Ein Super-(RTL-)Vormittag

Die Osterferien haben begonnen, aber am Kinderprogramm von Super RTL ändert dies nur wenig. Weit entfernt ohnehin seit Jahren die Grundsatzfrage, warum es TV-Vollprogramme für Kinder braucht. Ein Blick auf die Seite „www.tvprogramme.net“ zeigt z. B. im Archiv für Donnerstag, den 19.04.1984, dass das Vormittagsprogramm von ARD und ZDF um 9.25 h mit einer „Sendung mit der Maus“ begann, die bis 10 h dauerte. Es folgten mit Nachrichten, einem wiederholten Fußball-Länderspiel, „Umschau“ und „Kinohitparade“ bis mittags Erwachsenenprogramme. An anderen Tagen gab es statt „Maus“ die „Sesamstraße“, freitags begann das Programm erst um 10 h.

Es dürften dann eher Schichtarbeiter gewesen sein, die, wie am 18.04.1984, ab 10.23 h bis mittags „WISO“, „Die Montagsmaler“, „Prager Notizen“ und „Report“ sahen. In der Gegenwart sind jedoch auch und gerade Kinder abkommandiert, schon ab frühmorgens den Programmen zu folgen. Der öffentlich-rechtliche Ki.Ka öffnet seine Schleusen ab 6 h mit einem erheblich erweiterten Sortiment, zu dem nach wie vor die „Sesamstraße“ gehört.

Super RTL scheint sogar noch von einem tageszeitlich früheren Einstieg in die Glotzerei auszugehen. Seine aktuellen Mediadaten geben u. a. Marktanteile bei 3-13jährigen Zuschauern für den Zeitraum von „3-3 Uhr“ an (21,3 % für Super RTL, 16,3 % Ki.Ka). Für die „Daytime“ von 6-20.15 h sind es dann 23,8 % Super RTL, 20,6 % Ki.Ka.

Florian Rötzer reicht am 21.04.2011 auf „Telepolis.de“ Informationen zu einer neuen australischen Studie durch, die gesundheitsschädliche Wirkungen von Medienkonsum bei Kindern beschreibt – aufgrund ihrer Bewegungslosigkeit vor Bildschirmen und daraus folgenden Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Was schon für jeden intuitiv selbstverständlich ist, dessen Kindheit sich vor 1990 abspielte, wird durch solche wissenschaftlichen Erhebungen bestätigt. Für Medienpolitik scheint es jedoch nicht handlungsleitend zu sein. Denn die Folge würde schlicht heißen: Wir brauchen keine so breite und zeitlich flächendeckende Angebotspalette für Medienkonsumenten, die sich noch in körperlicher und geistiger Entwicklung befinden, nicht selbstständig über ihren Konsum entscheiden können und sollten.

Die medienwirtschaftliche Realität bei Super RTL ist jedoch eine ganz andere. Schaut man sich einmal die Stellenausschreibungen an, die hier den Gegenstand von Tätigkeiten durchschimmern lassen, wird klar: Mit Pädagogik hat man wenig bis gar nichts zu tun, obwohl man mit Millionen von Kindern umgeht. Zentral sind Betriebswirtschaftslehre, Marketing und der Umgang mit der Microsoft-Präsentationssoftware „PowerPoint“, um Zuschauerzahlen, Zielgruppen und Geschäftsentwicklung zu beobachten, zu analysieren und Neulingen in der Branche den Eindruck zu vermitteln, diese Geschäftspraxis sei eine ‚Normalität‘.

Wie es sich auch an anderen Kulturentwicklungen ablesen lässt, geht es in der Mehrzahl von Tätigkeiten, aus denen letztendlich „Kultur“ entsteht, nicht mehr um Inhalte (die letztendlich aber das einzige sind, was im Hirn von Konsumenten ankommt) und ihr Für und Wider, sondern um Vermarktung und Oberflächen-Design. So die Aufgabenfelder von Super-RTL-Praktikanten:

Sales & Marketing
• Merchandising – Marketing-Team (aktuell vakant)
• Merchandising – Sales-Team (aktuell vakant)
• Merchandising – Handelsmarketing (ab Mitte Juli)
• Merchandising – Artwork Approval (ab Mitte August)
• Marketing & Brand Management (ab Mitte August)
• Eventmarketing (ab September)
• Merchandising – Musik (ab Mitte September)
Neue Medien
• Online Redaktion elementgirls.de (ab August)
• Online-Clubs/Paid Content (ab August)
Programm
• Programmplanung (ab August)

Dass Bewegungsarmut bei TV-Kids ein Problem ist, weiß man jedoch vermutlich auch in diesem Sender. Und so findet sich im Vormittagsprogramm des 21.04.2011 um 7 h morgens für ganze 10 Minuten ein an das Prinzip von Fitness-Videos angelehntes Format, in dem die kleinen Zuschauer durch gleichaltrige Mitwirkende in der filmischen Darbietung zum „Schwabbelquallentanz“ aufgefordert werden (6.50-7 h, „Tamusiland mit Detlev Jöcker“).

