Ist der Abstieg „realistisch“?

Im WebTV der „Neuen Zürcher Zeitung“ äußert sich heute Prof. Klaus F. Zimmermann vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zur wachsenden Notwendigkeit von Zuwanderung für den deutschen Arbeitsmarkt. Zimmermann spricht von einer ab ca. 2015 notwendigen Zahl von 500.000 hochqualifizierten Zuwanderern jährlich.

Screenshot: NZZ Online, 21.09.2010

Zitat aus dem Interview:

Na, zunächst einmal war es sicherlich ein ‚Halt mal, es ist wichtig, über was wir hier reden‘ – sicherlich ein Weckruf. Auf der anderen Seite ist die Zahl sehr realistisch, denn wir haben in Deutschland im Augenblick Abwanderung. Wir rechnen eigentlich immer mit 200.000 Zuwanderern netto ohnehin.

Was die Interviewerin Zoé Baches nicht nachfragt, ist die Wortbedeutung von „realistisch“: „Realistisch“ ist nicht, dass es 500.000 Zuwanderer geben wird, sondern dass es so viele – wohlgemerkt hochqualifizierte – Zuwanderer geben müsste. Ob sich der Konjunktiv mit einem solchen verkürzten Sprachgebrauch verträgt, ist fraglich.

Hierin liegt ein Kern der Notwendigkeit der Debatte, und es kann daran gezeigt werden, warum Thilo Sarrazins Motto „Deutschland schafft sich ab“ bei allen diskussionswürdigen Beigaben seiner Argumentation nach heutigem Wissensstand wohl leider zutrifft. Wo solche Notwendigkeiten und Unausweichlichkeiten deutlich werden, ist der Spielraum für political correctness nur noch begrenzt – auch das ist „realistisch“.

Die Bedeutung des Wortes „realistisch“ bei Zimmermann bewegt sich – wesentlichen öffentlich zugänglichen Informationen zufolge, wie hier zu zeigen ist – zwischen Absichtserklärung und eher unrealistischem Wunschdenken.

Blickt man etwa einmal auf die Zahlen des Bundesamtes für Statistik für 2008, so enthält die Pressemitteilung Nr. 276 vom 23.07.2009 Folgendes: 682.000 Zuwanderer, 738.000 Fortzüge. Beispielhaft im Detail:

Die deutschen Zuwanderer kamen vor allem aus Polen (12.100), den USA (10.500), der Schweiz (8.200) und Spanien (7.900). Hauptherkunftsländer der ausländischen Zuwanderer waren Polen (119.200), Rumänien (47.000), die Türkei (26.200), Ungarn (25.100) und Bulgarien (23.600).

Was lässt sich auf dieser Grundlage in Kombination mit anderen Informationen für die Zukunft folgern? Klaus F. Zimmermann selbst wird am 03.08.2010 vom „Bonner General-Anzeiger“ befragt und schlägt hierbei eine ganz andere Tonlage an:

GA: Was halten Sie vom Vorschlag, qualifizierten Zuwanderern eine Art Begrüßungsgeld zu zahlen?
Zimmermann: Ein sommerlicher PR-Gag. Schon jetzt kommen Fachkräfte nur dann nach Deutschland, wenn ihr Arbeitgeber erhebliche Lohnaufschläge zahlt. Deutschland hat keinen Ruf als Zuwanderungsland, und hat sich zum Beispiel Richtung Osteuropa regelrecht abgeschottet. Nicht-europäische Spezialisten gehen eher nach San Francisco oder London. Deutschland muss also viel mehr unternehmen als ein Begrüßungsgeld zu zahlen, um die weltweit umworbenen Fachkräfte zu bekommen. […] GA: Heißt das: Diese Gesellschaft muss sich damit abfinden, dass es eine wachsende Gruppe Geringqualifizierter und deshalb Arbeitsloser gibt?
Zimmermann: Diese Gruppe wächst, das ist richtig. Zum Beispiel deshalb, weil Menschen mit Migrationshintergrund bei gleicher Qualifikation schlechtere Chancen haben als einheimische Bewerber.

