Literaturkritik im logischen Orbit
„Wir sind untergehende Egomanen im fin de siècle. Darüber spreche ich nach dem Film von Matthias Krag mit dem Literaturkritiker Ijoma Mangold.“
So die Anmoderation von Tina Mendelsohn in „Kulturzeit“ (3sat) am 03.03.2011 zu Bericht und Kritikergespräch über den Roman „Chronic City“ von Jonathan Lethem (hier derzeit noch anzusehen).
Was in dem Gespräch mit Mangold folgt, ist ein weiterer Höhepunkt des Simulationsgeschwurbels, das, 1976 von Jean Baudrillard lanciert, verstärkt seit den 1990er Jahren den Feuilleton-Jargon mitbestimmt.
Mangold: „Das heißt, alles ist so ein wenig verrückt, es ist nicht ganz genau die Wirklichkeit, und damit spielt der Roman die ganze Zeit. Wir wissen nie, woran wir sind. Das große Thema ist: Wirklichkeit und Fiktion, Virtualität und Realität, darin verirren sich die Figuren. Die suchen alle nach dem Wirklichen und finden aber eigentlich immer nur mediale Abbilder.“
Wurde, ebenfalls in den 1990ern, gar ein „politisches Feuilleton“ ausgerufen, kehrt hier der Gestus der Berichterstattung, verstärkt im Umfeld der literarischen und sonstigen Fiktionen, schnurstracks zu einem l’art pour l’art zurück, das das fin de siècle vor 1900 bestimmte. Und eigentlich befinden wir uns ja an einem début du siècle – man weiß nicht, wie da im Mainzer Sendezentrum gezählt wird.
Kritiker Mangold scheint also zu kapitulieren vor verschwimmenden Realitätsbegriffen. Eigentlich könnte es helfen, einmal die Sprachformen auseinanderzunehmen, die im Diskurs zum Begriff der „Simulation“ führten und eine neue Unübersichtlichkeit der Kategorien erst nach sich zog. (Auf „filmdenken“ geschah dies z. B. im April 2004 im Text „Die 1000 Lügen des Kinos“ .)
Aber nein – das gar nicht mal so virtuelle Zeilengeld verleitet offensichtlich dazu, an denselben Maschen noch einmal und wiederum weiterzustricken. Dazu gehört auch, rhetorisch eine bloße Oberfläche der Kritikfähigkeit zu bedienen, die sich über etwas empört, dessen Teil man auf diese Weise unweigerlich selbst ist:
Mangold: „Das ganze Kunstsystem wird da wirklich auch entlarvt. Das Kunstsystem selber ist Teil, wie Sie sagen, einer Marketingmaßnahme, aber auch Teil einer zunehmenden Virtualisierung der Wirklichkeit. Die Künstler spielen sich auf zu großen exzentrischen Gestalten. Sie spielen auch oft – wie z. B. dieser Rockkritiker – mit der Rolle, ähm, des Verschwörungstheoretikers, der mit ’ner leichten Paranoia versucht, alles zu entlarven. Aber wenn man alles entlarven will, dann erscheint plötzlich alles nur noch Paranoia [sic]. Und deswegen können wir auch da nie genau wissen: Ist die Kunst etwas, woran wir uns halten können, oder selber nur Teil dieser …“
Screenshot: 3sat, 03.03.2011
„… ganzen Inszenierungswelten?“
Auch der Abschluss des kurzen Dialogs per Videoschaltung, der an eine aktuelle Kontextualisierung der Selbstsicht unseres mediatisierten Weltzugangs, von Lethems Roman und den aktuellen Revolten in islamisch geprägten Staaten wie Libyen anschließt, verfällt noch einmal in die reflexiv verkürzte Resignation vor schlichten Begriffen:
Mangold: „Aber es bleibt uns nichts anderes übrig. Wir leben eben auch in dieser modernen, in dieser hochmodernen Welt, wo wir manchmal nicht mehr wissen, was die handfeste Wirklichkeit ist. Das ist unser Leid, aber das ist unsere Gegenwart.“
Mendelsohn: „Ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch, Herr Mangold. Vielen Dank.“
In der verallgemeinerten Reflexion des Mediensystems (wie im nun Folgenden: wiederum durch Medienmacher selbst) klingt dies meist ganz anders. Hans Leyendecker, Leitender Politischer Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“, hält etwa am 18.05.2004 an der Universität Erfurt den Vortrag „Ethik der journalistischen Berichterstattung“. Darin heißt es im archivierten Vortragstext:
Ein Journalismus kommt hoch, der die Wirklichkeit nicht abbildet, sondern inszeniert. Es geht nicht um die Beschreibung langfristiger Veränderungen unserer Gesellschaft, nicht um das sorgfältige Beobachten, Verstehen und Erklären von Zusammenhängen. Stattdessen geht es immer mehr um Effekte, um Schnelligkeit.