Dieser Spuk ist schnell wieder vorbei. Doch halt: Vor 6 h, dem eigentlichen Programmbeginn, wird Fitness großgeschrieben. Den Block von Dauerwerbesendungen zwischen 5 und 6 h teilen sich zu je einer halben Stunde DJ Ötzi mit einer CD-Kollektion und der „AbDoer Twist“, ein Trimm-Dich-Gerät. Letzterer verspricht laut Off-Kommentar „biometrische Synergieeffekte“ bei der körperlichen Ertüchtigung – für die man hier mal wieder nicht vor die eigene Haustür gehen muss, weil man sich sonst vielleicht noch zu weit vom Fernseher wegbewegt. Werbetext: „In nur ein paar Minuten pro Tag erleben Sie ein spannendes und aufregendes Training für den ganzen Körper – während Sie fernsehen können. […] Gleichzeitig trainieren Sie mit der neuen Twist-Technik auch Ihre Beine, die Waden, den Po und die Oberschenkel – alles bequem im Sitzen.“

Auch dies werden sich Kinder, die gewöhnt werden, Super RTL einzuschalten, hier und da anschauen. Um 6 h heißt es dann endlich: „Benjamin Blümchen“. Die Folge am 21.04.2011 hat gar einen ökologischen Touch und bringt einen Bürgermeister auf den rechten Weg, der mit seinem Auto illegal durch einen Wald gefahren ist, beinah ein Rehkitz überfahren hat und das Biotop auch noch mit einer neu zu bauenden Straße zerstören will. Am Ende wird alles gut und die elefantöse Hauptfigur Hilfsförster auf Lebenszeit.

Dies ist ein Beispiel, das auf der inhaltlichen Ebene sicher als Pro-Argument für die Kindertauglichkeit des Programms ins Feld geführt werden könnte.

Schaut man sich die formale und gestalterische Ebene einmal an (auf dieser Website hier und hier an anderen Angeboten dieses Senders schon geschehen), relativiert sich diese Einschätzung jedoch. Erwähnenswert für „Benjamin Blümchen“ sind etwa die Bedrohungs- und Todesmomente. Für diese wäre in der Medienpädagogik genauer zu reflektieren, inwiefern sie sich von grausamen Aspekten etwa der Märchenkultur unterscheiden.

Hier soll zunächst festgehalten sein: Es ist der Inhalt, in dem sich beides Letztgenannte trifft (und der hier im Sinne von Warnungen vor gefährlichem Autoverkehr modernisiert wird). Es ist die Form, in der sich ein erzähltes Märchen vom TV-Film unterscheidet. Und es ist diese Form, die Super RTL von Programmen wie der „Sendung mit der Maus“ (WDR) unterscheidet, deren Begründer Armin Maiwald auch am Ki.Ka-Programm bemängelt, es sei „alles nur schrill und schreiend bunt, das nähert sich immer mehr dem Privatfernsehen an“ (netzzeitung.de, 10.11.2009).

In der szenischen Auflösung finden sich in der Folge „Benjamin Blümchen als Förster“ (B: Ulli Herzog / Klaus P. Weigand, Storyboard: Christian Puille) gleich drei Szenen, in denen in identischem Ablauf eine Figur tödlich bedroht und knapp gerettet wird. Ein kleiner Pandabär wird beinahe von abgeladenen Baumstämmen erschlagen. Ein Rehkitz wird fast von einem Auto überfahren, wobei die Abfolge der Einstellungen den Zuschauer ‚überfährt‘, also heranpreschenden Wagenkühler und zurückweichendes Heck zeigt; später stürzt das Kitz in einen Abgrund und wird durch einen Felsvorsprung vor dem Tod bewahrt. In den ersten beiden Beispielen wird die Gefahr durch schnelle, heftige Bewegung indiziert; stets ist die Aktion von schreckerfüllten Gesichtsausdrücken der Figuren begleitet:

Screenshot: Super RTL, 21.04.2011

Von den meisten Darstellungsformen in den Sendungen von Super RTL ist zu sagen, dass sich ihre Schnittfrequenz von Erwachsenenprogrammen kaum unterscheidet. Für einen kindlichen Blick (und zumal demjenigen von Zuschauern, die noch jünger als ca. 6 Jahre alt sind) dürfte dies oft überfordernd wirken. Schnelle Schnitte, schnelle Bewegungen im Bild, schnelle Kamerabewegungen – all dies kulminiert dann noch einmal in den zwischengeschalteten Werbeblöcken, in denen die filmästhetische Adrenalinschleuder kein Halten mehr kennt.

