Wenn der Paranoiker und der Ignorant - und von letzteren, liebe Politiker, gibt es sehr, sehr, sehr viele, auch wenn Ihr das nicht sagen dürft - Unrecht haben, müsste man eigentlich was tun. Um nicht zu sagen: Wir in den Industrienationen als Verursacher der nahenden Katastrophen und Legitimatoren derjenigen, die beginnen, unsere Fehler zu wiederholen, sitzen auf dem Vulkan. Und das Problem - man darf wohl nicht müde werden, es zu wiederholen, etwa hier, hier, hier, hier, hier oder hier - liegt in der Ökonomie der Aufmerksamkeit. In öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten - die trotz Quiz-Stupor und Soap-Hirnwäschen noch einen Rest von sog. 'Realitätssinn' bewahren - hat man offensichtlich eine Übergangslösung zu der notwendigen Reduktion des Energieverbrauchs um ca. 70% gefunden. Bevor man sich ernsthaft um Veränderung (leider doch wohl notwendig: Abschaffung von allem Möglichen) kümmert, inszeniert man die Wiederkehr des hartnäckig verdrängten ökologischen Gewissens erstmal metaphorisch bis halbmetaphorisch im erprobten Trivialstil. Ein gutes Beispiel für alles Erwähnte ist der gestrige 2. Januar 2008 im ersten Programm des deutschen Fernsehens. Da heißt es nach den Hauptnachrichten um 20.15 Uhr erst einmal wie? Richtig: "Auf dem Vulkan" (D 2007, R: Claudia Garde). Die Inhaltswiedergabe der ARD-Programminformation entspricht - bloß ohne wörtliche Erwähnung dessen, was in der globalen Realität gerade so ansteht - in ihrer Logik durchaus der realen Situation: "Die Ehe von Moritz und Eva Jung ist in einer Krise. Moritz quält sich mit Schuldgefühlen, ist aber nicht fähig mit Eva darüber zu sprechen, die ihn immer wieder vergeblich drängt, sich ihr zu öffnen. Erkennend, dass die Ehe gescheitert ist, nimmt Vulkanologe Moritz das Angebot an, auf Teneriffa wissenschaftliche Untersuchungen durchzuführen. In der Vulkanlandschaft des Teide versucht Moritz, von der Vergangenheit Abschied zu nehmen. Er lernt die Rangerin Sophia kennen, die einen kleinen Sohn hat und nebenbei in der Pension arbeitet, in der er wohnt. Moritz lässt sich auf eine Affäre mit der schönen Frau ein. Er beginnt, mit dem Gedanken an ein neues, spanisches Leben zu spielen. Aber so einfach lässt sich sein früheres Leben nicht abstreifen. Als Eva erkennt, dass sie mit ihrem Drängen dazu beigetragen hat, Moritz von sich wegzustoßen, reist sie ihm nach. Sebastian Koch, Maria Schrader, Laura Mañá und die Hochebene um den Vulkan Teide spielen die Hauptrollen in dem in eindringlichen Bildern erzählten Drama um Trauer und Verdrängung." Das würde im Klartext heißen: "Das Verhältnis von Mensch
und Umwelt ist in einer globalen Krise. Die Industrienationen quälen
sich mit Schuldgefühlen, sind aber nicht fähig, mit den Erneuerern
darüber zu sprechen, die sie immer wieder vergeblich drängen,
in einen nachhaltigen Dialog mit einschneidenden Konsequenzen einzusteigen.
Erkennend, dass ihre konsumistische Lebensweise gescheitert ist, nimmt
die westliche Industriegesellschaft das Angebot an, mit Hilfe wissenschaftlicher
Untersuchungen das Ausmaß der Schäden zu überprüfen,
für die sie verantwortlich ist. Inmitten von Artensterben und kollabierenden
Ökosystemen versuchen die Turbokapitalisten, von der Vergangenheit
Abschied zu nehmen. Sie lernen Naturschützer kennen, die die Welt
für ihre Kinder erhalten wollen und die in derselben Gesellschaft
leben wie sie. Man kommt sich näher. Die Umweltverschmutzer beginnen,
mit dem Gedanken an eine veränderte Lebensweise zu spielen. Aber
so einfach lässt sich ein früheres Leben nicht abstreifen. Als
die Umweltschützer erkennen, dass sie mit ihren vehementen Forderungen
zu anspruchsvoll waren, gehen sie erneut auf die Umweltverschmutzer zu."
