Die 1000 Lügen des Kinos

Fachinformation zu technischen Bildern

von Daniel Hermsdorf

April 2004

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des Kinos

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What's it all about?

Kino, das ist mehr als 100 Jahre Praxis und fast so viel Theorie. Praxis gelingt immer dann, wenn Erfolg sich einstellt - nur die Nachfrage erhält das Angebot aufrecht, zumal in einer aufgrund technischer Bedingungen so teuren Kunst wie der gefilmten. Theorie, wenn sie kritisch ist, hat eine Chance gegen die Praxis nur auf lange Sicht. Theorie, wenn sie affirmativ ist, reiht sich ein in die Öffentlichkeitsarbeit ideologischer und kommerzieller Produktion. Auch sie kann kritisch sein, indem sie nur zum Schein die Praxis begrüßt und deren (kritisch gedacht:) ,Irrtümer' auf's Deutlichste, aber in bejahenden Formulierungen sprachlich nachahmt. Studienfächer wie Film- und Medienwissenschaft haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Praxis der audiovisuellen Massenmedien theoretisch zu begleiten. Grundsätzlich gilt für die verhandelten Theorien der Antagonismus ,kritisch / affirmativ' mit der Variante ,Kritik durch Affirmation'. Am Anfang des 21. Jahrhunderts stehen diese allgemeinen Umstände des Verhältnisses von Medienpraxis und -theorie in einem historischen Kontext, der durch die vergangene Geschichte und in der Gegenwart durch Besonderheiten medialer Öffentlichkeit sowie ökonomischen Drucks gekennzeichnet ist. Noch einfacher gesagt: Nach 100 Jahren Kino und seinen massenmedialen Begleiterscheinungen stellt sich notwendigerweise dringender als jemals zuvor die Frage, was hier noch ,neu' und ,interessant' zu nennen ist - Drehbuch-Autoren suchen nach Stoffen, TV-Manager investieren hohe Summen in neue "Formate". Weniger einfach gedacht, als die gesellschaftliche Praxis es sich macht: Die ökonomischen Dynamiken, distributiven und produktionstechnischen Logiken investieren eher in das Vergessen und das Remake als in Geschichtsbewusstsein, Selbstreflexion und ein existenzielles Bewusstsein für die knappe Ressource Lebenszeit. Zum ökonomischen Druck gehören mehrere Faktoren: Inhalte technischer Medien sind mehr als andere wirtschaftlichen Faktoren unterworfen, die Tatsachen, Meinungen und Gefühle in Geldwerte umzurechnen versuchen, woraus einige der größten Peinlichkeiten der Kulturgeschichte entstanden sind. Für die nachwachsenden Generationen stellt sich mit der Alternative ,Praxis oder Theorie' auch die Frage, was von beidem den Lebensunterhalt sichern kann. Die verhältnismäßig schlechte ökonomische Lage scheint die Forderung, etwas "Ordentliches" zu lernen und im Zweifel theoretische Zweifel dem Broterwerb zu opfern, zu bestätigen. Was auf diese Weise sich als Massenkultur über die historische Distanz hinweg etabliert hat, ist ein merkwürdiges Gemenge aus verbesserter Kommunikation, Toleranz, Freiheitlichkeit und Zynismus, Häme, arrogantem Spiel mit einem Publikum, dem man den Zugang zum Archiv erschwert (d.h. unmöglich oder teuer macht) und es ansonsten behandelt wie den Esel, den man mit einer Möhre an der Angel zum Vorwärtsgang (d.h. Konsumieren) bringt. Was extrem verwundert an dieser Situation, sind die unterschiedlichen Sprechweisen in Terminologien, Disziplinen und sozialen Gruppen. Was dem einen ein Herzenswunsch, ist dem anderen eine Lachnummer. Was theoretisch und menschlich nur Abscheu erregen kann, funktioniert in der Logik der Vermarktung besser als alles andere. Was in einigen Bereichen und "Marktsegmenten" hier offensichtlich in historisch einmaliger Weise scheitert, ist das, was Grundlage und Sinn von Medien sein soll: Kommunikation.

 

Wer denkt was?

