Ein Essay zu Fragen des Urheberrechts in der digitalen Ära
Das FilmFundBüro beruft sich in seiner Arbeit auf die Grundlagen des deutschen Urheberrechts.
Teil des auf dieser Website angebotenen Filmprogramms sind ausschließlich Produkte, die nach den gegebenen rechtlichen Bestimmungen als künstlerische, wissenschaftliche und/oder journalistische Arbeiten für die von ihnen verwendeten vorgefundenen Materialien aus Filmgeschichte, öffentlicher Bildkultur und Literatur das Zitatrecht beanspruchen.
Maßgeblich sind hier v.a. § 51 UrhG (wissenschaftliches Zitatrecht) sowie dessen Anwendung auf Filmwerke durch den Bundesgerichtshof (BGH, Urt. v. 04.12.1986 – I ZR 189/84 [Filmzitat] = GRUR 1987, 363).
Grundlegend dafür ist die Auffassung von sog. „eigenständigen Werken“. Insbesondere jene Industrien, die Konsumgüter erzeugen, verfügen über beträchtliche Mittel, ihr Urheberrecht durchzusetzen. Dies gilt nicht im selben Maße für andere Zeichenproduzenten wie Buchautoren oder Journalisten.
Die Tradition des Found-Footage-Films stellt seit jeher die Frage nach der Bedeutung solcher Urheberrechte im Bereich der Kinokultur. Und auch andere Arbeiten (Filmbücher und filmische Dokumentationen zur Filmgeschichte) werden bisher überwiegend mit einem erhöhten Aufwand der Einholung und Vergütung von Urheberrechten hergestellt – wenn sie auf Zitate (Standbilder oder Filmszenen, in Büchern gedruckt, im Fernsehen gesendet oder auf anderen Datenträgern gespeichert) nicht gänzlich verzichten, um Konflikte mit dem Urheberrecht zu vermeiden.
Das FilmFundBüro plädiert in diesem Zusammenhang für einen generellen Wertewandel, der sich jedoch schon jetzt auf die gegebenen rechtlichen Bestimmungen berufen kann. Folgende Punkte sind für diese Argumentation wesentlich:
1) Zitate sind direkt oder indirekt Bestandteil jeder menschlichen Kommunikation. Philosophisch ist die Grenze der Übernahme eines Gedankens hin zu einem Plagiat schwer zu definieren. Für eine rechtliche Bestimmung muss letztlich die Verhältnismäßigkeit in Anspruch genommen werden. Eine Entdeckung, eine originelle Schöpfung kann nicht von jemand anderem ökonomisch ausgebeutet werden, wenn er selbst nicht die Leistung zur Erzeugung dieser Schöpfung erbracht hat. Dennoch: Jede kulturelle Tradition enthält z. B. Schemata oder Formeln, Ideen und Motive, Themen und Symbole, die variiert und nicht urheberrechtlich geschützt werden – deren Definition nicht so exakt sein kann wie jene technischer Patente. Zitatrecht in der post histoire hat mehr denn je diese Kriterien abzuwägen: notwendige Abwandlung von Vorhandenem und dessen höhere Relevanz für Neues bei gesteigerter Archivierbarkeit; nachweisbar Originäres; Diskursivierbarkeit sekundärer Quellen.