Dann erst - vor einem Publikum aus Rentnern, Arbeitslosen und Studenten vermutlich - geht es zum "Abenteuer Amazonien". ARD-Programminformation: "Gerne spricht man von der 'grünen Lunge' der Welt, wenn man an Amazonien denkt - das Gebiet rund um diesen riesigen Strom. Die grüne Lunge? 'Wir kämpfen doch allein gegen alle', sagt Eriberto Jualinga, ein Quechua-Indianer aus Ecuador. Er lebt in dem Dorf Sarayacu, das sich schon seit Jahren gegen internationale Ölfirmen wehrt, die das Amazonas Gebiet erschließen wollen. 1.500 Kilogramm Sprengstoff sind von den Ölfirmen rund um Sarayacu vergraben worden. Die schöne heile Welt des Amazonas gibt es schon lange nicht mehr, der Urwald ist bedroht." Schade um Amazonien, denken die 1,23 Mio. Zuschauer, die zu diesem Zeitpunkt noch dabei sind. Erst um 23.49 Uhr wird es dann grundsätzlich: "Unser Planet" (The Planet, S/NOR/DK 2006, R: Johan Söderberg / Michael Stenberg / Linus Torell). Es handelt sich um eine aktuelle Produktion, die auf Spielfilmlänge mit einem bisweilen videoclipartigen Gestus schlichte Sachinformationen, Prognosen in einfachen Sätzen und Zahlen mit Expertenaussagen und bildlichen Impressionen von Umweltzerstörung kombiniert. (Mit 3 Mio. Euro Produktionskosten ist es der bisher aufwändigste skandinavische Dokumentarfilm.) Fast nichts von alledem kam nicht schon in allen möglichen Medienberichten der vergangenen Monate vor. In der Konzentration ist es dennoch niederschmetternd. Kein Experte findet sich hier mehr, der nicht auf die existenzielle Gefahr aufmerksam macht, die spätestens ab Mitte des 21. Jahrhunderts durch die Fluchtbewegungen vor Öko-Katastrophen auch auf die z. Zt. relativ sicheren Territorien der westlichen Welt zukommen. Eine Expertin spricht von der Notwendigkeit, den Energieverbrauch um 70% zu reduzieren. Ein anderer bemerkt, dass, wenn alle 9 Mrd. Menschen, die 2050 auf der Erde zu erwarten sind, das für europäische Verhältnisse niedrige Wohlstandsniveau von Portugal erreichen würden, die Welt "explodieren" werde. Zuschauer: Nur noch 430.000. Was - wie in fast allen Berichten zum Thema - fehlt, ist die deutliche Benennung derer, die, abgesehen von Endverbrauchern, etwas verändern können. Hier wird das Lamento fortgesetzt, es herrsche eine grundsätzlich hohe Bereitschaft, irgendetwas zum Schutz der Umwelt zu tun. Verbraucher seien jedoch träge in der selbsttätigen Realisierung der ihnen möglichen Veränderungen. Doch erstens wird in der Dokumentation "Unser Planet" wie anderswo von den tatsächlich notwendigen Veränderungen nur eine schwache Ahnung vermittelt: Was bedeutet ein Leben ohne Automobil? Wer baut rechtzeitig Verkehrssysteme um? Welche Konsumartikel und Lebensweisen sind am energieintensivsten? Was sind die ideologischen und infrastrukturellen Bedingungen für eine zu schwache Präsenz entsprechender handlungsleitender Informationen in Massenmedien? Wärmedämmung von Wohnraum ist die derzeitig vorangebrachte Initiative deutscher Energiepolitik. Doch wer sich Statistiken wie diese ansieht, bemerkt schließlich, dass die Industrie 47% des Stroms verbaucht, Handel und Gewerbe 14% - Privathaushalte 26%. Unter die mengenmäßig relevantesten Verausgabungen von Energie fallen all die Annehmlichkeiten und Überflüssigkeiten, an die wir uns gewöhnt haben und die an noch bezahlten Arbeitsplätzen produziert werden. Ihnen sieht man - Marxscher Fetischcharakter der Ware, ick hör dir stampfen - nicht an, wo, wie und wieviel Energie sie aufgesogen haben. Zweitens bewegen sich die Entscheider der entsprechenden Geschäftsbereiche immer noch in einer Schutzzone, die ihnen die ökonomische und politische Abhängigkeit der Medienindustrie garantiert. Es sind die Führungsetagen der Industrie, die augenscheinlich nicht willens sind, die Ausgaben für ihre Viertautos, ihre Buchsbaumhecken und Luxusreisen zu reduzieren und die deshalb nur in Kategorien von Shareholder Value und "Wachstum" denken, um neben Arbeitsplätzen - wo auch immer - sich selbst horrende Gehälter zu sichern. "Wachstum" - dies ein seltenes, aber essenzielles Argument - wird in "Unser Planet" von einem amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler in Frage gestellt - so, wie es in Deutschland etwa Elmar Altvater seit geraumer Zeit tut. Wo stellen sich - und nicht nur einmal - die Verantwortlichen der Industrie öffentlich kritischen Fragen zu ihrer Geschäftspolitik? Wer Berichte zu Öko-Problematiken mit dem Wirtschaftsteil von Zeitungen parallelliest, ahnt schnell, dass Wirtschaftsführer neben den pragmatischen Abschottungen in ein sprachliches Weltverhältnis einsozialisiert sind, dass es ihnen vehement erschwert, ihre eigenen schizoiden Tendenzen aufzuarbeiten. (Einzelne Industrielle wie Dieter Zetsche - "Genuss ohne äh... nekative Beiwerte für die Umwelt" - wirken allerdings so, als wollten sie durch forcierte Dummschwätzerei marxistische Krisentheorie oder andere Kulturpessimismen nur noch endgültig beweisen.) Wir leben in einem Land, in dem man gleichzeitig ehemalige RAF-Terroristen inhaftiert, die in den 1970er Jahren u. a. an der Ermordung ehemaliger Rassenkundler mit relativ ungeklärter (und unklärbarer) Nazi-Vergangenheit beteiligt gewesen sein sollen, sowie 'Neonazis', die in rein sprachlicher Form den Massenmord in Konzentrationslagern abstreiten. In linkem oder rechtem Milieu moralische Urteile wahlweise über Christian Klar oder Germar Rudolf zu fällen, ergibt schnell ein Einvernehmen. In den Wirtschaftsressorts und Klatschmagazinen werden demgegenüber Industrielle und Politiker gefeiert, die gleichzeitig präsenten, aber schlechter gefeatureten Informationen zufolge die Lebensgrundlage folgender Generationen zerstören, welche dadurch in Gefahr sind, durch Naturkatastrophen, Wassermangel, vergiftete Ökosysteme und kriegerische Rivalitäten um Ressourcen ihr Leben zu lassen. Den Aussagen im ARD-Programm und allerorten zufolge sind die Führungskräfte unserer Zeit jene, die in kommenden Geschichtsbüchern für diese Entwicklungen verantwortlich gemacht werden würden. Wie wird man in 20 Jahren über heutige leitende Angestellte von Industrieunternehmen wie Peter Löscher (Siemens AG), Dieter Zetsche (Daimler AG), Wulf H. Bernotat (E.ON) und andere denken? Wo sind die theoretisierenden Ethiker, die der Gesellschaft Maßstäbe vermitteln, in welchem abstrakten, aber real äußerst wirkungsvollen Wertverhältnis die Ermordung von vielen Menschen, die Ermordung einzelner Menschen, die Leugnung oder Vertuschung verübter oder zweifelhafter Gewalttaten und die eigennützige Verleugnung nachhaltiger zerstörerischer Konsequenzen des eigenen wirtschaftlichen Handelns für Millionen von Menschen steht? Wenn unser Wirtschaftssystem beweisen will, dass es seine nach gegenwärtiger Konsensmeinung krankhafte Eigensucht korrigieren kann, werden jene, die die Angebote machen, die Verantwortung nicht dauerhaft auf die Nachfrager abschieben können. Auch dies ist eine grundsätzliche Frage, die nur auf dem Gebiet der politischen Philosophie zu klären ist. Individuelle Freiheit wird in diesen Debatten allzuoft zu einem Begriffsfetisch, der realistische Einschätzungen verhindert. Warum glaubt man warten zu können, bis Millionen einzelne Verbraucher auf Ökostrom umstellen, wenn alle der Meinung sind, dass es eine gute Sache ist, aber dennoch Parteien wählen, die über Jahrzehnte Benzinkultur und Atomstrom gepredigt haben? Kein Pädagoge würde jedenfalls glauben, dass man nennenswerten Lernerfolg mit Unterrichtseinheiten am Rande des Lehrplans erreichen kann. (Dass pädagogisches Ethos an Ansehen verloren hat, ist eine weitere Konsequenz aus kulturellen Tendenzen, die seit ca. 20 Jahren v. a. vom Privatfernsehen befördert werden.) In unseren Massenmedien herrschen - Kritiker bemerken es seit Jahrzehnten - süßliche und brutale Scheinwelten, durchsetzt mit Produktwerbung für Faltencremes, Kreislaufpillen, Tütensuppen und durchgeknallte Automodelle, auf privaten TV-Bildschirmen in Deutschland ca. 3,5 Stunden pro Tag, in den USA ca. 4,5 Stunden. Zu hoffen ist, dass die ansteigende Intensität neurotisch-mehrdeutiger Metaphoriken etwa in Spielfilmproduktionen den Geschmack an dieser Bewusstseinsindustrie irgendwann verdirbt. Doch wer Filmgeschichte kennt, weiß, dass solche Hoffnungen zumeist vergebens waren. Und auch in der "wissenschaftlichen Untersuchung" solcher Mediengeschichten greift bisher die unterdrückerische Konsequenz von sediertem Desinteresse und institutionalisierter Meinungsmache.
Daniel Hermsdorf |
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