Die Allianzen und Meinungen sind in diesem Zusammenhang nicht einfach zu definieren. An dieser Stelle kann nicht im Einzelnen erläutert werden, welche Indizien und logischen Beweise angeführt werden können für etwas, das man eine theoretische Wende nennen könnte oder eine Praxis, die sich selbst seit geraumer Zeit mit subtilen Selbstkommentaren ad absurdum geführt hat. Nur so viel kann hier gesagt sein: Politische Gegensätze von "rechts" und "links" werden zweifelhaft, wenn man die Geschichte der bewegten Bilder und ihrer euphorischen wie kritischen Theoretisierung verfolgt. Etablierte Theorien erweisen sich als unbrauchbar, scheinbar fachfremde Theorien erscheinen plötzlich relevant, fachspezifische Theorien entpuppen sich als ein indirektes und literarisches Spiel mit Begriffen, die nur noch wenig mit ihrer herkömmlichen Wortbedeutung und diskursiven Verwendung gemeinsam haben. Innerhalb der Medienpraxis - dies gilt v.a. für "Spielfilm"-Produktion i.w.S. - geraten ebenso die Kategorien ins Rutschen: scheinbar kommerzielle und kulturell konservative Produkte lassen sich als subversive Botschaften lesen; die Kategorien dieser Lesarten verbinden "Blockbuster" mit "Arthouse"-Produktionen, die ebenfalls - in einer weit zurückreichenden historischen Tradition - selbst-, d.h. medienkritische Tendenzen erkennen lassen. Die Fragen, die sich hier anschließen, lauten: Warum sind diese Themen bisher nicht in Wissenschaft und massenmedialer Öffentlichkeit besprochen worden? Welche Beurteilungen und Änderungswünsche für reale und medial repräsentierte Erscheinungsformen von Öffentlichkeit ergeben sich daraus?

 

Was kann man wissen?

Das Wissen, auf dem die hier in Frage stehenden Mächte basieren, ist nicht prinzipiell unzugänglich. Es lässt sich in Biblio- und Mediatheken entleihen, in Kinovorführungen wahrnehmen oder in TV-Ausstrahlungen aufzeichnen. Hier seien einige der Themen benannt, für die ein öffentliches Bewusstsein geschärft werden sollte, sowie beispielhaft einige der Kunstwerke und theoretischen Schriften benannt, die im jeweiligen Zusammenhang besonders von Interesse sein können oder deren Bedeutungen einer besonderen diskursiven Aufbereitung bedürfen, um kommunikative Vorgänge nicht in einem Stadium zu belassen, das etwa im Falle einer universitären Öffentlichkeit bis zu Studienabschlüssen als unproduktives Missverständnis aufgefasst werden kann.´

 

