Warum ich Computerspiele nicht mag

05.2005

Ich habe keine Ahnung von Computerspielen. Ich habe nicht viele Menschen in meinem Leben kennengelernt, die sie spielen. Die meisten, die ich kenne, haben nach dem C 64 die Lust daran verloren und erst wieder einen Computer gekauft, als sie damit Texte schreiben und einen Internetanschluss haben wollten.

Das wäre Realität Nr.1: Computerspielen ist stark abhängig von Alter und sozialer Gruppe. Engagierte Eltern bewahren ihre Kinder meist davor, so gut es geht. Soziale Akzeptanz haben "Games" erst in der Generation ab ca. Geburtsjahrgang 1970. Und auch in deren ersten Jahrgängen gibt es viele, die dies bei Freunden und Bekannten 'akzeptieren', ohne selbst daran wesentlich interessiert zu sein - deshalb (noch): kein Leitmedium in irgendeinem Sinn.

Bisher war Ihnen der Artikel zu langweilig? Kann ich verstehen. Ich werde sehen, was sich machen lässt.

Realität Nr.2: Games haben eine andere Zeitstruktur als Brettspiele oder die medialen Verwandten Erzählliteratur und Spielfilm i.w.S. Um deutlich zu werden: Mit Computerspielen hat ein Konsum symbolischer Produkte begonnen, deren Zeitaufwand in eklatantem Missverhältnis zur Information stehen, die sie vermitteln.

Dies liegt zunächst darin begründet, dass der technische Aufwand der Programmierung so hoch ist, dass er einen Großteil des Budgets einnimmt. Bis in einer programierten visuellen Lebenswelt auch nur ein "Kameraschwenk" möglich wird, in dem auch noch ein paar Requisiten und eine sich bewegende Figur erscheinen, hätte ein Filmteam vier oder fünf Sets dekoriert, abgefilmt und wieder abgebaut. Hinzu kommen die techinschen und logischen Restriktionen der Handlung: Voraussetzung dessen, was hier der Fantasie von Autoren entspringen kann, ist nicht das Denk-, sondern das Machbare. Pauschal gesprochen: eine Umkehrung bisher existierender Funktionsweisen künstlerischer Schöpfung.

Die optische Phänomenalität z.B. von Requisiten ist hier ein aufwändiges programmtechnisches Zusammenspiel von symbolischen Anweisungen, geometrischen Mustern und Oberflächentexturen. Wenn innerhalb des Spiels mit diesen Gegenständen etwas geschehen soll, muss dies in mehrere mögliche Handlungslogiken eingebettet sein. Differenz zur Erzählung generell: Nicht eine Handlung wird in ihrem Ablauf (und damit möglichen manifesten oder latenten Bedeutungen) festgelegt, sondern es müssen a) mehrere Anwendungen des Requisits möglich sein, b) nur eine Anwendung erlaubt sein, die der Spieler herausfinden muss oder c) die Nicht-Anwendung einkalkuliert werden.

Daraus ergibt sich das, was Steven Poole an Games "totally amnesiac" nennt: Der Fortgang von Handlungen muss, sofern er mehrere Wege erlaubt, Rückverweise auf vom Spieler möglicherweise nicht in die Handlung einbezogenen Elementen vermeiden. Die Freiheit der Spieler, Handlungsoptionen zu wählen, bewirkt hier, dass die Informationsdichte im erzählerischen Sinne sinkt.

Das wäre eine weitere Veränderung der Zeitökonomie gegenüber anderen ästhetischen Formen: Neben dem höheren technischen Aufwand für eine optische Phänomenalität und einen erzählerischen Inhalt sinkt der herkömmliche Informationsgehalt erzählerischer Einheiten prinzipiell proportional zur Avanciertheit der Dramaturgie des Szenarios.

Noch gravierender wirkt sich der Zeitaspekt auf einer psychologischen und sozialen Ebene aus.

Das wäre Realität Nr.3: Niemand gibt gern zu, dass er selbst oder sein Kind süchtig in irgendeinem Sinne ist. Games haben ein von psychologischen Studien näher zu erweisendes Suchtpotenzial wie zunächst Bildschirmmedien generell. Der menschliche Sehsinn ist, trivial gesagt, derart zu bannen, dass das Zeitbewusstsein schwächer wird als in anderen Fällen. Die Suchtwarnungen gegen das Romanlesen aus dem 19. Jahrhundert, die gern zur Widerlegung der Ablehnung eines neuen Mediums mit den früher schon falschen Mitteln angeführt wird, mag heute nicht in demselben Maß für Computerspiele selbst gelten. Jeder Lehrer, der bei seinen Schülern gesunkene Lesefähigkeit bemerkt, kann darüber ebenso Auskunft geben wie entsprechende Studien oder die Klagen der Industrie über mangelnde Lese-, Rechtschreib- und Rechenfähigkeiten, die für den Nachwuchs in der Berufswelt auch erstmals innerhalb des hier geschilderten Zusammenhangs zum ökonomisch-finanziellen Argument wird.