2) Für unsere gegenwärtige Gesellschaft ist kennzeichnend, dass eine Vielzahl von Kommunikationen über technische Medien vermittelt, z. T. aufgezeichnet und gespeichert werden. Dies ändert die Parameter für den ersten genannten Punkt. Maßgeblich für jede rechtliche Handhabung muss nun sein, inwieweit sich a) technisch ein Urheberrecht durch die Möglichkeiten von technischer Reproduktion verändert und sich b) diskursethisch definieren lässt, inwieweit der Umgang mit Medieninhalten ein Menschenrecht genannt werden kann. So sehr etwa die Filmindustrie auf der Durchsetzung ihrer Urheberrechte (Vertrieb und Verkauf von im Verhältnis zur Dauer ihrer Konsumption verhältnismäßig teurer Produkte) insistiert, so sehr betrifft ihre Tätigkeit – in stärkerem Maße als etwa jene der Produzenten der tendenziell stets und mitunter stark minoritären Literatur – auch all jene, die mit gutem persönlichen Recht eigentlich nichts von diesen Produkten wissen wollen – ihnen aber in privaten und öffentlichen Räumen, in Gesprächen und anderen medial vermittelten Botschaften permanent begegnen. Ein Mensch, der in dieser Welt lebt, ist immer Konsument dieser medialen Produkte. Und ebenso, wie es ein Urheberrecht gibt, muss es auch Konsumentenrechte geben. Diese Rechte von Verbrauchern haben andere Grundlagen als z. B. im Fall von Lebensmitteln oder technischen Gebrauchsgütern. Texte können nacherzählt werden, Bilder werden erinnert, Musik hört man auch durch Wände. Mit der technischen Aufzeichnung und Reproduktion, der vermarktungstechnischen Verbreitung von Medienprodukten und dem generellen kulturellen Stellenwert, der diesen in unserer Gesellschaft eingeräumt wird, ändert sich auch die kulturelle Notwendigkeit, direkten und indirekten Verbrauchern solcher auf technischem Wege reproduzierter und verbreiteter Medieninhalte das Recht zu geben, sich zu diesen Inhalten zu verhalten.
3) Dieses Verhalten ist Gegenstand aller denkbarer rechtlicher Streitigkeiten um die Verwendung urheberrechtlich geschützten Materials. Für die Ontologie der zitierbaren Medieninhalte sollte zunächst festgehalten werden, dass der Charakter von Worten, Bildern und Tönen irreduzibel ist. So, wie man Worte zitieren kann (und nach wissenschaftlichen Definitionen mit Angabe der Quelle sogar muss), sind gleichberechtigt auch Bilder, Töne und filmische Produkte zu behandeln. Dies ist keine Bittstellung, sondern ein eminentes Recht jeder gedanklichen Auseinandersetzung. Und mehr noch: Es dürfte ein Grund für eine Vielzahl von unerledigten Aufgaben und Reformstaus unserer Gesellschaft sein, dass die dafür offensichtlich fehlenden Kommunikationen in den gegebenen Verhältnissen nicht ermöglicht worden sind. Konkret: Die Auseinandersetzung z. B.mit den Inhalten der Filmgeschichte, der sozioökonomischen Macht der Medienindustrie und ihrer historischen und soziopolitischen Konsequenzen kann – mit den in unserer Gesellschaft formulierten Ansprüchen von freiheitlichem und differenziertem Meinungsaustausch konform gehend – nur geschehen, wenn klar wird, worum es geht. Keine Bleiwüste einer der vielen ungelesenen wissenschaftlichen Arbeiten in Universitätsbibliotheken kann vermitteln, wie die Bilder und Töne von Werken der Filmgeschichte wirken. Für eine wissenschaftliche oder fachjournalistische Debatte muss deshalb dasselbe Recht auf das Zitat von Bildern und Tönen bestehen, wie es seit jeher für gedruckte Worte besteht. „Belegfunktion“ muss hier heißen, dass die sprachliche Beschreibung etwa einzelner Filmszenen oder -bilder zunächst von LeserInnen durchaus angezweifelt werden kann. Und darüber hinaus geht es im Fall von audiovisuellen Erzeugnissen um eine Fülle sinnlicher Qualitäten (Bewegungen, Farbwirkungen, klanglichen Nuancen u. a.), die durch ihre sprachliche Benennung noch nicht als Beweis angesehen werden können. (Als Quellenangabe muss prinzipiell Originaltitel des Werks, Entstehungsland und -jahr sowie Regie, nach Möglichkeit und Angemessenheit auch hauptverantwortlicher Produzenten bzw. Distributor ausreichen, da durch variierende Video- und DVD-Editionen oder individuelle Aufzeichnungen aus TV-Programmen keine exakte und übereinstimmende Angabe von Timecodes z. B. für Szenen oder Einzelbilder oder zu dem jeweils – an einem geografischen Ort / zu einem bestimmten Zeitpunkt – zuständigen Rechteinhaber möglich ist.) Ebenso, wie die Inhalte von Massenmedien auf die erwähnten Weisen ihre Präsenz im Bewusstsein von Konsumenten und ihren Zeitgenossen beanspruchen, hat die diskursive Auseinandersetzung mit ihnen das Recht auf Evidenzerzeugung.