Thema 1: Schein

Die bildende Kunst hat über die Jahrhunderte zahlreiche Motive entwickelt, um ihre eigene Scheinhaftigkeit zu thematisieren. Dazu gehören die Ikonografie des Spiegels, des Vorhangs, des Bildes im Bild wie auch erzählerische Legenden, die den künstlerischen Illusionismus thematisieren (z.B. den Wettstreit von Zeuxis und Parrhasios in der griechischen Antike). Die Integration dieser Selbstreflexion, -kritik und moralischen Warnung vor der Macht der Bilder hat ihren Siegeszug in den westlichen Kulturen nicht beschädigt. Die theoretische Fundierung realistischer bildlicher Raumkonstruktion in der Zentralperspektive der Renaissance hat vielmehr eine kulturelle Tradition begründet, die im 19. Jahrhundert mit Fotografie und Film automatisierte technische Bildproduktionsmittel hat entstehen lassen. Deren Möglichkeiten werden seit gut zwei Jahrzehnten mit der massenhaften Verbreitung digitaler Techniken um neue Komponenten ergänzt. Die Frage ist eine existenzielle, wenn man den statistischen Erhebungen über die Zeiten von TV-Konsum und Nutzung von Computern als Unterhaltungsmedium trauen darf. Ein wesentlicher Anteil von Lebenszeit in den industrialisierten Staaten wird in das Ansehen und -hören audiovisueller Zeichenprodukte investiert. Der freien Wahl (Mündigkeit, genannt "Medienkompetenz") stehen dabei filmische Motive gegenüber, die in Anlehnung an das kunstgeschichtlich geprägte Memento mori an Vergänglichkeit und Flüchtigkeit der Zeit gemahnen. In der Filmgeschichte sollten Zuschauer aufmerksam verfolgen, wo Uhren als schlichtes Symbol der Zeit zu sehen sind. In einer schier endlosen Redundanz lassen sich seit der Frühzeit des Kinos Motivketten nachverfolgen, die Uhren mit menschlichen Figuren, ihren Spiegelbildern sowie weiteren selbstreferenziellen Metaphern verbinden: Dazu gehören neben Todessymbolen wie Totenschädeln und ähnlichem etwa Lampenschirme, die als Metaphern von reflektierenden Leinwänden und Bildschirmen verstanden werden können; sowie v.a. anthropomorphe Formgebungen in Dekor und Bildkomposition, die das Verhältnis von Körperlichkeit und bildlicher Repräsentation betreffen. Weitere Motivkreise zeigen technische Installationen: Von Alltagsgegenständen wie Telefonen bis zu fantastischen Entwürfen von technischen Medien virtueller Realität reichen die Motive medialer Installationen in filmischen Produkten, die die medialen Installationen Kino und Fernsehen selbst als Spielfilme vermitteln. Die Tendenz der Geschichten, die sich um diese Motive entspinnen, steht im Missverhältnis der in anderen Medieninhalten v.a. in den 1990er Jahren verbreiteten Euphorie in der Erwartung neuer Erlebnisformen "virtueller Realität". Die Filmgeschichte führt in einer großen Anzahl von Szenen - oft, aber nicht immer mit direkter inhaltlicher Relevanz - vor, wie Menschen - bildlogisch gesprochen - ,mit Lampenschirmen telefonieren', wie menschliche Körper unterschiedslos als Gegenstände behandelt, bildlogisch mit ihnen konnotiert und vertauscht werden. Kamine z.B. öffnen sich in Dutzenden von Filmen wie bedrohliche Schlünde; Menschen werden drapiert wie Blumengestecke und als ihr Äquivalent inszeniert. Als absurder Endpunkt solcher Ikonografien findet sich etwa in Carl Theodor Dreyers Ordet (Das Wort, DEN 1955) der Lampenschirm vor dem Porträtgemälde mitten auf dem Tisch zwischen den Menschen, die sich unterhalten, aber raumlogisch nicht den anderen Menschen, sondern die Lampe sehen; und in Michelangelo Antonionis L'Avventura (Die mit der Liebe spielen, I 1960) steht die Topfpflanze im Kamin, wohin sie ebenso wenig gehört wie der Mensch ins Arsenal der Sachgegenstände. Neben solchen Einzelmotiven, die Scheinhaftigkeit und Verdinglichung thematisieren, erzählen Spielfilme immer wieder in fantastischen Szenarien von simulierten Welten. Und sie tun dies zumeist in kulturpessimistischer Tendenz. Hier seien nur Beispiele genannt, die für sich selbst sprechen: Welt am Draht (USA 1973, R: Rainer Werner Fassbinder); Brainstorm (Operation Brainstorm, 1983, R: Douglas Trumbull); Strange Days (USA 1995, R: Kathryn Bigelow); The Matrix (Matrix, USA 1999, R: Larry und Andy Wachowski). Z.T. analoge erzählerische Konstruktionen, die - als Selbstreferenz gelesen - den ontologischen Status von Bildern betreffen, finden sich in Plots, die von Geistern, Puppen, künstlichen Menschen und Außerirdischen handeln.

 

Thema 2: Tod

In dem erwähnten Film Ordet steht am Ende die Auferstehung einer verstorbenen Filmfigur. Einer solchen, auch als bittere Satire verstehbaren Wendung steht in der Filmgeschichte eine Ikonografie des Todes gegenüber, die hier weitaus dominanter zu nennen ist als etwa in der Geschichte der Malerei. Die Parallele des Memento mori wurde bereits erwähnt. Spezifisch filmgeschichtlich sind Zombies, die sich als Genre-Variante des Horrorfilms etabliert haben. Wie die verdrängte Erkenntnis, das auch bewegte Bilder nicht lebendig sind, kehrt das Bewusstsein der Leblosigkeit filmischer Gestalten mit den Untoten auf der Leinwand wieder: Von The Walking Dead (Die Rache des Toten, USA 1936, R: Michael Curtiz) führt die Spur über I Walked with a Zombie (Ich folgte einem Zombie, USA 1946, R: Jacques Tourneur) bis zu den Horden von Geistern und lebenden Leichen in hysterischen Horrorfilmen wie Night of the Living Dead (Die Nacht der lebenden Toten, USA 1968, R: George A. Romero) oder Army of Darkness (Armee der Finsternis, USA 1993, R: Sam Raimi). Aus dieser Sicht erscheint die Filmgeschichte wie jener "greatest graveyard of the world", auf dem in Edgar G. Ulmers The Black Cat (Die schwarze Katze, USA 1936) die Villa von Hjalmar Poelzig (Boris Karloff) errichtet worden ist. Seinen Gefangenen verkündet er die Wahrheit über seine Welt: "Even the phone is dead!"

