Albrecht Müller sieht #Riester-Rente scheitern, aber keine #Überalterung

In seinen vielfach berechtigten Zeitkritiken spart Albrecht Müller, Autor von Büchern und der “NachDenkSeiten”, ein paar Aspekte konsequent aus oder stellt sie seinerseits eigenwillig dar. Ich habe das schon zweimal (Februar 2013 und November 2014) angesprochen. Doch auf Müllers vielgelesener Website setzt sich dieselbe Strategie fort – in einem Artikel vom 11.04.2016, “Neoliberalismus ist Mist, die Riester-Rente wird scheitern – das wusste Horst Seehofer auch schon vor zwölf Jahren und wacht erst jetzt auf? Schade.”

Ich fasse kurz zusammen: Müller sieht als Verantwortliche der Fehlentwicklung die Finanzindustrie mit ihren Werbeleuten. Er bietet damit eine für eine linksliberale Einstellung konforme Erklärung: ‘böses Kapital, helfender Staat’. Auch wenn hier keine Gesamtrechnungen versucht werden, lautet die Tendenz bzgl. von Demografie so, wie in einem Artikel vom 03.06.2013 beschrieben:

In dieser Debatte über den so genannten demographischen Wandel musste man den Eindruck gewinnen, die Wissenschaft von der Demographie habe eine zentrale Bedeutung. Das ist eine bemerkenswerte Fehleinschätzung. Ihre Bedeutung ist vergleichsweise unbedeutend; umso größer ist die Bereitschaft von Demographen, sich für private Interessen einspannen zu lassen und zu diesem Zweck die Entwicklung maßlos zu übertreiben.

In Müllers Weltbild sind Kinderlosigkeit und ein steigendes durchschnittliches Lebensalter der Menschen in einer Gesellschaft kein so großes Problem wie andere – und es werde ‘übertrieben’.

Es ist hingegen möglich, dass Müller seinerseits untertreibt. Und dies ist für “Die kritische Website”, wie er die “NachDenkSeiten” nennt, eigentlich nicht angebracht. Was er nicht kritisiert, sind systemische Zusammenhänge einer allerseits bestätigten Überalterung (aller Industrieländer), die etwa auf veränderten Lebensgewohnheiten, auch dort Industrieinteressen (Unterhaltungsindustrie, Elektronik, Freizeit), zurückgehen, wie auch Aspekte der Frauen-Emanzipation. Spricht man dies an, geht man in Frontstellung zu mächtigen Industrien und mächtigen Ideologien, denen potenzielle Leser anhängen. Und Albrecht Müller vermeidet dies erfolgreich.

Im 2013er Artikel belustigt er sich, dass die zuvor mit 43 % bezifferte Kinderlosigkeit bei Akademikerinnen deutlich nach unten habe korrigiert werden müssen:

Im Spiegel gab es damals eine fast schon lustige Einlassung der heutigen Familienministerin Kristina Schröder. Sie bezog sich auf eine neue Studie darüber, dass die Akademikerinnen-Kinderlosigkeit bei ungefähr 25 % läge und stellte fest, man sei offenbar einem Phantom aufgesessen.

Liest man jedoch andere Quellen gegen, wird auch diese zuletzt bestätigte Quote nicht gerade als optimal eingeordnet, so in der “Welt” (16.12.2015) zur Geburtenziffer allgemein:

Allerdings warnt Bujard auch vor überzogenen Erwartungen. “Angesichts der Debatte über das Geburtentief sind die Zahlen bemerkenswert, trotzdem ist die Ziffer noch immer relativ niedrig. Für eine Bestandserhaltung wäre ein Wert von etwas mehr als zwei Kindern pro Frau nötig.”

Aus einem ‘Nicht ganz so schlecht, aber auch nicht gut’ wird bei Müller also ein ‘Eigentlich gar nicht so schlimm’. Dies ist demnach ein rhetorischer Trick, und er ermöglicht Lesern neben der Triebabfuhr gegen das Fehlverhalten einer abstrakten Einheit (der Finanzindustrie) das ganz gute Gefühl, die eigene Generation habe ansonsten nichts falsch gemacht, alles werde sich schon regeln – ‘kinderarm, wohlhabender als Jüngere und Spaß dabei’ ist offensichtlich das Profil von Müllers Fangemeinde. Und bei Top-Pensionär Müller gibt’s den Lesestoff dann noch umsonst im Internet im gewohnten, gemäßigt linken Jargon. – Wie die Renten sonst finanziert werden sollen und ob Ideen dafür wirklich realistisch, umsetzbar und schließlich tragfähig sind, ist ein weites Feld – das man besser ausblendet, wie wir sehen.