Die wie zitiert stärkste Gruppe von Zuwanderern aus Polen ist für die nähere Zukunft nicht in gleichem Maß anzunehmen – weil neben einem steigenden Wohlstandsniveau (und damit geringerer Motivation für Emigration) hier ebenfalls ein Bevölkerungsrückgang eintreten wird, wie Rainer Münz in einem Dossier prognostiziert:

Andere Länder, die niedrigere Kinderzahlen haben, stehen ohne massive Zuwanderung vor einem sehr starken Rückgang ihrer Bevölkerung im Erwerbsalter. In Deutschland wäre bis 2025 mit einem Rückgang um -6.0 Millionen oder -10.7 Prozent und bis 2050 um -15.7 Millionen oder -28.2 Prozent zu rechnen. Im benachbarten Polen würde der Rückgang ohne Zuwanderung bis 2025 rund -2.3 Millionen (-8.6 Prozent) und bis 2050 ca. -7.7
Millionen (-29.1 Prozent) ausmachen.

Von welchen möglichen Herkunftsländern – so müsste man Zimmermann fragen – geht er denn stattdessen aus? Was er gegenüber der NZZ nicht erwähnt, hat er dem „General-Anzeiger“ schon gesagt: dass die Leistungsträger „eher nach San Francisco oder London“ gingen. Mit solchen Aussichten argumentiert schon seit längerem Gunnar Heinsohn, so in seinem „Kursbuch“-Beitrag „Finis Germaniae?“ von 2005:

Die deutsche Bevölkerungsprognose für 2050 läge ohne 140.000 Einwanderer und ihre hier erwarteten Kinder jährlich bei weniger als 50 und nicht bei 67 Millionen. Dass die Hälfte der Jugend von der Auswanderung träumt, ist dabei nicht einmal berücksichtigt. Warum werden die Neudeutschen überwiegend zu Allah beten? Die – ohnehin schnell absinkenden – Begabungsreserven aus dem ehemals britischen Imperium (Bangladesh, Burma, Indien, Pakistan, Sri Lanka etc.) wollen in die knapp 28 Millionen Quadratkilometer der Anglo-Welt (AUS, CDN, IRL, NZ, USA, UK). Sie sehen wenig Anlass, in die hiesigen 350.000 km2 zu streben, wo sie selbst für den unwahrscheinlichen Fall liebevoller Aufnahme zusätzlich zum bereits gesprochenen Englisch auch noch Deutsch lernen müssten. Für jedes Talent von dort, für das man in Deutschland tatsächlich Verwendung hätte, gibt es auch bei den Anglos beste Perspektiven. Der nachbarliche slawische Raum hat viele seiner Mobilsten in den letzten 15 Jahren bereits abgegeben. 15-20 Millionen sind nach Westen gegangen und haben dafür gesorgt, dass die osteuropäischen Bevölkerungen nicht nur stagnieren, sondern längst schrumpfen. Die Bundesrepublik hat nicht einmal 750.000 dieser Besten an sich ziehen können. Wie man schon 1997 bei den Hongkong-Chinesen geschlafen hat – Kanada holt sich eine Million –, behält man aus Osteuropa oft gerade diejenigen, die ohnehin lieber in der Illegalität verbleiben. Die slawischen Territorien außerhalb der EU leiden längst unter Implosionssymptomen. Energieversorgungen und Transportsysteme brechen zusammen, Unterhaltungsleistungen sinken oder kommen gar nicht erst zur Auszahlung.

Wie schon hier diskutiert und zitiert, erwähnt Sarrazin neben der Türkei Nordafrika als mögliche Herkunft größerer Zahlen zukünftiger Zuwanderer, was das Bundesamt für Statistik bestätigt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sieht dies in seinem Forschungsbericht „Vor den Toren Europas?“ (2010) jedoch anders:

Die Analysen für Deutschland haben ergeben, dass das Migrationspotenzial und die tatsächliche Zuwanderung von Afrika nach Deutschland auf geringem Niveau (20.000 – 35.000 pro Jahr) verbleiben dürften. Der Bestand an Personen mit afrikanischem Migrationshintergrund in Deutschland wächst vor allem aus natürlicher Bevölkerungsbewegung und nur in geringem Maße durch Zuwanderung (Wanderungssaldo rund 5.000).