 

Thema 3: Wahnsinn

Der Rhetoriken des Wahnsinns sind in der modernen Kultur nicht wenige. Ausgehend von den psychoanalytischen Pathologien Sigmund Freuds erfolgt eine Popularisierung des Diskurses über Geisteskrankheit und Verrücktsein, die private Gespräche, kulturelle Produkte und institutionelle Regularien umfasst. In der Filmgeschichte lassen sich zwei wesentliche Ikonografien des Irrsinns ausmachen: jene des wahnsinnigen Verbrechers und Wissenschaftlers. Zudem besteht eine Affinität zum Komödien-Genre, in dem bestimmte Verhaltens- und Denkmuster in Frage gestellt werden. Vom mad scientist erzählen so unterschiedliche Filme wie Dr. Strangelove or How I learned to stop worrying and love the bomb (Dr. Strangelove oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben, USA 1961, R: Stanley Kubrick), The Nutty Professor (Der verrückte Professor, USA 1963, R: Jerry Lewis) oder Altered States (Der Höllentrip, USA 1980, R: Ken Russell). Figuren von "Super-Gangstern" werden gern mit dem Attribut des Größenwahnsinns ausgestattet. Neben diesen z.B. für James-Bond-Filme typischen villains ist der abnorme Perverse ein Faszinosum des Kinos. Lust- und Serienmörder wie in Psycho (USA 1960, R: Alfred Hitchcock) oder The Silence of the Lambs (Das Schweigen der Lämmer, USA 1991, R: Jonathan Demme) spielen das triebgesteuerte und deviante Andere einer bürgerlichen Gesellschaft, die hier gemäß Thesen von Katharsis und Kompensation einem gesellschaftlich-moralischen Zwang auf Zeit und in einer fiktiven Welt der gelenkten Vorstellungen entflieht. Technische Medien berühren in ihrer Form und materiellen Installation jedoch selbst psychopathologische Kriterien. Bild- und Tonaufzeichnungen entwickeln ihre je eigene halluzinatorische Qualität. Mit der Tendenz zur Totalisierung des simulierten sinnlichen Erlebnisses werden sie in medienpsychologischen Theorien mit Regression und Sinnestäuschung korreliert. Die filmische Form setzt besondere Differenzen zur sichtbaren Wirklichkeit, die das räumliche und realgeschichtliche Bewusstsein von Menschen konstituiert. U.a. werden die Form- und Größenkonstanz von in der Wirklichkeit wahrgenommenen Gegenständen durch Kameraperspektive, -bewegung und Schnitt außer Kraft gesetzt. Einige der erwähnten Ikonografien der Scheinhaftigkeit und Simulation sind hier anschlussfähig. Und wenn etwa in Tim Burtons Beetlejuice (USA 1988) Geister in Menschengestalt ihre Augen auf der Zunge im aufgerissenen Maul tragen und außerhalb ihrer Wohnung in einer ort- und zeitlosen Wüste voller bizarrer Formen herumstolpern, ist dies vielleicht auch eine metaphorische Erzählung von der Fragmentierung und Verzerrung der Gestalt des Menschen und seiner Umwelt im filmischen Bild. Nachdem in John Carpenters Memoirs of an Invisible Man (Jagd auf einen Unsichtbaren, USA 1992) während eines Vortrags über Magnetismus eine Detonation das Gebäude verwüstet hat, spricht Nick Halloway (Chevy Chase) als nunmehr Unsichtbarer Worte, die einen solchen Eindruck verbalisieren: "Aber als ich aufwachte, war ich in einem Albtraum. Nichts um mich herum war, wie es sein sollte. Ich konnte Teile des Büros sehen, Stücke des Gebäudes, die wie herausgerissen wirkten. Hatte ich Halluzinationen? Alle physikalischen Gesetze schienen auf den Kopf gestellt."

