Ein Sturz bei „Wetten, dass..?“

Das Ereignis entspricht der Unterzeile von Blog und Buch „Glotze fatal“, „Wie TV-Unterhaltung Leben zerstört“, wie kein anderes seit Beginn des Projekts: Samuel Koch, Kandidat der ZDF-Show „Wetten, dass..?“ am 04.12.2010, befindet sich zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Textes im künstlichen Koma und in einem kritischen Gesundheitszustand. Der 23jährige Student der Schauspielschule Hannover, u. a. als „Stuntman“ tätig, stürzte auf Sprungfedern („Poweriser“) beim dritten von fünf geplanten Sprüngen mit Salto über frontal auf ihn zufahrende Autos unterschiedlicher Größe – in diesem Fall saß am Steuer eines Audis sein Vater.

Auf „YouTube“ sind die entscheidenden Szenen nachträglich anzusehen:

http://www.youtube.com/watch?v=0RMYVLJUnJo http://www.youtube.com/watch?v=Q83ss-BiGuc

Hier können wir nachverfolgen, dass das Risikobewusstsein schon Teil der Anmoderation ist. Noch auf der Couch mit den Wettpaten Sarah Nuru (Siegerin der vierten Staffel von „Germany’s Next Topmodel“, Pro7) und Komiker Otto Waalkes, ihrem aktuellen Filmpartner, sitzend, verkündet Moderator Thomas Gottschalk: „Ich habe vieles gesehen in meiner beruflichen Laufbahn. So gefürchtet habe ich mich noch nie, dass dem jungen Mann was passiert, und ich kann nur sagen: Ich hoffe, alles geht gut.“ Und, schon am Rande der Laufstrecke angelangt: „Halten Sie die Augen offen, Sie werden ihnen nicht trauen.“

Unmittelbar vor Beginn der Darbietung mahnt Gottschalk dann noch den Kandidaten: „… also, bevor du am Scheibenwischer klebst, brichst du ab!“ – Koch: „Kommt überhaupt nicht in Frage.“ Und Co-Moderatorin Michelle Hunziker bekennt kurz darauf: „Thomas – ich will’s nicht sehn.“ – Gottschalk: „Ich würd’s auch nicht machen.“

Kochs Vater Christoph startet als vierter Fahrer, folgend auf einen Fehlversuch des Sohnes, mit dem nächstgrößeren Fahrzeug – nach anderen Herstellern nun eine Audi-Limousine. (An anderer Stelle wies ich schon einmal auf Peer Schaders Recherchen zum Product Placement des Autoherstellers in „Wetten, dass..?“ hin.) Gottschalk dazu: „Was für ein Gefühl muss das für diesen Vater sein, wenn ihm sein eigener Sohn vor’s Auto läuft?“ So wird TV-Unterhaltung, was Teil einer Desensibilisierung gegenüber der mechanischen Gefahr für menschliche Körper genannt werden kann (hier schon am Serien-Format „A-Team“ besprochen.)

Unmittelbar vor seinen Anläufen bezeichnet Kandidat Koch die Sprungfedern an seinen Beinen, deren Anwendung ihm dem televisuellen Anschein nach Schäden an Halswirbeln und Rückenmark zufügen, als „Sport‑, Spiel‑ und Spaßgeräte“. Und Hunziker erwähnt betont den Markennamen der Utensilien: „Poweriser“.

Durch das tragische Ereignis erhalten die Szenen der Show, die auch sonst – zumal beim Inhalt einer solchen Wette, einer inszenierten Beinahe-Unfallsituation – befremden können, schiere Irrwitzigkeit. Mehrfach wird Marion Koch, die Mutter des Artisten, nach ihrer namentlichen Erwähnung durch Hunziker in halbnaher Aufnahme gezeigt. Mit verklärtem und verblüfftem Gesichtsausdruck oder auch einer Mischung aus ekstatischer Freude und Angst wird der dramaturgische Verlauf der Wette aufgebaut.

Im Wissen des weiteren Hergangs wird der Veranstaltungsort zu einer gefährlichen Arena, in der unter den Blicken vermeintlich harmloser Zuschauer ein auf sportliche Höchstleistungen fixiertes Opfer des eigenen Ehrgeizes und des öffentlichen Interesses einem Sturz entgegenhechtet, dessen Abschluss in einer Halbtotalen und großer Schnelligkeit undeutlich bleibt. (Die Web-Videos geben mit ihrer Pausen-Funktion Gelegenheit zur Betrachtung des Moments, den die Wiederholungen in Nachrichtensendungen nachträglich pietätvoll ausklammern.) Anschließend folgen die Fassungslosigkeit der Moderatoren und fast statische Bilder der Zuschauerränge, in denen sich der Schock ausbreitet.

Die letzten Sekunden vor dem Unglück fängt die Kamera z. T. aus der subjektiven Sicht des Vaters im Audi ein – hierzu wie zu anderen angesprochenen visuellen Aspekten diese Screenshots aus der Sendung:

Screenshots: ZDF, 04.12.2010

Das Notfall-Programm der „Wetten, dass..?“-Redaktion heißt nach dem Aufprall: „Stars & Musik“. (Auf diese Bezeichnung folgt, wie im obigen Screenshot zu sehen, das Wort „aus“, dann das Logo der Hauptsendung.) Während der schwerverletzt am Boden liegende Kandidat notärztlich behandelt wird, moderiert Gottschalk vorläufig ab, und zum schmissigen Musikjingle der Sendung wird die Ersatzshow eingeleitet. Der erste Song erklingt. Es ist – als Bestandteil einer früheren Ausgabe der Wettsendung – ein Auftritt desjenigen, der an diesem Samstagabend auf RTL mit „Das Supertalent“ zur selben Zeit fast ebenso quotenmächtig sendet: Dieter Bohlen. Im Duo „Modern Talking“ gibt er den Song „Win the Race“ zum Besten.

Auch das ZDF-Programm des folgenden Sonntags bleibt beim Thema: 15.40-17.00 h – „Natürlich die Autofahrer“ (D 1959, R: Erich Engels).

Daniel Hermsdorf

Verleger, Autor, Journalist bei filmdenken.de - Medienkritik, Verschwörungstheorie und Physiognomik

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