Das Bertelsmann-Paradox
In diesem und den zwei folgenden Einträgen geht es – neben anderem – um ein und dieselbe Sendung von „RTL aktuell“ am 11.11.2010, 18.45 h. Die Nachrichten des Kölner Senders können immer wieder zu akribischen Nachweisen ermuntern, was warum wie nach Art des Privatsenders anders aufgezäumt wurde als von sonstigen Berichterstattern.
Hier zunächst ein Hinweis auf die Erwähnung der heute in der Presse relativ breit besprochenen Studie der Universität in Frankfurt a. M. im Auftrag der „Bertelsmann Stiftung“ (also der Stiftung des RTL-Mutterkonzerns). Off-Kommentar in „RTL aktuell“:
„Die Forderung der Wissenschaftler: Vor allem für Problemschulen müsse mehr Geld zur Verfügung stehen, damit auch wirklich jeder eine Perspektive hat.“
Das Thema der Studie ist nicht uninteressant. Die Perspektivierung ist symptomatisch für die Behandlung von allerlei Problemen der Gegenwart: Kurieren am Symptom, Beratung und Therapie für Folgen, deren Ursachen irgendwo anders liegen. Nur wo?
Eine Hauptursache für Bildungsdefizite dürfte sein, dass nicht genügend gebildet wird. Die Schule ist nur ein Teil des „Bildungssystems“. Bildung beginnt in der Familie, wird gefördert durch soziale Angebote und Kontakte (auch und gerade jenen, die nicht staatlich verordnet und finanziert oder überhaupt ‚bezahlt‘ werden). Defizite muss es also auch in den letztgenannten Bereichen geben.
Was machen Jugendliche, statt sich zu „bilden“? Einschaltquoten und Verkaufszahlen verraten es: Sie sehen fern und spielen am Computer – wenn sie nicht nur ‚herumhängen‘ und dabei z. T. Drogen konsumieren.
Natürlich kann man sich lange – und für die herrschenden Anbieter dadurch verkaufsfördernd – darüber streiten, was am Fernsehen oder Computerspielen doch noch irgendwie „bildet“. Sehen Sie sich am besten einmal selbst an, was den Großteil der Angebote im Spielesektor ausmacht. Dort, wo die Realität hinter Wohnungstüren einmal zu Tage tritt, klingt es wohl sehr oft so wie in der WDR-Dokumentation „Hart und herzlich“ (2010) von Nicole Rosenbach, in der ein in der Schule auffällig müdes Gelsenkirchener Kind mit „Migrationshintergrund“ der Lehrerin berichtet, sein Vater verbringe die Nacht meist am Computer mit einem Rollenspiel.
So etwas wird – eben auf anderen Sendern und mit weniger Publikum als bei „RTL aktuell“ – auch gesendet. Aber wenn es um die schlussendlichen Konsequenzen aus solchen verkorksten Lebensweisen geht, schreit man lieber in Berufung auf Wissenschaftler nach teuren Korrekturmaßnahmen, als auf nachhaltige Problemvermeidung zu plädieren.
Dieses Bild bestätigt beispielhaft ein genauerer Blick auf die Praktiken des Bertelsmann-Konzerns, der die Studie über das Ende der Bildungskette finanzierte. So weiß „paidcontent.org“ am 08.07.2007:
Trion World Network, an online gaming firm founded by a former senior EA exec, has received a big $30 million second round of funding. The round was led by Bertelsmann, NBC Universal and Time Warner (all through their investment arms) and VC firm Rustic Canyon Partners, reports Variety.
Die Realität der Spielwelt von „Trion“-Produkten klingt dann im Fall des Strategiespiels „End of Nations“ folgendermaßen:
Eine globale Wirtschaftskrise hat das weltweite Machtgefüge durcheinander gewirbelt. Aus den Trümmern der marktwirtschaftlich am Boden liegenden Nationen erhob sich der Orden der Nationen, ein Jahrzehnte zuvor genau zu diesem Zweck gegründeter Geheimbund, um das weltweite Chaos zu beseitigen und sich ein Land nach dem anderen einzuverleiben. Zunächst von der Bevölkerung als ultimativer Retter empfangen, zeigte die neue globale Supermacht schon bald ihr wahres Gesicht, und agierte zunehmend als diktatorische Besatzungsmacht.
Das kommt der außerspielerischen Realität schon recht nahe – nur für die Realität erziehungsbedürftiger Kinder bleibt dann im Einzelfall eben keine Zeit mehr. Im Fantasy-Rollen-Onlinespiel „Rift: Planes of Telara“, ebenfalls von „Trion“, wird es noch actionlastiger:
Überall rennen Dorfbewohner panisch durch die zerstörten Straßenzüge, und werden von unheimlichen Geisterwesen verfolgt. An manchen Stellen paralysieren mysteriöse Maschinen die Nicht-Spieler-Chraktere und entziehen ihnen offenbar Seelenenergie. Natürlich gilt es im Zuge einiger Quests sowohl die Geisterwesen auszuschalten als auch die gefährlichen Maschinen zu zerstören.