 

Thema 4: Sex

Wie keine andere Kunst zuvor verdanken Fotografie und Kinematografie ihre Wirkungsmacht erotischen Aspekten von Körpern. Über psychologische und soziologische Implikationen der Infiltration des öffentlichen Lebens mit intimen Bildern (v.a. des weiblichen Körpers) wäre viel zu sagen. Über die filmische Ausbeutung weiblicher Erotik ist eigentlich nicht mehr zu sagen als die Frage des Fotografen Dick Avery in Funny Face (Ein süsser Fratz, USA 1957, R: Stanley Donen), der Jo Stockton (Audrey Hepburn) für Mode-Fotos am Bahnhof als literarische Figur inszeniert: "Arme Anna Karenina - wie lange noch?" Von den weiblichen Idolen des frühen Kinos bis zum zugleich ironischen und abusiven Zynismus eines Paul Verhoeven in Showgirls (USA 1995) wiederholt sich eine Machtkonstellation, in der männliche Bildermacher weibliche "Modelle" finden und in beliebige publizitäre und / oder masturbative Verwertungsketten einspeisen. Harun Farocki hat die industrielle Fertigung erotischer Sensation dokumentarisch aufgezeichnet in Ein Bild (D 1983); die minutiöse, arbeitsreiche wie gefühlsarme Realität der Bilder vom nackten, verführerischen Körper wird hier so deutlich wie in keinem anderen Film. Neben der Evolution der Erotik menschlicher Körper in filmischen Bildern von den gemäßigten, "bedeckten" Körpergliedern über den Tabubruch "sexueller Befreiung" in den 1960er Jahren hin zur beliebigen Verfügbarkeit pornografischer Bilder über das Internet lässt sich noch eine weitere Geschichte schreiben. Es ist jene des Freudschen Sexualsymbols, das auf der Gestaltähnlichkeit körperlicher Organe und anderer Gegenstände basiert. Derlei Symbolik lässt sich in der Kunstgeschichte über Jahrhunderte zurückverfolgen, etwa in niederländischen Stillleben des 16. und 17. Jahrhunderts. In Kino- und Fernsehfilmen erscheint sie in unvergleichlicher Häufigkeit in Form von Schusswaffen, Sektflaschen oder als Raute, Öffnung, Naht. In Alfred Hitchcocks Shadow of a Doubt (Im Schatten des Zweifels, USA 1943) ragt ein Bettpfosten als erigierter Penis aus dem Schoß einer liegenden Frau, wie er auch in zahlreichen anderen seiner Werke als geschnitztes Holz, Möhre oder Handschuhfinger prominent im Bild ist - ohne dass jemals nackte Körper erschienen. Filme wie jene Hitchcocks lassen die amerikanische Prüderie in der Altersbeschränkung von Kinofilmen (die ja mit einer merkwürdigen Toleranz für Gewaltdarstellungen einhergeht) als historisches Kuriosum wirken. Penisse und Vaginen ragen und posieren allenthalben im Dekor der gesamten Filmgeschichte, die auch in Millionen privater Wohnzimmer über Bildschirme flimmert, während die abgebildeten Körper einer ängstlichen Lustkontrolle unterworfen werden sollen. Demgegenüber ist der Markt pornografischer "Grundversorgung" auf digitalem Wege längst liberalisiert. "Die spätbürgerliche Pornographie dient in der kapitalistischen Gesellschaft als Einübung in die Nicht-jetzt-Struktur des schizoiden, um seine eigene Zeit betrogenen Lebens." (Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983)

 