Auch kurzzeitig stabilisierte Zahlen sind kein Garant für Besserung, wie “Die Welt” weiter ausführt:

“Er hängt stark davon ab, ob Frauen ihren aufgeschobenen Kinderwunsch einfach nur später realisieren.” In einem solchen Fall hätte die Geburtenziffer mit der tatsächlichen Anzahl an Kindern pro Frau nicht viel zu tun. Auch aus diesem Grund ist eine Prognose für die Zukunft nahezu unmöglich; der jetzt recht hohe Wert könnte im kommenden Jahr wieder fallen. Die Aussagekraft ist also äußerst beschränkt.

Die von Müller als niedrig (weil niedriger als eine andere) suggerierte Zahl wird vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) hingegen so beschrieben:

Deutschland hat eine im internationalen Vergleich sehr hohe Kinderlosigkeit von Frauen, deren Geburtenbiografie abgeschlossen ist. Sie beträgt 21,7 Prozent bezogen auf die Jahrgänge 1964 -1968.
(S. 11)

Die Geburtenziffer der Akademikerinnen stieg von 2000 bis 2010 von rund 1,3 auf 1,4 (S. 8), die von Nicht-Akademikerinnen blieb bei 1,6.

Außerdem gelten nicht für alle unabhängig des Ortes dieselben Größenordnungen, weshalb sich großstädtisches Leben unter Alternden anders gestalten wird als nicht-großstädtisches. Dazu “Die Zeit” (07.11.2013):

Besonders ausgeprägt ist die Kinderlosigkeit demnach in den Stadtstaaten. Am auffälligsten ist dies in Hamburg, wo 2012 fast jede dritte Frau (32 Prozent) keinen Nachwuchs hatte.
[…] In den alten Bundesländern erreichte 2012 die Kinderlosenquote bei Akademikerinnen zwischen 45 und 49 Jahren mit 30 Prozent einen neuen Höchststand. Bei den fünf Jahre jüngeren Akademikerinnen wird die Kinderlosenquote hingegen voraussichtlich etwas geringer ausfallen. Bei den westdeutschen Frauen ohne akademischem Abschluss wird dagegen der Anteil der Frauen ohne Kind steigen.

In entsprechenden Größenordnungen werden sich daraus auch noch andere psychosoziale Probleme ergeben. Bei einer Google-Suche mit “albrecht müller depression” finden sich nur zwei Einträge mit “Depression” als wirtschaftlichem Begriff. Das ist eine weitere Ausblendung, nun von bereits deutlich sichtbaren negativen Trends. Das Leiden ist heimlich, still und leise – und Müller überdröhnt es in dieser Hinsicht mit pseudo-souveräner Entwarnung, die jedoch nur die Behauptung einer richtig erkannten Fehlentwicklung ist, die man noch keineswegs abgewendet hat.

Es sind darüber hinaus eben etwa Depressionen im zunehmenden Lebensalter, die ein Autor wie Albrecht Müller hier – wie so viele andere – als eine zu erwartende Entwicklung übergeht. Die “Deutsche Depressionshilfe”:

Laut der aktuellen Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland des Robert-Koch-Instituts (DEGS) erkranken 8,1 Prozent aller Personen im Alter von 18 – 79 Jahren im Laufe eines Jahres an einer Depression. Betrachtet man nur die über 70 Jährigen, so sind es 6,1 Prozent (1). Allerdings sind leichtere Depressionen oder Depressionen, bei denen nicht alle Symptome vorliegen (sog. subklinische Depression) zwei bis drei Mal so häufig bei älteren Menschen zu finden  (2, 3). Auch diese Störungen gehen mit einer deutlichen Beeinträchtigung der Gesundheit und Lebensqualität einher.

Es ist wohl auch ein männliches Erklärungs-Schema der Volkswirtschaft, das Müller in seiner Gesellschaftskritik einem psychologisch-emotionalen stark übervorteilt. Das Bild bleibt so nicht nur – wie gezeigt – selbst tendenziös, sondern auch unvollständig.