4) Dieses zuletzt genannte Recht besteht in den angedeuteten Weisen für Sachtexte und entsprechende Formen der Produktion von Audioerzeugnissen oder Filmproduktionen wie auch für „künstlerische“ Arbeiten. Die Rechtsprechung räumt der Kunst prinzipiell eine noch größere Freiheit ein. In Konzeptionen moderner Kunst wird selbst die Geste einer Aneignung unveränderter Produktionen von fremder Hand als Möglichkeit der Variantenbildung künstlerischer Herangehensweisen gesehen („appropriation art“). Richter, die über derlei zu entscheiden haben, sollten sich zuvor mit relevanten Argumenten der Kulturtheorie wie Niklas Luhmanns „Die Kunst der Gesellschaft“, 1997, sowie den spezifischen sozioökonomischen und psychologischen Implikationen von Medienindustrie und -distribution vertraut machen oder von der Beurteilung eines Kriteriums wie der „Angemessenheit“ Abstand nehmen. Entsprechende Nachweise ihrer diesbezüglichen Kompetenz auf akademischer Ebene wären erst im Curriculum der das veränderliche Recht interpretierenden Akteure zu verankern, bevor sie über das Wohl und Wehe derer entscheiden, die von diesen Implikationen betroffen sind und dabei vor Rechtsfragen stehen. Diese Rechtsfragen sind bis heute nicht verlässlich im Vorhinein zu beantworten, weil in jedem Einzelfall über Kriterien wie „Werkhöhe“ von einzelnen Gerichten entschieden wird. Die so entstehende Rechtsunsicherheit verhindert in vielen Fällen eine derartige Veröffentlichung schon im Keim; erst recht, wenn durch Vergütungen des sekundären Werks die Arbeitsleistung seiner Herstellung in nennenswertem Umfang abgegolten werden soll. Auch im Fall von Kunst, die über Galerien verkauft und in Museen ausgestellt wird, werden im Einzelfall hohe Profite erzielt. Wesentlicher Grund der restriktiveren gesetzlichen Vorgaben für das Zitat von Filmen oder Fotografien ist allerdings ihre massenhafte und gewinnträchtige Verwendung in technischen Medien mit großer Reichweite. Die Logik in der Bewertung entsprechender Urheberrechtsfragen wäre umzukehren: Je weiter Medieninhalte verbreitet sind, desto zahlreicher müssen diskursive Reaktionen auf sie sein, die sich explizit mit ihrer Binnenstruktur auseinandersetzen und demnach das Zitatrecht für sich beanspruchen dürfen. Die juristische Grauzone, in der sich Internet-Plattformen wie „YouTube“ befinden, ist noch keine ausreichende Garantie für etwas, das sich „demokratische Öffentlichkeit“ nennen dürfte – auch sonst darf derjenige, der das Recht zur Äußerung hat, nicht mit einer juristischen Verfolgung bedroht werden, die auftreten kann oder auch nicht, je nachdem, ob sich ein Kläger mit finanzieller Potenz findet oder nicht bzw. ob Gutachter nach variablen, nicht objektivierbaren Maßstäben für eine Verurteilung oder einen Freispruch sorgen können oder nicht. So lange über demjenigen, der mit urheberrechtlich geschützten audiovisuellen Zeichen wissenschaftlich oder journalistisch auf sekundärer Ebene arbeitet, ein Damoklesschwert schwebt, das die meisten diskursiven Reaktionen dieser Art durch die Drohung einer möglichen hohen Geldstrafe von vornherein unterbindet, ist die „Möglichkeit der Antwort“ (Jean Baudrillard, „Requiem für die Medien“, 1972), die Demokratie von one-to-many-Struktur unterscheidet, noch nicht gegeben.