Thema 5: Medientheorie

Der französische Poststrukturalismus ist nicht die erste Merkwürdigkeit, die die Philosophiegeschichte zu bieten hat. Für die Medientheorie sind er und sein zeitliches und ideologisches Umfeld jedoch von größter Bedeutung und deshalb der Ausgangspunkt des letzten argumentativen Bogens an dieser Stelle. Jean Baudrillard hat in "Der symbolische Tausch und der Tod" (1976) den Begriff der Simulation in die Diskussion gebracht und in mehreren Texten weiterentwickelt. Wie jene Gilles Deleuze' ruhen Baudrillards Begriffe u.a. auf einem freudo-marxistischen und lacanianischen Fundament. Bei der Lektüre von Texten der beiden Autoren (im Fall von Deleuze der Kinobücher "Das Bewegungs-Bild" und "Das Zeit-Bild", 1983/85) tauchen Widersprüchlichkeiten und Inkohärenzen auf, die hier nicht umfassend im Einzelnen aufgearbeitet werden können. Es sei lediglich die These formuliert, dass es in diesen Texten um argumentative Logiken geht, die nicht widerspruchsfrei in ihren eigenen Begriffen reformuliert werden können. Zentral bleibt bei aller diskursmodischen Entwicklung der Begriff der Ideologie. Baudrillard nennt sie das "erste Simulakrum", eine "Veruntreuung der Realität durch die Zeichen". Die Ideologie steht der materiellen Realität so unvereinbar gegenüber wie in Karl Marx' Begriff vom "Fetischcharakter der Ware" die Ware der Realität ihrer Produktion: "Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt." (Das Kapital, Bd.1, 1867) Ideologie wie Ware sind "phantasmagorische Formen". Auf Filme sind alle drei Kategorien anwendbar. Im "industriellen Zeitalter" ist es die "Produktion", die im Gegensatz zum ersten Simulakrum zum Faktor wird, der Realität konstituiert. Mit dem dritten Simulakrum beschreibt Baudrillard seine Gegenwart: "Die Realität geht im Hyperrealismus unter, in der exakten Verdoppelung des Realen, vorzugsweise auf der Grundlage eines anderen reproduktiven Mediums - Werbung, Photo etc. - und von Medium zu Medium verflüchtigt sich das Reale, es wird zur Allegorie des Todes, aber noch in seiner Zerstörung bestätigt und überhöht es sich: es wird zum Realen schlechthin, Fetischismus des verlorenen Objekts - nicht mehr Objekt der Repräsentation, sondern ekstatische Verleugnung und rituelle Austreibung seiner selbst: hyperreal." Mit dieser Hyperrealität, die der Autor auch als "Simulation" bezeichnet, ist eine zirkuläre Definition gegeben, die definitorisch nicht mehr distanziert werden kann: Wenn die "Verdoppelung des Realen" in der Imitation "zum Realen schlechthin" wird, entfällt die ontologische Differenz zwischen Realität und Repräsentation. Eine psychische Situation, in der dies geschähe, wäre ein beklagenswerter Zustand: Es wäre der Verlust der Urteilskraft und des Realitätssinns. Mit der Aufgabe der Differenz zwischen Symbolischem und Realem leistet die Definition des dritten Simulakrum nichts anderes als das, was jene des ersten der "Ideologie" vorwirft: "Realität" durch "Zeichen" zu veruntreuen. Wer das dritte Simulakrum in Baudrillards Text nicht als logisches Fake liest, hat das erste nicht verstanden. Wo immer von Baudrillards "Simulation" die Rede ist, ohne auf diesen Umstand hinzuweisen, herrscht Unaufgeklärtheit über das, was Ideologie ist. Einem solchen logischen und strategischen Projekt tragen auch Autoren wie Deleuze und in jüngerer Zeit etwa Slavoj Žižek Rechnung. Zunächst ein Beispiel aus Deleuze' "Das Zeit-Bild". Hier schreibt er über Alain Resnais' Providence (1977), der Film gehöre seinem Begriff des "Kinos des Gehirns" an, zu dem er auch Filme von Kubrick zählt. "[…] wenn nun das Kino der Körper vor allem auf einen Aspekt des unmittelbaren Zeit-Bildes verwies, nämlich auf die zeitliche Serie nach der Ordnung des Vorher und Nachher, dann entfaltet das Kino des Gehirns den anderen Aspekt, also die Ordnung der Zeit nach der Koexistenz ihrer eigenen Verhältnisse." In Resnais' Film konkretisiere sich dies in einer verwirrenden zeitlichen Struktur: "In Providence ist der körperliche Zustand des alten trunksüchtigen Romanautors nicht minder explosiv als der kosmische Zustand mit Blitz und Donner und der gesellschaftliche Zustand mit Maschinengewehr und Gewehrsalven. Diese Membran, die bewirkt, daß sich das Außen im