Am 24.06.2006 bemerkte es schon einmal „pcgames.de“:
Ich habe eine tiefe Abneigung gegen solche Computerspiele” – so die Worte des Bertelsmann-Chefs Thomas Middelhoff laut www.spiegel.de. Sein Unternehmen, zu dem unter anderem der Fernsehsender RTL gehört, verzichte künftig darauf, Gewalt beinhaltende PC- und Videospiele anzubieten, und beschreite damit einen “Königsweg gegen die Gewalt-Flut”. […]
Paradox: Der Bertelsmann-Online-Versand www.bol.de bietet Titel wie Medal of Honor: Allied Assault (dt.) und Counter-Strike: Condition Zero nach wie vor gerne an.
Bertelsmann verdient eben an beiden Seiten: Krankheitserreger und Behandlung. So gibt sich die Krankenkasse „Bertelsmann BKK“ dann wieder fürsorglich – im „Expertenchat vom 26. Juni 2007 mit Herrn Jannis Wlachojiannis, Mitarbeiter des Café Beispiellos, Ansprechpartner des Beratungsprojektes ‚Lost in Space‘ für Internet- und Computerspielsüchtige“:
Als generelle Präventionsmaßnahme gegen Internet- und Computerspielsucht hält es Herr Wlachojiannis für sehr wichtig, eine Medienkompetenz bei Jugendlichen und Erwachsenen aufzubauen und ihnen die Vorzüge wie auch die Gefahren und Risiken der neuen Medien aufzuzeigen: „Wer die Gefahren kennt, weiß diese besser einzuschätzen und sinnvoll damit umzugehen“, so der Experte.
Jörg Dräger, für Bildung zuständiges Vorstandsmitglied der „Bertelsmann Stiftung“, schildert im „Focus“ seine Sicht des Problems:
„Unser Bildungssystem lässt viel zu viele Schüler scheitern. Das hat für die ganze Gesellschaft dramatische Folgen, zum Beispiel mehr Kriminalität, hohe Transferzahlungen oder soziale Konflikte.“
Da ist es wieder, das „Bildungssystem“. Aber wo ist es genau? Begleitumstände für eine kriminelle Laufbahn sind laut der Studie statistisch auch „Vorstrafen im Elternhaus“, „Scheidung der Eltern“ und „Konfessionslosigkeit“. Und sonst?
So rational statistische Erhebungen wirken können – es kommt eben auch darauf an, wonach man fragt. Und fragt man im Auftrag von Bertelsmann, fragt man nicht nach der Rolle der „Medien“, wenn sie keine Erfolgsmeldung verspricht. Dafür dröhnt die Nachricht umso lauter aus allen Rohren, die die Presseabteilung von Bertelsmann zu beschicken weiß – und die die Sendung brav weiterleiten.
Aber das partielle Begriffsvakuum „Bildungssystem“ existiert nicht nur hier – es ist wohl recht verbreitet bei jenen, die sich überhaupt um das Thema kümmern. Dirk Loerwald reiht in „Politik und Zeitgeschichte“ der „Bundeszentrale für politische Bildung“ (Nr. 32, 06.08.2007) v. a. Abstrakta und Absichtserklärungen:
Ist ein Curriculum darauf angelegt, einen vollständigen, zeitlich definierten Bildungsprozess zu beschreiben, so haben Bildungsferne bereits einen Großteil ihrer Bildungsbiographie (erfolglos) durchlaufen. Bildungsferne Milieus zeichnen sich nicht nur durch ein niedriges Bildungsniveau aus, sondern auch durch ein lückenhaftes “Inselwissen”. Dort anzusetzen impliziert, die typischen sowie die folgenreichsten Bildungslücken adressatenbezogen zu ermitteln und Inhalte und Kompetenzen zu beschreiben, die notwendig sind, um diese Lücken zu schließen.
Etwas konkreter wird es in der Zusammenfassung des „Mainzer Politischen Salons“ vom 21.08.2010 und Ansichten von Prof. Dr. Stefan Sell (FH Koblenz):
Die Zuständigkeit für die dann problematischen Schüler wird hin und her geschoben zwischen Elternhaus und Schule – ein „Delegationsprinzip von Verantwortung“. Dabei zeigen bildungsökonomische Studien, dass die Bedeutung des Elternhauses und des Familienhintergrunds in der Relation zur Bildungsstätte, bezogen auf die Bildung von Humankapital im Sinne einer umfassenden Persönlichkeitsbildung, etwa bei einem Verhältnis von 2:1 liegt.
Diese „2“ in „2:1“ wird in den meisten Familien mit „Bildungsdefiziten“ vom Fernsehen – und in dieser Zielgruppe in starkem Maß von RTL & Co. – bestimmt. Daran verdient der Bertelsmann-Konzern und lässt Effekte dieser medienwirtschaftlichen Praxis anschließend von der hauseigenen Stiftung imagefördernd beklagen. Der Steuerzahler bzw. das staatliche Schuldenkonto sollen nun – nachträglich und zumindest teilweise als Bildungsmaßnahme erneut wirkungslos – bezahlen, was RTL-guckende Eltern und Kinder nicht mehr leisten können.
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