Der von Leyendecker besprochene Einfluss des Privatfernsehens macht sich auch in der Häppchenkultur eines nicht uninteressanten Formats wie „Kulturzeit“ bemerkbar. Die rituell als „Gespräch“ bezeichneten Kurzinterviews enden nicht selten in der hier dokumentierten – mehr oder minder unfreiwilligen – Komik einer von klischierten Etiketten, habitualisierter Larmoyanz und selbstgewissem Zynismus bestimmten Atmosphäre.
Eine Aussage Mendelsohns bleibt etwas nebulös. „[D]iese Geschichte“, die sie hier erwähnt, wird in Bericht und Interview nicht definiert:
Mendelsohn: „Und alles ist Marketing. Und das macht die Sache natürlich auch sehr bitter. Also, da gibt es diesen Bürgermeister, aber man muss auch sagen: Alle Künstler sind Kollaborateure dieses Marketings, ähäh – New York, weinend wegen dieser Geschichte, alles ististist … ist sozusagen gut für’s Geschäft.“
Gemeint mit „dieser Geschichte“ ist wohl die Katastrophe des 11. Septembers 2001. Es mutet merkwürdig an, am Tag eines solchen Interviews in dem schon 2003 erschienenen Buch „Fakten, Fälschungen und die unterdrückten Beweise des 11.9.“ von Mathias Bröckers und Andreas Hauß Sätze zu lesen wie:
Im Klartext: Es gibt keinen handfesten Beweis, dass die 19 Männer, die als Täter behauptet werden, wirklich in die Flugzeuge eingestiegen sind und sie entführt haben. Damit ist das gesamte Szenario des 11. Septembers, wie es die US-Regierung und der Posaunenchor der Medien seit diesem Tag verkünden, von nachprüfbaren Fakten nicht gedeckt.
Wenn es nach Mangold „unser Leid“ ist, dass „wir manchmal nicht mehr wissen, was die handfeste Wirklichkeit ist“, besteht die Aufgabe von Journalismus vielleicht nicht nur in der verbalen Wiederholung einer solchen Befindlichkeit. Dazu gehört auch, darüber zu diskutieren, welcher Umweg über 495 Buchseiten (so der Umfang von Lethems New-York-Roman) den Leser einem Bewusstsein von ‚Realität‘ näher bringt – wenn er es denn wünscht.
Die „Kulturzeit“-Berichterstattung verbleibt im Wesentlichen auf der Ebene eines „Marketings“, über das sie selbst das Klagelied anstimmt. Im Marketing erster Ordnung, der Verlagsinformation zu Lethems Buch bei Klett-Cotta, erfolgt eine entsprechende Bestandsaufnahme:
Mit seinem großen Gesellschaftsroman über die eisige Welt des Geldes und des schönen Scheins, der Dinnerpartys und der Charity-Events zeichnet Jonathan Lethem das eindrucksvolle Porträt eines dekadenten Manhattans, dessen Einwohner gefangen sind in Medienmanipulationen und politischen Betrügereien.
Und wie hieß es 2004 in einer Meldung zu Leyendeckers zitiertem Vortrag?
Nächster Termin in der Reihe: 25.5.2004, 18.00 Uhr, Michaeliskirche, “Stehen Ökonomik und Ethik im Widerspruch?”
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