Innen vergegenwärtigt und umgekehrt, heißt Gedächtnis." Deleuze beschreibt hier auf der inhaltlichen Ebene des Films einen verwirrten Geisteszustand der Hauptfigur, der sich auch in der erzählerischen Form und filmischen Montage zeige. Die Unterscheidung von Innen und Außen ist in der psychoanalytischen Theorie mit der frühkindlichen narzisstischen Entwicklungsphase verbunden. Deleuze behauptet nun, dass die Undifferenziertheit von Innen und Außen, die in dieser primären Identifikation des Kleinkinds vorherrscht, eine Eigenschaft des "Gedächtnisses" und hier zu filmischer Form geworden sei. Damit sind also zwei kategoriale Unmöglichkeiten verbunden: eine metaphorische Übertragung der Primäridentifikation von einem psychischen Vorgang des frühkindlichen Erlebens auf Vorgänge im Gedächtnis von Erwachsenen; und eine selbst zweifelhafte biologistische Übertragung dieser kaum haltbaren Definition psychischer Vorgänge auf eine ästhetische Form. Stojan Pelko formuliert dementsprechend, wenn auch zurückhaltend in Bezug auf dieses Kapitel: "Darum wagen wir zu sagen, dass Deleuze, im Gegensatz zu der traditionellen Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Identifizierung, gerade an der Identität der beiden Identifizierungen interessiert ist […]." Das hieße, die ontologischen und psychologischen Differenzen zwischen Sein und Schein, Realitätssinn und Halluzination - zunächst auf terminologischer Ebene - aufzugeben. Pelkos Aufsatz "Punctum caecum oder Über Einsicht und Blindheit" ist in der Anthologie "Was Sie schon immer über Lacan wissen wollten und Hitchcock nicht zu fragen wagten" (2002) erschienen, die von ihm und anderen, darunter Žižek, herausgegeben worden ist. In Žižeks Beitrag "Hitchcocks Universum" erfolgt ein argumentativer Twist, der eine Nonsens-Logik à la Deleuze mit einem Marxschen Theorem des Warentauschs verbindet. Der Autor parallelisiert Handlungsverläufe bei Hitchcock, die die Figuren einem "Dieu obscur" ausliefern, der ihr Schicksal ohne ihre Einflussmöglichkeit determiniert und als grausamer Zufall wirkt, mit dem "'Schicksal' einer Ware, ihrem Tauschkreislauf, [der] als radikal äußerlich gegenüber ihren positiven, inhärenten Eigenschaften (ihrem 'Gebrauchswert') erfahren wird." Die phantasmagorische Form der Ware wird hier also dem kafkaesken Schicksal von Filmfiguren gleichgesetzt. In beiden Fällen sorgt ein unsichtbares Programm im Hintergrund dafür, was dem Sichtbaren (Ware / Filmfigur) geschieht. Hierzu macht der Autor dann noch eine Anmerkung, die die gesamte logische Operation wieder in Zweifel zieht: "Doch die Verwendung solcher abstrakter Homologien darf nicht überschätzt werden - im Grunde fungieren sie als Vorwand für das Versäumnis einer Elaboration des konkreten Mechanismus der Vermittlung." Damit ist ausgesagt, dass die Argumentation selbst warenförmig gewesen ist: die "abstrakte Homologie" Ware / Filmfigur wird als "Vorwand" benannt, und zwar dafür, das der "konkrete Mechanismus der Vermittlung" nicht ausgearbeitet worden sei. In den Texten von Deleuze und Žižek sind also "abstrakte Homologien" am Werk, die logisch nicht funktionieren. Ihr Funktionieren basiert auf einer fehlerhaften Struktur, die einzig im Bereich der literarisch-künstlerischen Metapher ihre logische Berechtigung hat: als z.T. Ungenauigkeiten akzeptierende, über spielerisch-assoziative Verknüpfung getrennter Bereiche von Erscheinung, Bezeichnung und Bedeutung operierende Form von Beschreibung und mehrdeutiger Benennung. Auch bei Baudrillard war eine solche alogische Homologie gegeben: Um zu zeigen, wie ein ideologischer Irrtum gemäß dem ersten Simulakrum funktioniert, legt die Definition des dritten diese Irrtumsstruktur als ihr eigenes Wesen fest. Überall da, wo der Simulationsbegriff unkritisch und ohne eine weitere logische Paradoxierung - wie in manchen theoretischen Kommentaren geschehen - übernommen wird, zeigt sich die Warenförmigkeit der jeweiligen Argumentation oder Aussage. Die Zeichen- und Filmtheorien von Baudrillard, Deleuze und Žižek produzieren mit semiotischen und psychoanalytischen Begriffen Irrtümer, die logische Strukturen warenförmig machen, bis jener Zustand der Logik erreicht, ist, die Marx im Fall der Ware die "verrückte Form" nennt.