So berauschend die Milliardenumsätze der Games-Industrie sind - ob sie als Zeitfresser den Verlust bei anderen Lebens- und Lernerfahrungen aufwiegen können, zeigt sich so langsam. Und was sich zeigt, ist z.T. verheerend und in den von Ökonomen eingeforderten "harten Zahlen" dann formulierbar, wenn die genannten Defizite mit dem Zeitverlust für schulisches und anderweitiges Lernen begründet werden können. Und hochpreisige Spiele werden wohl kaum deshalb verkauft, weil man nicht 30, 40 Stunden bis zum letzten Level spielt. Und die tags oder nachts eingeloggten Spieler von Online-Games lernen keine Englisch-Vokabeln, während sie zum 200sten Mal auf derselben "Map" auf Feinde lauern oder mal wieder selbst "erschossen" werden, stets dieselben Bilder vor Augen, rudimentäre sprachliche Anweisungen in den Ohren ("I think he's not alone!").

In Worten des Schulamtsdirektors am Staatlichen Schulamt Nürtingen heißt das so:
"Angemahnt werden von Seiten der Industrie vor allem die mangelhaften Leistungen im Bereich der Grundfähigkeiten des Lesens, Rechtschreibens und des Rechnens. [...]
So wird zum Beispiel bei Nunberg (1996) wird [sic] die Zukunft des Buches diskutiert und die Frage nach dem Supergau der europäischen Buchkultur gestellt. 'Offenkundig verlieren Bücher gegenüber visuellen und elektronischen Medien zusehends Marktanteile.' An erster Stelle stehen inzwischen Videospiele, Bücher inzwischen auf Rang drei. Wir finden das Buch nicht mehr im Zentrum unserer Kultur, als primäres Mittel der Aufnahme, Verbreitung und Unterhaltung. Bücher haben sich inzwischen aus dem Zentrum unseres kulturellen Gedächtnisses fortbewegt.
Die Bruchkanten einer sich fortentwickelnden Mediengesellschaft werden gerade in der Schule im Bereich des Schriftspracherwerbs sichtbar. Abstrakte, textorientierte Denkleistungen werden in westlichen Industriekulturen geradezu zum Problem."
Hofer, Adolf: Informelle Lesediagnostik: Zur Lesefähigkeit von Hauptschülern, S.33f. In: Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hg.): L R S. Schwierigkeiten im Lesen und/oder Rechtschreiben. Ein Thema auch in weiterführenden Schularten. Stuttgart 1999
Es fehlt die Literaturangabe zu "Nunberg 1996". Das zitierte Werk dürfte Folgendes sein: Nunberg, Geoffrey (Hg.): The future of the book. Berkeley 1996
(www.km-bw.de/servlet/PB/-s/ 1qlccznudtcsq1e88aznf0ouxb1sjpyjy/show/1099493/LRSwf1.pdf)

Die von Befürwortern dagegen angeführten inhaltlichen Qualitäten von Strategiespielen sind kein Argument gegen die zeitliche Dramaturgie. Hier liest man in Berichten von Menschen, die über Monate und Jahre Spielverläufe online verfolgen, zu bestimmten Zeiten online sein müssen, um per Mausklick imaginäre Raumschiffe zu kaufen und die neue Flotte auf den Weg zu interstellaren Eroberungen zu schicken. Auch wenn ich manchem nach einem solchen Satz kaum mehr in die Augen sehen dürfte: Im historischen Rückblick könnte das später einmal wirken, als spielten 40jährige mit Playmobil - nur ohne ihre Kinder, wenn sie welche haben.

Bei Claus Pias heißt die Verschaltung von Mensch und Maschine im Computerspiel: "Der Spieler erscheint an dieser Systemstelle als device und zweites Programm, dessen Outputs zeitkritisch abgefragt werden (Action), das schon gebahnte Verknüpfungen in einer Datenbank nachvollziehen muß (Adventure) oder das eine Konfiguration variabler Werte zu optimieren hat (Strategie)."
(Pias, Claus: Computer Spiel Welten. München 2002, S.6)
(Volltext online: ftp://ftp.uni-weimar.de/pub/publications/diss/Pias)

Die Formulierung erinnert an die ältere Version einer solchen Definition der "Schnittstelle", nämlich die Charakterisierung der Vereinnahmung des Arbeiterkörpers durch die Maschine in der industriellen Produktion: "Gehn wir nun näher auf das einzelne ein, so ist zunächst klar, daß ein Arbeiter, der lebenslang eine und dieselbe einfache Operation verrichtet, seinen ganzen Körper in ihr automatisch einseitiges Organ verwandelt und daher weniger Zeit dazu verbraucht als der Handwerker, der eine ganze Reihe von Operationen abwechselnd ausführt."
(Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Bd.1. Buch I. Der Produktionsprozess des Kapitals. Hg. v. Friedrich Engels. Berlin 1947 [OA.: 1867], S.355)

Bei Pias heißt der Mensch "device" und "Programm", was bei Marx "automatisch einseitiges Organ" genannt wird. Es wäre also mit Marx die Frage, ob hier nicht eigentlich Spiel zur Arbeit wird.

