Volle Breitseite Frühreife

Von der Medienkritik kaum mehr beachtet, ist der marktbeherrschende Faktor unter den TV-Serien derzeit die Sitcom „Two and a Half Men“ (USA 2003ff.). Für berichtenswert halten Zeitungen und Websites zuletzt v. a. die Eskapaden des Hauptdarstellers Charlie Sheen, die die Wikipedia übersichtlich zusammenfasst.

Mit „schlechten Noten und fehlender Unterrichtsbeteiligung“, „Drogenproblemen mit Kokain“, „Kontakt zu einer Prostituierten“ und einem freiwilligen Gefängnisaufenthalt wegen „Vorwürfen der häuslichen Gewalt“ bringt Sheen offensichtlich alles mit, was es für einen Spitzenverdiener der Mediengesellschaft braucht. Pro Folge von „Two and a Half Men“ wird sein Salär neuerdings gerüchteweise auf knapp 2.000.000 $ taxiert.

In solchen Fällen haben Privatsender ein gutes Herz. „kabel eins“ strahlt derzeit vormittags und nachmittags eine Doppelfolge von je 25 Min. aus. Dienstags liefert zudem Pro7 abends vier Folgen am Stück.

Es scheint also etwas Zeittypisches an dieser Serie dran zu sein. Während in der anderen – dieser – Welt internationale Vereinbarungen über Abgaben auf Geldmarktgeschäfte scheitern, im Golf von Mexiko eine Ölquelle das Meer auf Jahrzehnte verseucht und die Staatsschulden aller Industrienationen munter wachsen, haben Plots wie die Ausgangssituation von „Two and a Half Men“ Konjunktur:

Charlie lebt in einem Strandhaus in Malibu, hat viel Geld und arbeitet dafür wenig (er komponiert Werbejingles). Er hat jeden Tag eine andere Frau im Bett, trinkt gerne und ist spielsüchtig. Kurzum: er genießt sein entspanntes Leben und lebt in den Tag hinein. Wenn er nicht gerade seinen Rausch ausschläft.
Sein Bruder Alan ist dagegen das komplette Gegenteil: kleinkariert, neurotisch und verklemmt. Ein typischer Losertyp, der sein Leben nicht wirklich auf die Reihe kriegt.

(www.zelluloid.de)

Das titelgebende Familienmodell entspricht dem Trend zum Alleinerziehenden, der hier nun durch seinen Bruder ergänzt wird: Charlie beherbergt Alan (Jon Cryer), und dessen Sohn Jake (Angus T. Jones) komplettiert eine rein männliche Kleinfamilie.

Screenshot: kabel eins, 22.06.2010

In der Folge „Mr. Pinky und Mr. Pipi“ (Original: „We Called It Mr. Pinky“) wird die laszive Grundtendenz der gesamten Serie in einem Schnellkurs Metapherntheorie und Psychoanalyse durchexerziert. Der zum Zeitpunkt der Erstausstrahlung 2005 12jährige Darsteller des Jungen Jake darf am laufenden Band in einer Mischung aus dead pan und frühreifer Abgeklärtheit die Ambivalenz des Wortes „Cremetörtchen“ ausspielen. Mit dieser Köstlichkeit gewinnt eine Schulkameradin des Jungen seine Gunst.

Sein Onkel Charlie hält dies für „ne perfekte Metapher“. Am Schluss der ersten Szene antwortet Jake auf die Frage seines hinzukommenden Vaters, worüber gerade gesprochen werde, lapidar mit: „Sex.“ Daraufhin Charlie: „Was sagt man dazu? Der Popelfresser hat die Symbolik kapiert.“ Was in der Mediengeschichte eines der größten und absurdesten Dramen ist – das Verstehen von Metaphern –, wird hier unter johlendem Gelächter eines inexistenten des Studiopublikums (in Deutschland aus der Tonkonserve) als beiläufige Harmlosigkeit heruntergespielt. Charlie: „Ich hab ‚Cremetörtchen‘ als Metapher benutzt. Sogar der Kleine hat’s verstanden.“ Die sexuelle Überdeterminierung eines alltäglichen Genussmittels für alle Altersstufen wird von Alan zudem mit anderen popkulturellen Entsprechungen in Verbindung gebracht: „Sprichst du von Backwaren oder sprichst du mit mir im Hip-Hop-Slang?“