 

Film ab

Eine homologia ist im griechischen Wortsinn eine Übereinstimmung. Filmische Repräsentationen sind zunächst immer ikonisch: Sie beruhen auf Ähnlichkeit von Signifikant und realem Referenten. Žižeks Begriff vom "Versäumnis einer Elaboration des konkreten Mechanismus der Vermittlung" lässt sich insofern auf alle hier besprochenen Themen anwenden: Kritik am Schein zielt immer auf die ikonische Zeichenfunktion und die ontologische Differenz von Realität und zeichenhafter Repräsentation; das Tote der Bilder ist die Interferenz von Formen des Lebendigen und ihren - selbst unlebendigen - Repräsentationen; das Verrückte der filmischen Form liegt u.a. in den beiden ersten Kategorien und in den spezifischen Deformationen, die sie der sichtbaren Wirklichkeit zumutet; die Erotik der Bilder beruht wiederum auf ikonischer Zeichenfunktion, die eine illusionistische Verwechslung von Bildern und Realität voraussetzt - Sloterdijks "Nicht-jetzt-Struktur". Die "Elaboration des konkreten Mechanismus der Vermittlung" würde jeweils darin bestehen, mit dem gleichen Nachdruck in die reflexive Nachbereitung filmischer Produkte zu investieren. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt scheint dies eine naive Utopie. Ökonomische Machthaber beklagen ebenso Bildungsdefizite nachkommender Generationen, wie sie deren Lebenswelt mit technischen Installationen ausstatten, die auf bloßen Zeichenkonsum und kostspielige Nachrüstung von Hardware angelegt sind. Universitäre Disziplinen der Geisteswissenschaften, die sich Inhalten neuer und neuester Medien widmen, stehen unter permanentem Rechtfertigungszwang und haben keine unmittelbaren ökonomischen Effekte vorzuweisen, wie dies für Natur- und Ingenieurswissenschaften der Fall ist. Auch hier interessiert kulturpolitisch im Zweifel immer eher die Bildröhre, als das, was sie zeigt und was sich ins Denken immer jüngerer Konsumenten einschreibt. Zwar besteht prinzipiell Wahlfreiheit im geistigen und konsumptiven Leben der Bürger, aber zugleich eine ökonomische Logik, die in den Entscheidungen über notwendige wissenschaftliche Korrektive und pädagogische Initiativen schnelle Rückkoppelungen einfordert, die nicht zu erwarten sind. Die hier skizzierten Uneigentlichkeiten der filmischen Form finden sich bei Deleuze wiederum nicht als abstrakte Begriffe, sondern als Charakterisierung des erwähnten Films von Resnais: "[...] das eine Mal kommen wir allenfalls zu einer unzusammenhängenden Vielzahl nebeneinander gestellter Entlehnungen, das andere Mal bilden wir allenfalls Allgemeinheiten, die nichts als Ähnlichkeiten festhalten." Die Fragmentierung der sichtbaren Welt im filmischen Kader und im Syntagma der Montage ist tendenziell immer "unzusammenhängende Vielzahl" - unzusammenhängend mindestens durch den Schnitt, der kein Äquivalent in der natürlichen Wahrnehmung hat. Die ikonische Zeichenfunktion ist per se dazu verurteilt, "nichts als Ähnlichkeiten" zu registrieren. Diese Einschätzung ergibt sich aus einer "Taxonomie" der filmischen Repräsentation, die Deleuze' Kino-Bücher wörtlich zu sein vorgeben. In ihren Begriffen ist seine Theorie jedoch eine terminologische Clownerie, die im Wissen um die taxonomischen Grundstrukturen und ontologischen wie semiotischen Problematiken des Films eine Mimesis des Kinos als verrückter Form betreibt.

 

Fazit

Was fängt man an mit der paradoxen Rhetorik der Repräsentation im Gefolge Baudrillards? Was mit dem Erbe der Filmgeschichte, die sich in motivischen, narrativen und logischen Endlos-loops verliert? Was kommen könnte, ist ein neues Pathos der menschlichen Anwesenheit wider die Seinsvergessenheit räumlich und zeitlich versetzter Wiedergabe von Aufzeichnungen. Für die Inhalte von Spielfilmen und die Begriffsgeschichte der Medientheorie gilt einstweilen vielleicht Ähnliches wie das, was 1928 in Henrik Galeens Alraune der letzte Zwischentitel besagt. Er betrauert den Wissenschaftler Jakob ten Brinken (Paul Wegener), der mit Alraune (Brigitte Helm) einen künstlichen Menschen erschaffen hat, der sich ihm schließlich entzieht: "Und Alraune ging hinaus in ein neues Leben, zusammen mit ihm, den sie liebte. - Aber der sich gegen die Natur vergangen hatte, verfiel der Hölle der Einsamkeit und des Wahnsinns."

 

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