Serientäter und Sympathisanten

Als neueste Attraktion auf dem US-amerikanischen Fernsehmarkt preist ein „Welt“-Artikel vom 26.09.2010 von Peter Praschl die Produktion „Boardwalk Empire“ an, die in Deutschland ab Frühjahr 2011 auf dem Bezahlsender „TNT Serie“ zu sehen ist. Mitproduzent und Co-Regisseur Martin Scorsese hat im Genre des Mafia-Epos schon einiges vorzuweisen: „Mean Streets“ (1972), „Goodfellas“ (1990), „Casino“ (1995), „The Departed“ (2006).

Filmkritiker fühlen sich scheint’s von diesen Welten geradezu magisch angezogen. (Das kann der Autor dieser Zeilen im Rückblick selbst nicht ganz verhehlen.) Aber irgendwann ist immer das erste Mal, und nach dem ersten Mal gibt es ein zweites und so fort. Scorsese ist bei Nr. 5 und eröffnet damit die Serie „Boardwalk Empire“ mit einer 73minütigen Folge, an die sich bis Dezember 2010 beim US-Pay-TV-Sender HBO noch 11 weitere à 1 Std. reihen.

Mafia-Serien: Trendsetter waren „The Sopranos“ (1999-2007). Und nachdem hier Steve Buscemi als Tony Blundetto in 16 von 71 Folgen figurierte, erhält er in „Boardwalk Empire“ die Hauptrolle als Enoch „Nucky“ Thompson. Scorseses Tochter Cathy dekorierte zeitweilig bei den „Sopranos“ die Sets.

Zur hiesigen Landschaft der organisierten Meuchelmörder trägt die schon im April 2010 auf arte probegelaufene Serie „Im Angesicht des Verbrechens“ von Regisseur Dominik Graf bei, die sich zur Abwechslung im Programmschema nicht der italienischen oder irischen, sondern der russischen Mafia widmet. (Ab 22. Oktober nochmal in der ARD zu bewundern.) Auch in diesem ‚Fall‘ konnte sich die „Welt“ begeistern, so Rezensent Holger Kreitling am 27.04.2010 unter der Überschrift „Nie war die Russenmafia so cool wie auf Arte“:

Vielleicht bringen Dominik Graf und sein Autor den russischen Hasardeuren, gestrandeten Mädchen und Halbweltexistenzen auch deshalb so viel Sympathie entgegen, weil sie den Wagemut mögen, ihre Risikobereitschaft, die Alles-oder-Nichts-Haltung. […] Jetzt liegen die mustergültigen acht Stunden vor. Dafür soll’s rote Rosen regnen.

Neben der kontinuierlichen Erhöhung des Zeitaufwands für Mafia-Filme respektive ‑Serien – lebensverlängernde Medikamentierung und Gerätemedizin werden ja auch immer besser – lässt sich also mentalitätsgeschichtlich festhalten, dass die ordentlich gekämmten Emissäre der „Welt“-Hauptstadtredaktion sich kinosesselseitig im Angesicht der Schandtaten pudelwohl fühlen. Ein unzeitgemäßer Schelm deshalb derjenige, der etwas schlechter ‚verkaufte‘ Gedanken wie diese dabei hat:

Der Kapitalismus benötigt zu seinem reibungslosen Ablauf ein funktionierendes Rechtssystem, doch werden rechtliche Normen immer wieder gebrochen – und zwar nicht als Ausnahme. Dies beginnt beim Bruch tarifvertraglicher Regelungen, geht über Steuerhinterziehungen und Korruption bis zur Geldwäsche. “Legale” und “illegale” Ökonomie sind vielfach ineinander verwoben und im Zuge der Globalisierungsprozesse nimmt die Mixtur noch weiter zu. In einigen Weltgegenden spielen die illegalen Bereiche längst eine größere Rolle als die legalen, kooperieren transnationale Konzerne mit privaten Söldnerarmeen und kriminellen Banden.

