Also sprach Sarrazin

Die Resonanz des gestern erschienenen Buchs „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin ist beispiellos: Es ist ein Thema in den Hauptnachrichten und in allen Zeitungen. Am Abend des 30.08.2010, am Tag der Buchpräsentation, sitzt der Autor in der ARD-Talkshow „Beckmann“ und stellt sich der Kritik von drei weiteren Gästen.

Zunächst – und dies wird von Sarrazin selbst angesprochen – muss die Diskussion daran leiden, dass selbst die Empfänger von Vorabexemplaren Mühe gehabt haben dürften, gut 400 Seiten rechtzeitig und gründlich zu lesen. Die Hektik des Betriebs widerspricht der Situation, um die es geht: Migrationspolitik von Jahrzehnten, Jahrzehnte währende Perspektiven einer komplexen Problemlage. Die journalistische Praxis – auch wenn sie ‚nun mal so ist‘ – gehörte eigentlich selbst in Frage gestellt: Warum wartet man nicht eine Woche ab, bis das, wovon die Rede ist, von Diskutanten und dem Publikum erst einmal zur Kenntnis zu nehmen ist?

Der Verlauf der Diskussion ist – wie in TV-Kritiken hier oder hier bemerkt – recht wirr. Sarrazin selbst wirkt von den zahlreichen Anwürfen des Rassismus in latente Panik versetzt. Die z. T. nur ergänzend in Interviews – wie in der „Welt am Sonntag“ – von ihm geäußerten inkriminierten Thesen will ich nicht noch einmal abarbeiten. Sie wirken in der Tat verkürzt bis fragwürdig; als PR-Motor funktionieren sie perfekt. Dass sie den Buchtext im Ganzen repräsentieren, ist wohl nicht der Fall.

Es würde einige Mühe kosten, die zahlreichen angerissenen und wieder fallengelassenen Themen der „Beckmann“-Sendung nachzuzeichnen. Das gehört in der Tendenz zum Charakter von Talkshows, erreicht hier aber bedenkliche Intensität. Sarrazins eigene Dikussionsbeiträge sind nicht sehr souverän, aber vom Druck der Kritiker-Phalanx arg malträtiert. Von Sprachkompetenz bei Migranten ist hier und da die Rede; der Autor selbst zerfasert z. T. in mehreren Wiederholungen des Wortes „also“ in einem Satz und gebraucht dieses so häufig wie kein anderes. (Man kann sich aber auch bei manchen hochrangigen Interessensvertretern von Migrantengruppen, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben, bezüglich ihres Sprachgebrauchs Gedanken machen. Zumindest deutet dieser darauf hin, dass man zu wenig miteinander spricht …)

Ich möchte wesentlich darauf eingehen, dass der Widerstand gegen ein Problembewusstsein, das Sarrazin allem Anschein nach befördern will, etwa von den Diskussionsteilnehmern Renate Künast und Ranga Yogeshwar mit einer selbst pauschalen Polemik gegen „Zahlen“ attackiert wird.

Auch das ist ein Problem der TV-Diskussion generell: Zahlen werden behauptet und durcheinandergeworfen; wenig kann überprüft werden, rein rhetorische Tricks wirken überzeugender als unpopuläre und schwierige Sachlagen. (Man wird sehen, was in der kommenden ARD-Sendung „Hart aber fair“ am morgigen Dienstag mit anschließendem „Faktencheck“ herauskommt.)

Was Sarrazin an statistischen Tendenzen erwähnt – und was von seinem Buch vorab vermittelt wurde – scheint jedoch selten im Einzelnen Gegenstand substanzieller Kritik zu sein. Yogeshwar beruft sich scheinsouverän auf seine eigene naturwissenschaftliche Ausbildung, um deren empirische Basis als Ausgangspunkt für politische Debatten in Zweifel zu ziehen.

Sein einziges Sachargument – das in solchen Debatten immer wieder auftaucht – entbehrt aber selbst definitiv der Grundlage: Wirft Sarrazin Integrationsprobleme bei Menschen aus islamisch geprägten Kulturen als statistisch verifizierbares Problem auf, führt Yogeshwar einmal mehr Kanada als Gegenbeispiel an. Hier seien über zwei, drei Generationen schnellere Integrationsprozesse zu beobachten. Deshalb seien mangelnde Integrationsanstrengungen in Deutschland schuld an schlechteren Schulleistungen und höherer Arbeitslosigkeit etwa von Türken.

Die Bundeszentrale für politische Bildung informiert zur Situation von Migranten in Kanada:

2. Die beiden zahlenmäßig, kulturell und politisch dominanten Gruppen des ethnischen Mosaiks sind die Anglo- und Frankokanadier. Da sie das Gebiet des heutigen Kanadas kolonisiert und den modernen kanadischen Staat gegründet haben, nennen sie sich die “Gründernationen”. Vor einem Jahrhundert stellten sie noch 90 Prozent der Bevölkerung, seither geht ihr Anteil kontinuierlich zurück. 2001 stammte noch ein gutes Drittel der Kanadier aus rein britischen, französischen oder “kanadischen” Familien, der größere Teil (54 Prozent) kommt inzwischen aus gemischten Familien.

3. Die dritte große Gruppe – die europäischen Minderheiten – wurde in zwei großen Wellen ins Land geholt: die erste an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, um bei der Besiedlung des Westens zu helfen, und die zweite kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Einwanderer wegen der boomenden Nachkriegswirtschaft gebraucht wurden. Ein knappes Drittel der Kanadier – einschließlich derjenigen aus gemischten Familien – gehört dazu; die größte Gruppe stellen die Deutschkanadier (2,7 Millionen), gefolgt von den Italienern, Ukrainern, Holländern, Polen und Norwegern.