Ob „Chuggington – Die Loks sind los“, wo man schon im Vorspann von einem Eisenbahnzug überrollt wird, …

Screenshot: Super RTL, 21.04.2011

… oder in der Disney-Produktion „Geheimagent Oso“ – …

Screenshot: Super RTL, 21.04.2011

… immer wieder sausen Objekte und Figuren auf das (im Trickfilm virtuelle) Kameraobjektiv zu, die Verbindung von Szenen wird mit hektischen seitlichen Reißschwenks in Farbschlieren inszeniert, oder die Szenerien wechseln in Sekundenschnelle und surrealistisch-psychedelischer Manier von einem Raum in den nächsten (Pseudo-)Raum. Wo Kinder erst einmal lernen müssen, Bewegungen einzuschätzen und mit ihrem Körper adäquat zu reagieren, werden ihnen hier die Bildelemente blitzschnell ‚um die Ohren gehauen‘. Der Effekt dürfte in sensomotorischer Abstumpfung bestehen, mit der solcherart konditionierte Wahrnehmungsapparat reagieren muss, um den visuellen Stress zu reduzieren.

In der Serie „Cosmo und Wanda – Wenn Elfen helfen“ kommt es verstärkt zu körperlichen Beeinträchtigungen der Figuren und anderen spektakulär-gewalttätigen Ereignissen wie Explosionen. Und die Figuren werden in vielen nahen Einstellungsgrößen zeichnerisch auf die Wirkung von aufgerissenen Augen und Gebiss getrimmt:

Screenshot: Super RTL, 21.04.2011

Die Gestalter von Bildwelten für die Kleinsten hantieren hier auf inflationäre Weise mit elementaren fazialen Signalen, über die etwa die biologische Verhaltenstheorie Auskunft gibt. So Irineäus Eibl-Eibesfeldt in „Liebe und Hass“ (1970):

Weitere Drohbewegungen, die wir mit den Menschenaffen teilen, sind das Aufstampfen mit den Füßen bei Ärger und das Zeigen der Eckzähne bei Wut.
(Eibl-Eibesfeldt, Irenäus [1987]: Liebe und Hass. Zur Naturgeschichte elementarer Verhaltensweisen. München, 13. Aufl. [OA.: 1970], S. 28f.)

Otto König schreibt in „Urmotiv Auge“ (1975) von

dem aggressiv getönten Ausdruckswert des scharfen Iris-Sklera-Kontrastes […].
(König, Otto [1975]: Urmotiv Auge. Neuentdeckte Grundzüge menschlichen Verhaltens. München, S. 80)

Die Gedächtnislosigkeit unserer Kultur gegenüber solchen Beobachtungen und Erkenntnissen lässt denjenigen, die mit ihnen fahrlässig umgehen, freie Bahn. Im medialen Mainstream wird etwa 08.05.1989 im „Spiegel“ noch als Titelgeschichte diskutiert – und bis heute hier im Online-Archiv veröffentlicht –, dass die „Droge Fernsehen“ „süchtige Kinder“ hervorbringe. Da heißt es dann – schon zu diesem Zeitpunkt realitätsnah –:

Der wahre Kinderfernseh-Alltag ist eben häufig kein herziger “Weg der Poesie”, den der ZDF-Mann Schächter so blumig beschwört. Leichen pflastern diesen Weg, in all den gewaltgeladenen TV-Trugbildern wie “Ein Colt für alle Fälle”, “Der Fahnder” oder “Matlock”, über die in den Klassen- und Kinderzimmern aufgeregt getuschelt wird. […] In der Sehzeit mit höchster Kinderbeteiligung – zwischen 18 und 20 Uhr – dienen auch im öffentlich-rechtlichen deutschen Angebot die Kinder nur als wohlfeiles Quoten-Futter im Kampf um die 1,6 Milliarden Mark, die jährlich in die TV-Werbung fließen und immer härter umkämpft werden.