So etwas erscheint in diesem Fall allerdings nicht im Springer-Verlag, sondern im „Westfälischen Dampfboot“, das ohnehin nur diejenigen kennen, denen beim Anblick von Halsab- und ‑durchschneidern von Zeit zu Zeit noch richtig schlecht wird.

In der deutschen Presse ist es etwa Jürgen Roth, der sich jenseits der Fiktion kontinuierlich damit auseinandersetzt, dass Verbrechen nicht nur ein „Angesicht“ hat, sondern das Leben vieler direkt und indirekt beeinträchtigt. Neben verhältnismäßig gut verkauften Büchern wie „Mafialand Deutschland“ (2009) drängelt sich auch immer mal wieder ein TV-Magazin-Beitrag mit Roth zwischen die Sendeplätze der seriellen Räuber-und-Gendarm-Spiele. Aber im Verhältnis und für das Zuschauerbewusstsein ist das nicht viel.

Auch die politische Öffentlichkeit und das Meinungsbild lassen ahnen, dass das – wie gezeigt auch von der Berichterstattung behutsam gelenkte – Faible für nach Drehbuch verfilmte organisierte Kriminalität nicht gerade zu einer erhöhten Aufmerksamkeit für dieses in der Wirklichkeit führt. Vermutlich ist es sogar eher umgekehrt.

Dass ein Mafioso ein liebender Familienvater sein kann, wird niemand bezweifeln. Dass er als Mörder eine verabscheuungswürdige Existenz führt – und anschließend womöglich noch bei hypothetischen Instanzen um ‚Vergebung‘ ersucht –, sollte „Erzählkultur“ nicht nachhaltig vergessen machen (auch wenn sie gattungstypologisch nicht denselben Maßstäben gehorcht wie Dokumentation). Wenn dies aber so ist, macht sich Kultur selbst zum Handlanger einer Ideologie, die zur Organisierten Kriminalität beiträgt. Rechtschaffene Italiener wissen, was es heißt, mit solchen Strukturen zu leben, wenn sie sich einmal gebildet haben.

Drehbuchautoren und Regisseure sollten also immer wieder darüber nachdenken, inwiefern sie etwas ‚menschlich‘ begreifbar – oder am Ende sogar „cool“ – erscheinen lassen, was unmenschlich ist. Und eine Reflexion, die über nie eingelöste Sonntagsreden von Zuckerpapis hinauskommen will, hat immer wieder in Erinnerung zu rufen, in welchem Verhältnis Zeichen und Realität stehen. Sonst hat sie wömöglich selbst irgendwann die Realität mit dem Totschläger im Nacken.

Was die zunehmende Verquickung von Machtstrukturen in Zivilgesellschaft und Schattenwirtschaft betrifft, musste Jürgen Roth auch schon einmal seine Verdächtigungen gegen Kanzler a D. Gerhard Schröder zurücknehmen. Das ändert aber nichts daran, dass Schröder sich für seine Verabschiedung von der Bundeswehrkapelle den berühmtesten Song von Frank Sinatra wünschte:

Zum ursprünglichen Interpreten sendet Phoenix immer und immer wieder „Sinatra – Star der Mafia“:

In der zweiteiligen Dokumentation zeigt Regisseur Christopher Olgiati, dass der Sohn italienischer Einwanderer ein Mann mit zwei Gesichtern war, der schon in jungen Jahren seinen Pakt mit dem Teufel schloss, um seinen Aufstieg zum Star zu beflügeln.

Es mag deshalb nicht verwundern, dass bei Scorsese auf Nr. 5 noch mindestens Nr. 6 folgt: Für 2011 ist das bio pic „Sinatra“ geplant.

Daniel Hermsdorf

Verleger, Autor, Journalist bei filmdenken.de - Medienkritik, Verschwörungstheorie und Physiognomik

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