5) Ein weiteres Argument für eine Erweiterung der Rechte von Konsumenten und sekundären Kommentatoren der Inhalte von Massenmedien ist die Rolle, die Archive und ihre Zugänglichkeit für Medieninhalte selbst spielen. Während jedes veröffentlichte Buch in öffentlichen Bibliotheken erhältlich bzw. zu geringfügigen Fernleihgebühren bestell- und einsehbar ist, sind die Archive der audiovisuellen Erzeugnisse nur schwer oder kostenintensiv zugänglich. Der gegenwärtige Zustand ähnelt, um einen historischen Vergleich zu bemühen, einer Feudalgesellschaft der Redakteure von Zeitungen und TV-Sendern, die innerhalb kürzester Zeit Zugang zu Informationen erhalten können, gegenüber Medienkonsumenten, die auf die jahrelange, für sie selbst zeit- und kostenintensive Arbeit an einem Privatarchiv durch Aufzeichnungen etwa von TV-Ausstrahlungen angewiesen sind, um die Vorzüge einer historisch dimensionierten Filmothek zu genießen. Dies wäre eine weitere Forderung, die lediglich die in anderen gesellschaftlichen Funktionsbereichen durchgesetzten Verbraucherrechte für die gegenwärtig bedeutsamsten Mediendispositive verwirklichen würde: öffentlich und zu geringen Preisen zugängliche Sammlungen audiovisueller Erzeugnisse. Neben den z. T. in öffentlichen Leihbibliotheken erhältlichen vereinzelten Datenträgern mit kommerziell vertriebenen Kopien geht es hierbei um die große Zahl von Filmen, die lediglich im Fernsehen gezeigt oder nur in einzelnen Ländern veröffentlicht worden sind. Dies ist umso weniger trivial, als die aktuelle Zeichenproduktion der Professionellen eine zunehmende Anzahl von Anspielungen enthält, die lediglich im Kontext der historischen Verweisräume nachvollzogen werden können. Auch dies gehört zu den Eigenheiten gegenwärtiger Kommunikation – dass das künstliche, auf produktionstechnischem und juristischem Weg – in puncto Rechtsgleichheit illegitim – aufrechterhaltene Ungleichgewicht des Geschichtsbewusstseins zum absurden Scheitern einer Fülle von Kommunikationssituationen führt, in denen Kontexte ausgeschlossen, Referenzen verschleiert und z. T. die nicht selbst verschuldete Unmündigkeit von Konsumenten innerhalb von Anschlusskommunikationen wiederum gegen die Konsumenten selbst gewendet wird. Man kann dies in vielen Fällen Ausbeutung, Verachtung und Obskurantismus nennen. Wenn im Fall von Druckerzeugnissen der Presse und der Buchverlage die Abgabe von Pflichtexemplaren an Zentralbibliotheken besteht, wäre im Idealfall eine entsprechende Institution mindestens für alle über staatlich lizensierte Sendefrequenzen und Verbreitungskanäle veröffentlichten audiovisuellen Zeichenprodukte zu gründen und mit den entsprechenden Mitteln durch Abgaben der von diesen Produkten Profitierenden zu finanzieren. Bisher trägt jeder Kleinstverleger durch seine Pflichtexemplare mehr dazu bei, dass sein Beitrag zur Öffentlichkeit und zum kulturellen Gedächtnis dokumentiert wird und diskutierbar bleibt, als z. B. die öffentlich-rechtlichen oder indirekt durch Produktpreise werbefinanzierten TV-Anbieter, obwohl ihr Impact für die öffentliche Meinung und deren Folgen ungleich mächtiger ist. Bisher ist die wissenschaftliche Öffentlichkeit für diese massenmediale Öffentlichkeit notwendigerweise nahezu blind und arbeitet damit durch erzwungene Unterlassung Gruppen zu, deren Interessen als privatwirtschaftliche Akteure sie als unabhängige Instanz nicht zu vertreten hat. Kosten, die man für eingeschränkte und halblegale Gegenmaßnahmen wie universitäre Videosammlungen verausgabt, werden bisher anders deklarierten Posten des Bildungswesens zugeschlagen. Es gilt jedoch, ein Verursacherprinzip für zirkulierende Zeichen und ihre gesellschaftsinterne Bearbeitung zu etablieren.