Das lebensanschauliche Statement der Serie ist recht eindeutig: Charlie wird zwar als etwas beschränkt dargestellt, hat aber eine Menge Spaß und führt mehrere sexuelle Beziehungen gleichzeitig – das illusionäre Gegenbild eines Aids-Zeitalters, in dem dies lebensgefährliche Risiken bergen kann. Auch die von psychologischen und soziologischen Studien z. T. problematisierte Tendenz einer emotionalen Verarmung durch verdinglichte und oberflächliche Beziehungen, wie sie in fetischisierten Filmbildern und menschlichen Verhaltensmustern in extrem auf materielle Werte fixierter Kultur paradigmatisch realisiert sind, wird Gegenstand des Dialogs. Ein bigotter ideologischer Trick dabei ist, dass Charlies hedonistische Prinzipien zwar durch den vertrauenerweckenden biederen Alan konterkariert und verurteilt werden (womit ein durchschnittliches moralisches Empfinden von Zuschauern sympathisiert), während Alan in seinen Erlebnissen und Beziehungen de facto als Trottel meist der Lächerlichkeit preisgegeben wird (wodurch eine Solidarisierung mit dem triebhaften Charlie stattfindet, der es vormacht, wie man solchen Niederlagen und Demütigungen nach Möglichkeit entgeht). So kann in einer massen- und familientauglichen und scheinbar unverdächtigen TV-Serie (die entsprechend zu jeder Tageszeit gesendet wird) einerseits einem rigiden moralischen Kodex vordergründig entsprochen, (was u. a. Stoff für Rechtfertigungen im Jugendschutz bietet), andererseits einem promiskuitiven und rauschorientierten Affen reichlich Zucker gegeben werden.

So funktioniert es bis in einzelne Satzfolgen, in denen konservative Empörung, verlogene Zustimmung und Vereindeutigung der sexuellen Metapher dichtgedrängt aufeinanderfolgen. Alan: „Du hast meinem Sohn gerade gesagt, er kann mit einem Mädchen Sex haben, ohne ihm Gefühle entgegenzubringen?“ – Charlie: „Ich hätte auch mit ihm über’s Cremeschüsselauslecken reden können. Aber ich hab Verantwortung gezeigt.“

Dies sind Psychotechniken, die auf eine unausgegorene Einsicht in Überzeugungen, Notwendigkeiten, Unbewusstes und Unvermeidliches spekulieren. Konstruiert sind sie aus den genannten Elementen einer jugendfreien, weil weitgehend indirekt sprachlich agierenden Sexualisierung und tendenziösen emotionalen Steuerung von Zuschauersympathien (die naheliegen, aber kaum bis ins Letzte statistisch und interpretatorisch ‚objektiv‘ nachweisbar sind). Dies ist eine praktische Anwendung von Wissen, wie es von einer Geliebten Charlies, Rose (Melanie Lynskey), verkörpert wird, die einen „Master in Psychologie“ als Zeugnis vorweisen kann. Über seine angeblich ödipale Beziehung zu seiner Mutter klärt sie Charlie auf: „Und deshalb sind bei dir Sex und Aggression konnotiert.“ – Charlie: „Komm schon, spielen wir hier Fremdwörterraten?“ (Lacher vom Band) – Rose: „Das bedeutet ‚verschmelzen‘.“

Abermals werden hier zynisch die von Hochschulabsolventen fabrizierten Serienfiktionen, die auf einem hochgradig in Fremdwörtern codierten Wissen basieren, pseudowitzig als vertrauenerweckend naiv heruntergespielt. Die Doppel- und Mehrfachcodierungen von Spielfilmen und TV-Serien aller Art sind stets ein „Fremdwörterraten“, doch die Hauptfigur eines solchen Szenarios stellt dies in um Einvernehmlichkeit buhlender Weise als Sonderfall dar. Die nächste Zündstufe des so verstandenen Hohns der Macher besteht darin, die angeblich psychologisch ausgebildete Figur der Rose eine falsche Erklärung des fraglichen Fremdwortes geben zu lassen: Die Konnotation als „zusätzliche Bedeutung“ wird so zur ‚Verschmelzung‘. (Den erotischen Anklang dieses Begriffs spielt Charlie in niedlicher Adaption des Wortes bei einer anderen Bettgenossin später noch einmal aus.) Rose greift mit dem Begriff der Konnotation überdies – nun im Kontext der Freudschen Theorie vom Ödipuskomplex – in einer allgemeineren Verwendung eine zentrale Funktion der Metapher auf.

