Vom Schwebezustand der Leitthemen Euro-Krise und Demografie
An der Unwirklichkeit überindividueller Realitäten ändert die Dosis auf Dauer wenig. Man kann sich jeden Tag Stunden der Wirklichkeitsabspiegelung von Zeitung, Radio und TV aussetzen. Oder man kann es bleiben lassen und alle paar Tage einmal wieder ins Gequake eintauchen. Hat man einmal ein wenig Grundsätzliches zu laufenden Debatten und Entwicklungen erfasst, bleibt die Erkenntnis relativ gleich.
Konkret heißt das für ein paar der gegenwärtigen Leitthemen: Eine allem Anschein nach von hintergründigen Ideengebern gelenkte Community von Politikern der ersten Reihe möchte das europäische Projekt in der einmal erreichten Form erhalten und verstärken, wie es auch Jürgen Habermas in der Wiedergabe von Thomas Assheuer („Die Zeit“, 17.05.2013) fordert:
Habermas will das Projekt Europa fortführen und fordert seine “Vertiefung”, weil ohne eine starke Gemeinschaft die kleinen Boote der nationalen Demokratie im Meer der Globalisierung untergehen müssten.
Dies geschieht jedoch um einen Preis, von dem heute niemand so genau zu wissen scheint, ob er den politischen Architekten Europas schon im Vorhinein klar gewesen ist. Unabhängig davon ergeben sich daraus jedoch nur zwei Möglichkeiten: Entweder, sie wussten nicht, was sie taten, oder sie gingen nahezu unabsehbare finanzielle Risiken ein. (Ob diese wiederum einen kulturellen und/oder sicherheitspolitischen Gewinn aufwiegen, bleibt erst einmal dahingestellt. Vielleicht provozieren sie auch neue Kriege.)
Wer sich nicht dem Schweigen der Systemmedien über anstehende Gefahren opfert, sondern andere Informationsquellen wie die nicht eben anarchistischen „Deutschen Mittelstands Nachrichten“ (26.05.2013) zu Rate zieht, sieht kein besonders gutes Wetter aufziehen:
Noch Ende Juni 2012 während einer Sitzung der FDP-Bundestagsfraktion schloss Angela Merkel Eurobonds kategorisch aus. Nach der Bundestagswahl könnte sich Merkels Position ändern. Eine weitreichende, gemeinsame Schuldenhaftung gibt es bereits in Form des ESM, EFSF und EFSM. Selbst die angestrebte Bankenunion entspricht bereits indirekt den Eurobonds.
[…]Unter der Fiskalunion wird jeweils unterschiedliches verstanden, je nach Beliebigkeit und Wunschdenken. Darunter beispielsweise die Einführung von Eurobonds oder eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung in der EU bzw. in den Euroländern. Dieses Vorhaben stand bereits auf der Tagesordnung während eines Meetings zwischen dem französischen und dem deutschen Finanzminister im Februar dieses Jahres. Es würde den Steuerzahler jährlich etwa 40 Milliarden Euro kosten.
Ob Finanzminister Wolfgang Schäuble flankierend dazu eine starke Reduktion von Neuverschuldung „plant“ („Manager Magazin“, 10.03.2013), wird nach Eintreten solcher Aussichten wohl nicht mehr das Entscheidende sein. Und um solche finanzpolitischen Kinkerlitzchen möchten sich Philosophie-Professoren wie Habermas meist nur ungern kümmern; auch gibt ihre Wohngegend selten eine Sozialstudie her. Es wirkt alles immer noch recht gediegen.
Das Textdesign eines Leitmediums wie der „Zeit“ macht die Schlagzeilen einer Website wie den „Deutschen Mittelstands Nachrichten“ zur letzten Zeile eines Artikels („Im Zuge der Krise haben die Arbeitslosenzahlen in einigen EU-Mitgliedstaaten Höchststände erreicht.“) , während die Überschrift noch etwas wirtschaftswunderlicher lautet: „Merkel und Hollande wollen stärkeren Euro-Gruppen-Chef“ (30.05.2013).
Neben solchen Aktualitäten des Euro-Va-Banque-Spiels weichen andere noch wesentlichere Themen (hier ausführlicher debattiert im „Krisen-Abriss“) über längere Zeit in den Hintergrund. Arbeitsministerin Ursula Gertrud von der Leyen (CDU) hatte unlängst ihre Grinsemuskeln gut trainiert, als sie an der Seite ihrer spanischen Kollegin Fátima Báñez über den Abzug qualifizierter junger Arbeitsloser aus dem südlichen EU-Land konferierte. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) hält das für „kontraproduktiv“ und verdeutlicht im „Deutschlandradio“ (28.05.2013) Verhältnismäßigkeiten in der Behandlung des Problems:
700 Milliarden sind Garantien für das Bankensicherungssystem, sechs Milliarden für die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, das ist weniger als ein Prozent.
Äh, gut, wenn das wenigstens mal angesprochen wird. Und naja, der deutsche Wähler wird sich darüber vermutlich jene Wahrheit aussuchen, die er schon zuvor zu kennen glaubte.
Junge qualifizierte Arbeitnehmer benötigt man in Deutschland, aber auch in allen anderen Industrienationen, bekanntlich aufgrund der desaströsen demografischen Entwicklung. Wollte man letzterer entgegenwirken, müsste man vielleicht auch den hedonistischen und onanistischen Grundlagen der Gegenwartskultur entgegenwirken. (Das mögen aber Reiseunternehmer und Produzenten von Luxusgütern nicht so sehr.) Dazu ist ebenso ein öffentliches Totalversagen von Journalisten, Politikern und Kirchenleuten zu verzeichnen. (Verstehen sie sich so gut mit Porno-Produzenten? Liegt ihnen die Bevölkerungsreduktion bei vorübergehender Mehrheitsvergreisung so sehr am Herzen? Es bleibt vorerst ihr sahniges Geheimnis.) Stattdessen hat man Johanna Wanka (CDU, geb. am 1. April) als Forschungsministerin besetzt, die das Hauen und Stechen um die wenigen verbleibenden leistungsfähigen Jüngeren in jene verbale Propaganda übersetzen lässt, die vielleicht einmal als Goebbels-Ton der Zukunft gelten wird. Am 21.05.2013 wartet die Website ihres Ministerums mit der Überschrift „Das Wissenschaftsjahr 2013 – Die demografische Chance“ auf und verkündet:
Hundertjährige, die in Wohngemeinschaften leben. Pensionierte Manager, die ihr Wissen an Jüngere weitergeben. Zuwanderer, die große Konzerne lenken und Jobs schaffen: Unser Leben wird sich durch den demografischen Wandel in den kommenden Jahren grundlegend verändern.
Den Wirklichkeiten, die dem gegenüberstehen, kann man jenseits der Ministerien leicht begegnen.
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