6) Technische Massenmedien haben neben der Fülle und Allgegenwart ihrer Informationen noch ein weiteres Parameter von Kommunikation verändert. Die Flüchtigkeit zeitbasierter reproduzierter Aufzeichnungen, z. T. noch verstärkt durch Phänomene wie den tontechnischen oder filmischen Schnitt und andere produktionstechnische Manipulationen sinnlich erfahrbarer Wirklichkeiten, hat z. B. die Notwendigkeit erhöht, die Schnelligkeit in der Aufzeichnung und Wiedergabe künstlich wieder zu verlangsamen. Diese Leistung erbringen nicht die Produzenten dieser Zeichen selbst. Auch wenn es prinzipiell fast jedem Mitglied westlicher Industriegesellschaften möglich ist, mit Video- oder DVD-Recorder oder anderen Aufzeichnungsgeräten Medienereignisse festzuhalten und erneut wahrzunehmen, um Eindrücke zu verifizieren und zu überdenken, geschieht dies in der Praxis eher selten. Die Mehrzahl der Medienereignisse „rauscht vorbei“, und während allenthalben „Medienkompetenz“ und kritisches Bewusstsein gefordert sind, ist das Ergebnis kritischer Prüfungen von Kommunikationsereignissen in Geschichte und Gegenwart massenmedialer Gesellschaften in dieser Hinsicht oft erschütternd. Sicherlich wird heutzutage bei Interesse überprüfbarer, was wann wo wie gesagt und kommentiert worden ist. Doch die Frage bleibt, in welcher Relation der Umfang von Medienkonsum und der tatsächliche Nutzen für den einzelnen Verbraucher steht und wie den kontraproduktiven Tendenzen durch sekundäre Aufbereitung von Medieninhalten entgegenzuwirken ist. Hierfür sind Vermittlungsinstanzen erforderlich, die in wissenschaftlicher, journalistischer, pädagogischer oder künstlerischer Perspektive das Material technisch-medialer Kommunikation in anderer Form reflektieren. Ein Umgang mit urheberrechtlich geschütztem Material ist hierfür unerlässlich. Dessen Veränderung im Sinne „eigenständiger Werke“ ist hierfür ebenso zu erfüllen wie als ausreichende juristische Rechtfertigung für vom Urheber unabhängige (und ebensowenig wie wörtliche Zitate und Collagen aus Texten anderer individuell zu genehmigenden oder finanziell zu entgeltenden) Veröffentlichungen in Anspruch zu nehmen.
7) Andere Begriffe von „Werk“ und „Arbeit“ sind erforderlich, um der wachsenden Relevanz von sekundärem Kommentar unter Verwendung von audiovisuellen Zitaten gerecht zu werden. Die Bearbeitung von ausschließlich vorgefundenem Material für einen Found-Footage-Film kann mehrere Wochen Vollzeitarbeit bedeuten. Der Maßstab, der für den Beitrag Einzelner zu einem kollektiven „Filmwerk“ angenommen werden kann, entspricht in einem solchen Fall nicht der Realität. Wenn eine Person zugleich Archivar, Rechercheur, Autor, Cutter und Toningenieur, eventuell auch Sprecher oder Moderator einer solchen Low-Budget-Produktion ist, muss dies in die Definition von „Werkhöhe“ integriert werden. Entscheidend ist die Investition von Arbeit in das gegebene Produkt, nicht, ob seine Bestandteile selbst Ergebnis fremder Arbeit waren oder nicht. Juristen sollten vor entsprechenden Entscheidungen Einblick in solche Arbeitsweisen nehmen: das mühsame Vorgehen von Materialbeschaffung und Archivierung, Digitalisierung, Konvertierung unterschiedlicher Formate, Sortierung und Montage, Fehlerkorrektur, Dateiausgabe und neuerliche Konvertierungen – vom unmessbaren Aufwand des Erwerbs von Wissen und notwendigen handwerklichen Fähigkeiten, die Grundlage von Formgebung sind, einmal abgesehen. Unsere Gesellschaft hat auch ihre juristischen Regelungen bisher sehr stark auf Vorstellungen der Herstellung materieller