Ganz so wissenschaftlich darf es jedoch nur für Sekunden gehen. Dem einfältig genießenden Charlie muss Rose seine vorübergehende Impotenz denn auch in Kinderreimen wie diesem erklären: „Ist deine Seele platti, kriegst du auch nie mehr Latti.“

So wurschtelt sich „Two and a Half Men“ eher schlecht als recht an Jugendschutzgesetzen in unseren Landen vorbei. Die immer wieder verbal bekundete Neigung Charlies zu Alkohol ist eine (kostenlose?) Werbung für die Spirituosenindustrie, die sich offensichtlich mit entsprechenden Vorschriften nur deshalb verträgt, weil es eine fiktive Dauerfortsetzungserzählung (derzeit 161 Folgen) und kein Werbespot ist:

Werbefilme oder Werbeprogramme, die für Tabakwaren oder alkoholische Getränke werben, dürfen unbeschadet der Voraussetzungen der Absätze 1 bis 4 nur nach 18 Uhr
vorgeführt werden.

(Jugendschutzgesetz)

In diesem Gesetz findet sich auch ein weiterer Passus, der Anwälten der Content-Industrie natürlich noch einigen Ermessungsspielraum bietet. So seien „Jugendgefährende Trägermedien“ u. a. solche, die

Kinder oder Jugendliche in unnatürlicher, geschlechtsbetonter Körperhaltung darstellen

Diese Formulierung können Sie einmal mit einer Einstellung aus der letzten Szene der besprochenen Folge von „Two and a Half Men“ in Beziehung setzen:

Screenshot: kabel eins, 22.06.2010

Entsprechend zu dieser Ansicht gibt Charlie in der ersten Szene seinem Bruder Alan unter vier Augen eine Erklärung, die dem Zuschauer in der letzten Szene nützlich sein kann: „Du kennst ja nicht mal den Unterschied zwischen deinem Ding und deinem Daumen!“ Einmal mehr ergibt sich die chiastische Verschränkung der zynischen Logik: Eine Figur kennt angeblich den „Unterschied“ zwischen Daumen und Penis nicht. Die filmische Inszenierung – hier durch den gesamten Kontext der Folge, die Konnotationen eines solchen Bildes vereindeutigt – wirkt jedoch gerade darauf hin, dass die Formanalogie, auf der eine solche Verwechselbarkeit basiert, den Zuschauer die kindliche Gestalt des 12jährigen zu einer Fellatio betreibenden Figur umdeuten lässt. Dabei hält Jake die erklärte „Metapher“ des weiblichen Geschlechts in der anderen Hand.

Die vielfach onanistische Konsequenz einer von sexuellen Fantasmen der Massenmedien bestimmten Kultur bringt Charlie noch einmal abschließend auf den Punkt, als der zu Übergewicht neigende Jake ein ganzes Blech Cremetörtchen gebacken hat, um von der liebevollen Gunst seiner Schulkameradin unabhängig zu sein: „Er nimmt die Sache jetzt selbst in die Hand. Die Metapher ist damit vollendet – ja.“ Die bisher letzte Episode der Serie lässt übrigens noch anderes ahnen: “This Is Not Gonna End Well” (USA 2010).

Daniel Hermsdorf

Verleger, Autor, Journalist bei filmdenken.de - Medienkritik, Verschwörungstheorie und Physiognomik

5 Antworten

  1. Lisa sagt:

    Auch wieder wahr.

  2. lisa sagt:

    inexistentes studiopublikum, klar. ausser dass ich selbst schon da war. da weiss ja jemand mal so richtig gut wovon er redet…
    http://www.tvtickets.com/fmi/xsl/shows/browserecord.xsl?&Show=two+men

    • Danke für den Hinweis auf die Livesituation, das wusste ich nicht und habe die Textstelle korrigiert. In der hier verwendeten deutschen Synchronisation hört es sich recht deutlich nach den üblichen Konserven-Lachern an, was tontechnisch auch kaum anders denkbar ist: Man würde ja bei Übernahme der Publikumslacher durch den Raumton auch noch Fragmente des gesprochenen Originaldialogs hören.

  1. 7. Januar 2011

    […] Wir erinnern uns daran, dass dies auch in einem verhältnismäßig bekannten Film wie Erwin Wagenhofers „Let’s Make Money“ (A 2008) thematisiert wird. Aber der wird ja nicht so oft wiederholt wie „Two and a Half Men“. […]

  2. 4. Juni 2011

    […] Ideologien wiedererkennen, die das TV-Programm selbst gedeihen lässt? Wer seine Jugend über mit Charlie Sheen und vergleichbaren Ulknudeln zugeschnürt wird, ist auf solch eine Nachricht nicht eben gut […]

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