4. Die so genannten “sichtbaren Minderheiten” (fast drei Millionen Asiaten sowie ca. eine Million Schwarze, Lateinamerikaner und Araber im Jahr 2001) haben sich erst in den vergangenen drei Jahrzehnten zu einem zahlenmäßig gewichtigen Segment entwickelt.

Eine solche Abwehr von kritischen Fragen mit Falschdarstellungen durch den WDR-Journalisten Yogeshwar dürfte mittelfristig kaum von Erfolg gekrönt sein.

Was in der „Beckmann“-Sendung fehlt – und auch dies ein strukturelles Problem von Behandlungen solcher Themen in 60-90 Min., für die die Medienlandschaft in der Masse kaum Alternativen bietet – ist u. a. eine Verknüpfung mit anderen Aspekten. Die demografische Entwicklung in Deutschland etwa findet am Abend des 30.08.2010 keine Erwähnung, obwohl sie ein Kernargument im Zusammenhang wäre: Wenn Integration ein Mechanismus in einer kontinuierlichen Entwicklung sein soll, hätte eine Kultur, in die ‚integriert‘ werden soll, selbst eine gewisse Stabilität aufzuweisen.

Dem ist aber – eins der unumstößlichen statischen Fakten – bei einer recht kontinuierlich bis perspektivisch dramatisch rückgängigen ‚einheimischen‘ Bevölkerung nicht so. „Der Spiegel“ trägt hier etwa hier einige der neueren Daten zusammen und bemerkt:

Die steigende Lebenserwartung konnte den Bevölkerungsschwund kaum bremsen. Im vergangenen Jahr verringerte sich die Zahl der Sterbefälle nur geringfügig um 0,2 Prozent auf 842.000. Die Differenz fiel also negativ aus: 2009 gab es rund 190.000 mehr Todesfälle als Geburten. Im Jahr davor war dieses Saldo mit 168.000 noch deutlich kleiner ausgefallen. […]

Als ein Hauptgrund für die Kinderarmut auf dem Kontinent gilt die immer längere Ausbildung junger Erwachsender – so sehen das zumindest die Experten des Max- Planck-Instituts für demografische Forschung. Deshalb schöben viele Paare ihren Kinderwunsch auf; viele setzten ihn dann nicht mehr um.

Positiv wirkten sich nach Ansicht der Wissenschaftler Einwanderer aus, sie bekämen mehr Kinder als die angestammte Bevölkerung Europas: In acht ausgewählten Ländern (Niederlande, Großbritannien, Portugal, Österreich, Italien, Frankreich, Spanien, Deutschland) hätten die Zuwanderinnen die Geburtenziffern zwischen 1997 und 2006 um drei bis acht Prozent gesteigert.

Entscheidende Probleme solcher Debatten sind die mangelnde Nachhaltigkeit, Differenziertheit und Kontextualisierung; übrig bleiben allzu oft nur die skandalträchtigen und dabei angreifbaren Spitzen.

Wenn bei „Beckmann“ dann ausgerechnet der Streetworker Thomas Sonnenburg, zeitweise TV-präsent mit „Die Ausreißer – Der Weg zurück“ auf dem Krawallsender RTL, als Kronzeuge für bessere Alternativen der Integration auftritt, ist dies eine weitere Kuriosität. Konkret v. a. deshalb, weil er als Beispiel ausführlicher nur vorschlägt, Migrantenkindern mit Integrationsproblemen die Selbstverwirklichung mit selbst komponierten und getexteten Rap-Songs zu ermöglichen.

Jeder kritische Fernsehzuschauer kennt derlei aus entsprechenden Magazinberichten nur zu gut. Glaubwürdig oder sinnvoll als Hilfe für Schulerfolg und Vorbereitung auf die Arbeitswelt ist dies wohl nur sehr bedingt bis gar nicht. Es wirkt eher wie eine hilflose Kapitulation vor gescheiterten Biografien und greift dabei zu Inhalten, die selbst zur Ursache für die Probleme gehören: Die Prägung vieler Jugendlicher durch nichtswürdige Medieninhalte wie die kriminalitäts- und drogengesättigte Rapkultur. Und dabei wäre man bei der Fernseh- und Medienkultur als Wirkfaktor angekommen – die ebenfalls nicht ausreichend in solche Debatten einbezogen wird, weil einige gesellschaftliche Gruppen finanziell und machtpolitisch von ihrer derzeitigen Funktionsweise allzu gut profitieren. Die Langzeitwirkungen und Folgekosten werden deshalb nur ungern kalkuliert.

Was – dies sei vorläufig als Ergänzung angemerkt – ein ebenfalls wiederkehrender Fehler der gesellschaftlichen Praxis und der begleitenden Debatte sein dürfte, ist ein falsches Verständnis von Pädagogik und Leistung. Ein Slogan wie „Fördern statt fordern“ ist den Diskussionsteilnehmern bei „Beckmann“ offensichtlich recht einseitig in Fleisch und Blut übergegangen. Was vielfach auf der Strecke bleibt, ist eine Gleichbehandlung aller gesellschaftlichen Teilnehmer im Hinblick darauf, was von ihnen erwartet werden kann – nicht nur, was sie selbst fordern dürfen.

Daniel Hermsdorf

Verleger, Autor, Journalist bei filmdenken.de - Medienkritik, Verschwörungstheorie und Physiognomik

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