Bei der zu erwartenden exorbitant steigenden Zahl derer, die mit immer weniger Angehörigen schließlich in Institutionen gepflegt werden müssen, sind die Zustände laut dem “Robert Koch Institut” (“Depressive Erkrankungen”, 2010) ebenfalls absehbar:

Mit den oben erwähnten Unsicherheiten schätzen klinische Experten die Prävalenz von Depressionen nach erweiterten Kriterien bei älteren Menschen auf 8% – 10 %; dabei sind mehr Frauen als Männer betroffen, was sich jedoch mit höherem Alter – vermutlich mortalitätsbedingt – angleicht [80, 82, 83, 84]. Dabei ist auf einen höheren Anteil leichter und unterschwelliger Formen der Depression hinzuweisen [77]. Bei Personen, die in Heimen leben, wird von einer Prävalenz depressiver Symptome von bis zu 50% und von schwerer Depression zwischen 15% und 20% ausgegangen [85].
(S. 23)

Ein Kritiker sollte solche komplizierten Realitäten nicht vereinfachen, auch wenn ein Publikum es ihm lohnt. Solche Seiten erforderten mehr NachDenken, folgte man nicht auf Umwegen doch der Devise “Nach mir die Sintflut” mit ein bisschen ‘Kritik’ zum Spaß an dem, was andere anders hätten machen müssen, aber nicht gemacht haben.

Update 14.04.2016:
Hier finde ich gerade noch eine geballte und fundierte Kritik an Albrecht Müller: http://www.jjahnke.net/nachdenkseiten.html.

Daniel Hermsdorf

Verleger, Autor, Journalist bei filmdenken.de - Medienkritik, Verschwörungstheorie und Physiognomik

2 Antworten

  1. Peter Hallonen sagt:

    Ich sehe die Kinderlosigkeit im günstigsten Fall nicht als hauptsächlich ökonomisches, sondern psychosoziales Problem, und zwar einerseits als Symptom und als Ursache. Symptom, weil mutmaßlich in einer Gesellschaft mit so wenigen Kindern vieles schief laufen muss oder schief gelaufen ist, also der mit relativer Kinderlosigkeit tendenziell verbundene Lebensstil nicht nachhaltig oder schon von vornherein glücklich machen dürfte, und als Ursache, weil eben Betreuung und Pflege im Alter durch eigene Angehörige vorzuziehen wäre und auch Ein-Kind-Familien für das Aufwachsen dieses einen Kindes (ich habe jetzt nicht nach Studien gesucht) nachteilig sein könnten.

    In dem Zusammenhang weiß ich nicht, wie man staatliche Versuche, durch finanzielle Anreize die Geburtenrate zu heben, beurteilen sollte. Sind sie nur ein Herumdoktorn an gesellschaftlich-kulturellen Symptomen oder können sie selbst Ursache einer auch gesellschaftlich-kulturellen Wende sein? Allerdings könnte so eine Betrachtungsweise müßig sein, gab es doch bekanntlich den “Pillenknick”, der ja als äußere und nicht “gesellschaftsinterne” Ursache einen Teil der demographischen Probleme mitverursachte. Es mutet natürlich wahnsinnig an, dass Politik es nicht einmal über finanzielle Anreize ernsthaft versucht. Die mediale Kampagne gegen das nun wieder gekippte “Betreuungsgeld” war fast noch dreister als die in der sogenannten Flüchtlingskrise. Darüber hinaus haben rot-grüne Landesregierungen jeweils zuvor eingeführte “Landeserziehungsgelder” wieder gekippt. Nur Bayern (und Sachsen) macht mal wieder die Ausnahme, indem es an dieser Leistung festhält und auch das gekippte Betreuungsgeld durch eigene Leistungen ersetzen will. Neben der zunehmenden Spaltung der Bevölkerung in Sachen Einkommen und Vermögen und der ethnischen Spaltung vertiefen sich so auch die regionalen Risse zwischen erstaunlich gut regierten, sowohl wirtschaftlich prosperierenden als auch kulturell noch selbstbewussteren Ländern und zukünftigen “Failed states” wie NRW und Belgien drastisch. Was die Strategien dahinter oder die allgemeinen Ursachen sind, sollte auch mal überlegt werden.

  2. Die Überalterung ist tatsächlich ein sekundäres Problem (Pflege etc.). Die Riester-Rente ein Flop. Die letzten Rentenreformen ein Fiasko.

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