot: RTL, 22.01.2011

Passend zur scheinbaren Unmittelbarkeit des Ereignisses hinkt dabei das Bild dem Ton um etwa eine Sekunde nach. Und es folgt eine Wiedergabe der Rückkehr des Kandidaten Peer Kusmagk, Schauspieler und Moderator, in den Kreis der anderen Teilnehmer. Durch zahlreiche Schnitte und verschiedene Perspektiven sehen wir – im Gegensatz zur zeitlich durchgehenden Ansicht der Moderatoren auf der Hängebrücke –, dass für diese Einheit die Aufnahmen auf dem Video-Schneidetisch ordentlich nachbearbeitet wurden, ergo keine Live-Übertragung stattfinden kann. Das ändert allerdings nichts an der Einblendung „RTL LIVE“ links oben. (Merkwürdigerweise hängt auch hier das Bild dem Ton nach.) Noch ersichtlicher wird dieser Widerspruch in der filmischen Montage, wenn dieselben Personen in der kontinuierlichen Szene des Miteinanders mit Einspielern konfrontiert werden, in denen sie – eben zu einem anderen Zeitpunkt und, an ihren Worten erkennbar, eindeutig in der Rückschau auf das gerade zuvor Gezeigte – vor anderen Hintergründen und z. T. in anderer äußerlicher Aufmachung zu sehen sind (dann aber mit korrekter Tonwiedergabe):

Dschungelcamp - Peer KusmagkDschungelcamp - Peer Kusmagk
Dschungelcamp - Sarah KnappikDschungelcamp - Sarah Knappik

Screenshots: RTL, 22.01.2011

(Neben Kusmagk ist hier die Kandidatin Sarah Knappik, Model, zu sehen.)

Schon die Wikipedia weiß in puncto Aufzeichnung zu dieser Sendung (satzbautechnisch etwas experimentell):

Das Leben im Camp wird durchgehend von Kameras begleitet und bemerkenswerte Szenen in einer allabendlichen Show gezeigt […].

Und damit wären wir wieder bei der philosophischen Vergangenheit des Teilnehmers Mathieu Carrière. Sein französischer Professor Deleuze wandte sich bekanntermaßen in zwei Büchern am Anfang der 1980er Jahre dem Kino zu. Und in „Das Zeit-Bild“ (1985) heißt es zum Umgang mit dem Phänomen durch den filmischen Schnitt:

Die Zeit erfährt notwendigerweise eine indirekte Repräsentation, da sie sich aus der Montage ergibt, die ein Bewegungs-Bild mit einem anderen verbindet. Aus diesem Grund kann die Verbindung keine bloße Aneinanderreihung sein: Das Ganze ist ebensowenig eine Addition wie die Zeit eine Sukzession von Gegenwarten.
(Deleuze, Gilles [1997]: Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt a. M. [OA., frz.: 1985], S. 53

Zeitphilosophisch geht es also einmal wieder um das Paradox, dass die Zeit „irgendwie“ kontinuierlich ist, ein Moment in dem Moment, in dem man über ihn nachsinnt, schon verflogen ist usw. Deleuze wichtigster Zeuge ist in diesem Buch Henri Bergson. Die sprachliche Bearbeitung dieses für den menschlichen Geist schier Unbegreiflichen führte auch noch in jüngster „Zeit“ zu neuerlichen Bearbeitungen durch die Geisteswissenschaften (siehe z. B.: Sandbothe, Mike [1998]: Die Verzeitlichung der Zeit. Grundtendenzen der modernen Zeitdebatte in Philosophie und Wissenschaft. Darmstadt).

Das „Dschungelcamp“ wird so eben auch zu einem Rätsel-Bild des Zeit-Bildes, einem meditativen Anschauungsobjekt, an dem die Paradoxie einer technischen Übertragung der Show aus dem fernen Australien sinnfällig wird. Unbeantwortbar die Frage, auf welche Rezeptionshaltung dies beim Publikum ab 22.15 h an einem Samstagabend wie diesem trifft. Ihre Zahl ist laut Einschaltquoten jedenfalls bombig:

Mit der achten Folge der Dschungelshow «Ich bin ein Star – Holt mich hier raus» […] unterhielt man 7,79 Millionen Zuschauer, 29,7 Prozent aller fernsehenden Deutschen und fantastische 42,1 Prozent des werberelevanten Publikums.

Ob es irgendeinen Sinn macht, sich das „Dschungelcamp“ anzusehen, ob es mehr Sinn machen würde, sich anderen Unsinn anzusehen, ob man bemerkt, wenn Bild und Ton asynchron sind, wenn angebliche Live-Auftritte ebenso in Ton und Bild verschoben sind wie andere angebliche Live-Ansichten, in die Einspieler hineingeschnitten sind, in denen sich die Einblendung „RTL LIVE“ der Einfachheit halber nicht verkrümelt – diese Fragen werden Medienphilosophen wohl nachhaltig überfordern und, spätestens außerhalb der Tageskritik, ergo zum Erschweigen bringen.

Der Verwirrung verleihen die Akteure auf dem Bildschirm aber auch schon ausreichend Ausdruck. Kandidat Kusmagk über eine „Prüfung“, bei der er durch Brackwasser in einer Höhle zu waten hatte, die einmal mehr an ein berühmtes „Bild“ der Philosophiegeschichte gemahnt, in abermals experimenteller Syntax, die der Montage-Ästhetik von RTL jedoch vollkommen entspricht:

„Ich bin ’n bisschen sauer auf mich. … Ja, weil man halt … Also, es lag gar nicht daran, dass ich mich groß geekelt habe, es warn einfach nur … unkonzentriert und nicht richtig genug gekuckt irgendwie in den dunklen Höhlen.“

Daniel Hermsdorf

Verleger, Autor, Journalist bei filmdenken.de - Medienkritik, Verschwörungstheorie und Physiognomik

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