Dass Funktionsträger wie Sarrazin und Zimmermann mit provokanten oder versöhnlichen Thesen die Diskussion befördern, ist prinzipiell zu begrüßen. Konfrontiert man ihre eigenen Aussagen oder den Umgang im massenmedialen Diskurs jedoch mit solchen Quellen in Textform, wird immer wieder deutlich: Die komplexe Problemlage lässt sich weder in Kurzinterviews noch in ausführlicheren Talkshows adäquat widerspiegeln. Die Gefahr ist groß, dass mit rhetorischen Mitteln notwendige nachhaltige Einsichten verbaut oder durch Interessenspolitik Tatsachen und valide Prognose in ihrer Glaubwürdigkeit demontiert werden.

Zimmermann wählt im NZZ-Interview und anderen Äußerungen dieser Tage den Zugang des „Packen wir’s an“. In einem Interview mit „Pro Firma“ von 2004 klang es hingegen abschließend so:

Die Bundesregierung hat schon mutige Reformen eingeleitet, etwa auf dem Arbeitsmarkt, bei der Krankenversicherung oder der Zuwanderung. […] Das bedeutet auch, dass wir zunächst einmal in der internationalen Wettbewerbsposition weiter zurückfallen werden.

Das Problem des Zugewinns von Arbeitskräften zur Erhaltung der Sozialsysteme scheint aufgrund der hier zusammengetragenen Informationen derzeit schlichtweg unlösbar zu sein. (Eine Lösung wären deutlich mehr Geburten, was jedoch nicht anzunehmen ist – es sei denn, es würde eine weitreichende Diskussion und Bewusstseinsbildung daraus, die eine Vielzahl von Konsequenzen in Lebensumständen, Organisationsformen, Wertvorstellungen und nicht zuletzt Medienangeboten – ihrer Gestaltung und auch Beschränkung – hätten.)

Die Vorstellung, die Jüngere und noch Erwerbstätige sich auf Grundlage solcher Datenlagen für ihre Zukunft machen können, benennt Zimmermann der NZZ gegenüber u. a. mit einer Anhebung des Rentenalters auf 75 Jahre. Dies steht im Einklang mit Veröffentlichungen der UNO aus dem Jahr 2000:

Die neuen Herausforderungen, die durch eine schrumpfende und alternde Bevölkerung entstehen, werden objektive, eingehende und umfassende Neubewertungen zahlreicher überkommener Maßnahmen und Programme im wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bereich erfordern. Solche Neubewertungen bedürfen einer langfristigen Perspektive. Zu den kritischen Fragen, die angegangen werden müssen, gehören: a) das geeignete Ruhestandsalter, b) Höhe und Art der Renten- und Krankenversicherungsleistungen für die ältere Generation, c) die Zahl der Erwerbstätigen, d) die Höhe der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge zur Deckung der Renten- und Krankenversicherungsleistungen für die wachsende Zahl älterer Menschen und e) Maßnahmen und Programme im Zusammenhang mit der internationalen Wanderung, insbesondere der Bestandserhaltungsmigration, und der Eingliederung einer großen Zahl neuer Einwanderer und ihrer Nachkommen.

In solchen Zeilen verbirgt sich allerhand Sprengstoff, der Politikern selbst bei zaghaften Umsetzungsversuchen in der – tendenziell hysterischen – öffentlichen Debatte sogleich um die Ohren fliegt. Und selbst nach der Realisierung der einen oder anderen Vorgabe muss sich dann erst erweisen, ob sich der gewünschte Effekt denn tatsächlich einstellt – oder ob sie neue, vielleicht größere Probleme mit sich bringt.

Daniel Hermsdorf

Verleger, Autor, Journalist bei filmdenken.de - Medienkritik, Verschwörungstheorie und Physiognomik

Eine Antwort

  1. 30. Dezember 2010

    […] Ist der Abstieg „realistisch“? Wir nennen es Beistellung […]

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