Filmbild und Körperwelt
Anthropomorphismus in Naturphilosophie,
Ästhetik und Medientheorie der Moderne
Königshausen & Neumann, 894 Seiten, 194 Abb.
Broschur mit Fadenheftung, 98 €
ISBN: 978-3-8260-4462-5
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Seit Béla Balázs 1924 in „Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films“ das Gesicht als ästhetisches Phänomen thematisierte, ist in der Filmtheorie von einer „Physiognomie der Dinge“ die Rede. Neben einer Anthropomorphisierung der Ganzform von Gegenständen betrifft diese auch die Grundmuster, nach denen sichtbare Formen in der Bildfläche organisiert sind.
Was man mit wenigen Worten beschreiben kann, darf ein Kardinalphänomen des Kinos genannt werden, mit dem ein elementares formales Prinzip zahlloser, global distribuierter Filmprodukte umrissen ist. So ubiquitär diese Formcharakteristik in filmischen Inszenierungen, so schmal fällt bisher eine philologische Aufarbeitung jener narrativen und metaphorischen Dimensionen aus, die hieraus in Drehbuch, mise en scène und Schauspiel auf spezifisch filmische Weise entstehen. Ihre Kontextualisierung erlaubt die weit ausgreifende Rekonstruktion und Diskussion einer Reihe von Diskursen, die sich seit der frühen Moderne in Naturphilosophie, Biologie, Ästhetik, Psychologie, Kultur- und schließlich Filmtheorie entwickeln. Was in ihnen sagbar geworden ist, findet ein Echo, schlummert und kehrt in verwandelter Form wieder, erzeugt Gegenreaktionen und bildet Varianten aus. So entsteht in dieser Arbeit das Tableau einer Epoche vom Ende des 18. bis Mitte des 20. Jahrhunderts, in der ästhetische Repräsentation, Interpretation von Natur und Kunst, Gestaltung und technische Aufzeichnung in interdiskursiver Dynamik aufeinander wirken.
Klassische und unbekannte Texte aus den Traditionen mehrerer Fachdisziplinen offenbaren in dieser diskursanalytischen Rekonstruktion ihre Fundierung auf Begriffen des Körperlichen – seiner biologischen Entstehung, in Wahrnehmung und Selbstbildern menschlicher Individuen, in Spekulationen über Schöpfung und Entäußerung, Urbilder, Übertragungen und Utopien des Gegenübers und des Sozialen. Von Begriffen des Organischen in der idealistischen Philosophie, Physiognomiken und Evolutionstheorien sowie Anfängen des Gestaltdenkens bei Wilhelm Wundt führt diese Trajektorie über Vitalismen in Philosophie und Biologie, die gnostische Kunsttheorie eines Rudolf Steiner, spiritistische Beschwörungen, projektive Ästhetiken des Surrealismus und die Ausdruckstheorie von Ludwig Klages hin zu expressionistischer Ästhetik und ihren Manifestationen in der Filmtheorie – neben Balázs etwa Siegfried Kracauer und Lotte H. Eisner. Vielzitierte wie Carus, Tylor, Freud, Haeckel, Worringer, Scheler, Simmel, Spengler, Lukács, Cassirer oder Prinzhorn kommen ebenso zu Wort wie Vergessene, darunter Albert Schäffle, Alfred Biese, Ellen Russell Emerson, Adolf Bastian, Heinrich Stadelmann, Johannes Volkelt, Ernst Mössel, Heinz Werner, Hermann Friedmann, Hugo Kükelhaus oder Kurt Breysig. Auch der verfemte Teil der Körpertheorie wird vom Autor etwa mit den nationalsozialistischen Rassentheorikern Hans F. K. Günther und Paul Schultze-Naumburg diskutiert – hier und anderswo im Text mit Detailbeobachtungen, die in seltener Präzision die Funktionsweise komplizierter und bisweilen widersprüchlicher Argumentationen problematisieren. Spielfilme aus ‚Kunst‘ und ‚Kommerz‘, von John Ford, Fritz Lang, Jacques Feyder, Alfred Hitchcock, Sergej M. Eisenstein, Walt Disney, Luis Buñuel, Leni Riefenstahl, René Clair, Robert Siodmak, Maya Deren, John Gilling oder Laslo Benedek offenbaren auf diesem diskurshistorischen Resonanzboden ihre genuin filmischen, selbstreferenziellen und subtilen Aussagestrukturen. So ist Hermsdorfs Buch auch ein Beitrag mit zahlreichen Neubetrachtungen, Korrekturen und Revisionen, Kommentaren der Sekundärliteratur und immer wieder der überraschenden Verbindung heterogener Textkorpora – interdisziplinär, intertextuell, intermedial.
Fluchtpunkt jedes Kapitels sind beispielhafte Filminterpretationen, die auf zahlreichen Ebenen filmischer Texte Spurenelemente nachweisen, die älteren und zeitgenössischen Denktraditionen angehören und dabei auf Leinwänden der Lichtspieltheater, später allgegenwärtigen Bildschirmen eine veränderte visuelle Phänomenalität mitbewirken.
Auf diese Weise werden Bedeutungsebenen bewegter Bilder entschlüsselt, die bisher in Sekundärtexten wenig Beachtung fanden. Sie entfalten die vollkommen neue Version einer öffentlichen Kommunikation, die man „Kino“ nennt.
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