Güter und auf die Meßbarkeit von Leistung und Zeit abgestellt. Auf dem Weg in eine „Informationsgesellschaft“ wären solche Koordinaten für geistige Arbeit nachzujustieren – auch und gerade in einer Öffentlichkeit, in der betreffende Inhalte durch digitalisierte Netzwerke immer einfacher zu reproduzieren und auszutauschen sind. Found Footage und sekundärer Kommentar im Sinne des FilmFundBüros ist kein willkürlicher Bruch von Urheberrechten, sondern ein Beitrag zur Kultur der (Selbst-)Reflexion und der Revision von Kulturmodellen im Hinblick darauf, welche ihrer Elemente nach wie vor tragfähig sind und welche als überkommen gelten können. Diese genuin moderne Kultur der Dialogizität und Kritik ist gegenwärtig einer Bewährungsprobe ausgesetzt, da geistige Arbeit durch digitale Kopierbarkeit weitgehend entwertet wird. Die Generierung von Wissen erfordert den Einsatz von Kapital. Soll sie Öffentlichkeit und gleichberechtigten Bürgern einer Staatsgemeinschaft dienen, kann dieser Vorgang nicht rein privatwirtschaftlichen Mechanismen untergeordnet und technischen Möglichkeiten der Inflationierung überlassen werden. Diese Tendenz ist parallel zu Privatisierunginitiativen zahlreicher Areale öffentlichen Lebens, verstärkt seit ca. 30 Jahren, zu beobachten. Eine Kultur der kritischen Öffentlichkeit und des gleichberechtigten Zugangs zu Bildung und Wissen ist hierdurch gefährdet – auch wenn viele kostenfreie Informationsquellen über das Internet zugänglich geworden sind. Werden geistige Leistungen, die sich nur über Zeichenprodukte manifestieren, nicht in der einen oder anderen Weise entlohnt, können sie auf mittlere Sicht nicht mehr oder nur für einzelne finanziell bevorteilte Auftraggeber erbracht werden. Derzeit besteht im Hinblick hierauf bei den verantwortlichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Akteuren – zumal angesichts aus anderen Gründen wachsender Schuldenberge – schlicht Ratlosigkeit.
8) Wird die veränderte Situation, die sich mit dem exponentiellen Anwachsen der Archive und zirkulierenden Zeichenmengen ergibt, nicht auch als zunehmende Notwendigkeit von Ordnungs- und Kommentarfunktionen erkannt, wird aus Information schnell Desinformation. Werden bei der Definition organisatorischer und juristischer Rahmenbedingungen für Hervorbringung, Verbreitung und Konsum geistiger Güter nicht plurale Interessen aller gesellschaftlicher Gruppen einbezogen, droht einseitiger Machtmissbrauch. Die zunehmend ungleiche Verteilung von Wohlstand innerhalb der Industriegesellschaften und Modernisierungsverluste in Gestalt von Umweltzerstörung und physischen wie psychischen Zivilisationskrankheiten (wie der nach statistischen Angaben sich kontinuierlich ausbreitenden Magersucht, verfrühten Altersdiabetes oder Depression) stellen neben anderem die schleichend veränderten Gepflogenheiten und Auswirkungen medial vermittelter Kommunikation in Frage. Wird die veränderte Situation, die sich mit der Vormacht von durch instrumentelle Produktwerbung hegemonial gewordener industrieller Produktion, dem Schwinden natürlicher Lebensgrundlagen (Klimawandel, Artensterben, Wassermangel), dem Verlust sozialer Bindungen (nachhaltig steigende Zahl von Single-Haushalten und Scheidungen), daraus folgenden demografischen Problemen und der immensen volkswirtschaftlichen Verluste durch Sucht- und Lernprobleme, Bewegungsmangel und denaturierte Ernährung nicht mit Reformen der Lebens-, Erziehungs- und Kommunikationskultur beantwortet, wird aus Privatfernsehen irgendwann Staatskrise.
Daniel Hermsdorf
Bochum, Juli 2009