Bildschirmsüchte sind wesensmäßig (viva Essentialismus!) zumindest z.T. andere als die Sucht nach Buchstaben, die erst einmal entziffert und verstanden werden wollen. Sie sind auch anders als die Sucht nach anderen inszenierten bewegten Bildern, die eine Geschichte mitteilen, aber nur passiv genossen werden können. Die Tendenz geht, wie mir scheint, dahin, dass differenzierte inhaltliche Informationen reduziert werden, während die "zeitkritische" Handlungsanforderung an die Spieler steigt. Was für Bomberpiloten lebensnotwendig ist, muss für Kinderzimmer nicht in derselben Weise gelten.

Realität Nr.3 taucht nun in ihren Resultaten als Bewegungsmangel, -unfähigkeit und als Defizit im Umgang mit Texten in den Statistiken auf. In einer Info des Kinderschutzbundes heißt das:

"Bisher wurde darauf eingegangen, dass die Möglichkeiten der Kinder draußen zu spielen sich in den letzten Jahrzehnten sehr stark verringert haben. Parallel dazu steigt der Konsum von elektronischen Medien immer weiter an. Das Angebot und die Verfügbarkeit von Medien wie Fernseher, Hörspielkassetten, Gameboys und Computerspielen nimmt beständig zu. Etwa ein Drittel der Kinder sieht mehr als zwei Stunden am Tag fern. Bereits nach wenigen Minuten vor dem Fernseher entsprechen die Gehirnströme denen beim Einschlafen. Fernsehen hemmt also die Ausbildung von Phantasie und Kreativität."
(http://www.kinderschutzbund-nrw.de/denkanst/Bewegungsmangel.htm)

Die Realität Nr.3 ist eine Gegenwart, in der Kinder und Jugendliche statt Sportarten (die alle Reize und Qualitäten von aktionsorientierten Computerspielen wie Reaktionsschnelligkeit, Wettkampf und Mannschaftsgeist mit körperlicher Bewegung vereinen, die im anderen Fall fehlt) einen erheblichen Anteil ihrer Freizeit für Computerspiele aufwänden und nun die erste Elterngeneration ihre Kinder in diese Gewohnheiten einsozialisiert, die sie selbst z.T. Erziehungsvergnügen und -pflichten des Lernens und der Bewegung nicht nachkommen können, weil sie ihre Zeit für Bildschirmspiele und historisch vorgängige Sehsüchte einsetzen.

Meine persönlichen Gründe, keine Computerspiele zu spielen, sind neben den genannten zum einen die geringe Welthaltigkeit der Spiele. Von was wird hier - abgesehen von fragmentarischen Referenzen auf Geschichte oder Gegenwart - eigentlich erzählt? Antworten sind erbeten.

Zum zweiten sind Games gegenüber literarischen Texten oder filmischen Inszenierungen aus meiner Sicht sprachlich trostlos. Alles, was mich an Literatur und Film amüsiert, fehlt hier (z.T. aus den zuvor genannten pragmatischen und strukturellen Gründen). Diese Trostlosigkeit würde ich auch für die mir bekannten (Bei)Spiele auf der visuellen Ebene formulieren.

Jede Faszination für Formen, Farben, für Materialien, Oberflächen und Bewegungen trifft hier auf eine Tendenz zur Stumpfheit. Die Bilderwelten von Computerspielen bewegen sich aus meiner persönlichen Empirie entweder im bonbonbunten Kitsch oder in einer einschüchternden Horrorästhetik. Die farbliche Brillanz und der Formenreichtum der Welt, die selbst noch auf Fernsehschirmen in filmischen Bildern erkennbar sind, weicht hier einer bestürzenden Armut des reduzierten und vereinheitlichten Farbspektrums, der verflachten Räumlichkeit und der auch in avancierten Spielen bis hin zu "Clipping"-Fehlern (plötzliche Brüche im Raumkontinuum in der Darstellung) reichenden Derealisierung von Bewegungs- und Raumeigenschaften. (Gegenbeispiele?)

Das wäre es zunächst einmal von meiner Seite. Die Ghettobildung von hochtgerüsteten Kinderzimmern und - allerdings weit gezogenen - Zirkeln des Special Interest gälte es über gelegentliche erschreckte Zeitungsberichte - und ihre z.T. hämische Kommentierung in Foren und Mailinglisten - hinaus aufzulösen in eine offene Aussprache darüber, wer hier was will und für wen mit welchen Gründen was zu wünschen wäre. Die Wunschmaschine Spielkonsole ist für mich noch keine.

DH

Alte und Neue Medien > Themen

filmdenken.de-Index

Kommentare zu diesem Text

Zum Thema siehe auch die Literaturrecherche vom Juni 2003

filmdenken.de-Index