Mangelnde Ursachenforschung zu #Ernährung und #Übergewicht in „Europa XXL“
Sie geloben keine Besserung und bessern sich auch nicht: Wie schon im Mai 2012 zu einer ARD-Dokumentation über Coca Cola besprochen, fehlt auch in der aktuellen Sendung „Europa XXL – Übergewicht“ (einsfestival, ausgestrahlt 01.07.2014, produziert 2010) eine ausgewogene Ursachenforschung. Personalisierung und Emotionalisierung sind die Spuren der Verwüstung, die seit vielen Jahren vom Privatfernsehen in solchen Formen der Dokumentation ausgehen. Da werden ausführlichst Einzelschicksale geschildert – bis zu den bitteren Tränen der Mutter.
Irgendwo auf der Hälfte der Sendung gibt es einen kurzen Exkurs zum Kinderfernsehen und seinen Werbespots. Fernsehen und Computerspiele werden ebenfalls in einer sehr kurzen Einheit am Fallbeispiel eines männlichen Jugendlichen thematisiert. Falsche Ernährung und Bewegungsmangel werden zwar sehr ausführlich angesprochen, doch ihre Hauptursachen bleiben nahezu ausgespart: Interessen der Nahrungsmittelindustrie und Medienwirkungen wie Mechanismen der Werbung, v. a. aber das regungslose Verharren vor Bildschirmen.
Es ist, als wären Journalisten – wie hier Beatrice Sonhüter – dazu angehalten, magische Worte erst gar nicht zu nennen. So heißt es zu einer englischen Jugendlichen, diese vermeide des öfteren den halbstündigen Fußweg zum Schulbus. Es wird jedoch sprachlich erst gar nicht ausgeführt, dass dabei ansonsten das Automobil zum Einsatz kommt. Letzteres ist einer der Hauptgründe, warum körperliche Bewegung über die Jahrzehnte hinweg abgenommen hat.
Man kann mit einer einfachen Frage zeigen, wie schief die Perspektive hier gewählt ist. Anlass der Sendung ist – anfangs betont mit einem Ausblick auf eine noch schlimmere Zukunft – die Veränderung der Körper hin zu mehr Übergewichtigen. Und was hat sich in der Gesellschaft geändert? – Berufliche Tätigkeiten, so vorhanden, sind unkörperlich geworden, es gibt mehr technische Hilfsmittel wie motorisierte Fortbewegungsmittel, es gibt permanenten Medienkonsum und es gibt eine Lebensmittelindustrie, die sich auch und gerade der Suchtpotenziale von Zucker, Salz und Fett bedient, um zu mehr Konsum anzuregen.
Diese Faktoren sind das, worum es in einer solchen Sendung am wenigsten geht. Stattdessen wird die Kamera auf arme Opfer gehalten, die in aller Ausführlichkeit persönliche Befindlichkeiten ausbreiten müssen – und als Hauptschuldige dastehen. Da werden auch noch in wissenschaftlicher Hinsicht hormonelle Veränderungen erörtert, die bei Menschen einträten, weil sie aus der Evolution heraus unbewusst für schlechte Zeiten Reserven anlegten. Derlei ist Autorin Sonhüter wichtiger als die hier zuvor genannten Faktoren. Und diese Faktoren, einmal bestimmt, führen eben zu ganz anderen Einsichten und anschließenden Forderungen nach Veränderung.
Obwohl auf der ersten Ebene mit verständnis- und respektvollem Blick, richtet sich so implizit eine Aggression gegen die Betroffenen. Keine Frage – Ernährung ist zumindest eine Eigenverantwortung, die man Eltern zusprechen muss. Schon daran würde sich allerdings die Frage anschließen, inwieweit durch praktische Zwänge und sozialen Druck von Seiten der Eltern alle notwendigen Verhaltensregeln durchgesetzt werden können: Kinder wollen fernsehen und mitreden, Kinder können heimlich selbst ungesunde Esswaren kaufen etc. Spätestens an diesem Punkt wird deutlich, wo es wirklich hakt: Wohlstandsphänomene haben sich existenziell gegen ihre Nutznießer gekehrt. Und über die Mentalität derer, die in Technik- und Medienproduktion oder Nahrungsmittelchemie bewusst schädigend auf andere wirken, muss fortgesetzt nachgedacht werden. Als Journalist ihnen zu Diensten sein sollte man nicht.
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