Die Frage bleibt in Bezug auf Wirkungsästhetik, was hier exakt was bewirkt. Ist es Aufstachelung oder Kompensation? Eibl-Eibesfeldt spricht beides an, merkt aber – wohlgemerkt schon 1970, fernab der heutigen TV-Programme – an:

Man kann Aggressionen auch abreagieren, indem an einen Film aggressiven Inhalts betrachtet; offenbar identifiziert man sich mit dem Geschehen. Das große Angebot von Filmen mit aggressivem Inhalt durch Kino und Fernsehen zeigt, daß hier ein Bedürfnis – ein Markt – vorliegt. […] Das Ansehen aggressiver Filme aktiviert Aggressionen, und nicht immer sind die Filme so aufgebaut, daß diese Aggressionen des Betrachters auch wieder abgegbaut werden. Das hohe Angebot an Gewalt, Brutalität und Sadismus, das in den Massenmedien in Erscheinung tritt, ist daher höchst bedenklich.
(S. 92)

Die kulturellen Begleitumstände, die Eibl-Eibesfeldt hierzu benennt, haben sich in meiner Schilderung der Dialektik von extremer Bewegungsillusion, Bewegungslosigkeit der Zuschauer und (Pseudo-)Fitness-Angeboten, die selbst wieder Fernsehen und räumliche Isolation implizieren, auch 2011 für das Super-RTL-Programm in hohem Maße bestätigt:

Wir leben […] in einer Zoo-Situation als Gefangene in den Käfigen unserer Städte. Die Naturentfremdung wird als Entbehrung erlebt, wie die Massenflucht aus den Städten an Wochenenden beweist. Diese Frustrationen tragen erheblich zur Steigerung der menschlichen Aggressivität bei. Auch das Kleinkind ist im zivilisatorisch veränderten Familienmilieu diesen Belastungen ausgesetzt.
(S. 262)

Besonders heftig und schnell schlägt das bei Super RTL etwa im Werbespot auf das gelenkte Interesse der kleinsten Konsumenten um. Slogan: „Rüste dich für den Kampf – mit dem neuen Bakugan Battle Gear“.

Vergleichbare Komponenten wie die zuvor an Programminhalten beschriebenen findet man bei Super RTL auch in der – wie „Cosmo und Wanda“ kanadischen – Zeichentrick-Serie „Die Superschurken-Liga“, die zudem in Setting und Farbgebung eine düstere Gothic-Ästhetik pflegt. Und wie andere erwähnte Serien gibt es davon vormittäglich nicht nur eine Ration, sondern gleich mehrere: 2 x 10 Min. „Chuggington“, 4 x 30 Min. „Cosmo und Wanda“, 4 x 25 Min. „Die Superschurken-Liga“.

Verhackstückte Sensomotorik, grelle Farb- und Formspiele, Gewalt- und Todesszenen, radikale zeitliche Ausdehnung der Sendestrecken sind der Status quo dieser massenmedialen Bildkultur. In der breiteren Öffentlichkeit zeichnen sich dazu bisher keine nennenswerten Reaktionen ab, die den hier aufgezeigten Aspekten, wenn sie denn einmal konsensfähig als problematisch und schädlich erkannt wären, etwas entgegenzusetzen hätten.

Von Seiten der Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) sind etwa Pressemeldungen zu lesen wie jene vom 13.07.2010, in der die Berufung eines „Bundesjugendkuratoriums“ mit der Forderung verbunden wird, „die Herausforderungen der frühkindlichen Bildung zu meistern“. Wer meint, TV-Programme wie Super RTL seien in solche Zielvorstellungen integrierbar, sollte sich mit den zuvor angesprochenen wahrnehmungspsychologischen und inhaltsästhetischen Fragen nachhaltig beschäftigen.

Ob sich die auf praktischer Seite Verantwortlichen einer notwendigerweise unbequemen öffentlichen Diskussion stellen würden, dürfte fraglich sein. Dies wäre allerdings der notwendige Anfang, auch deshalb, weil eine visuelle Inszenierung und ihre wahrnehmungspsychologische Wirkung auf bestimmte Altergruppen derzeit keine juristischen Vorgaben und Einschränkungen möglich macht, mit denen im Fall einer Verweigerung des Gesprächs und der effektiven Selbstkontrolle zu operieren wäre.

Daniel Hermsdorf

Verleger, Autor, Journalist bei filmdenken.de - Medienkritik, Verschwörungstheorie und Physiognomik

4 Antworten

  1. Todd sagt:

    Haben Sie einen rss feed, den ich abonnieren kann?
    Fabelhafte Erklärung, Sie haben einen neuwertigen Leser dazugewonnen.

  2. Malte sagt:

    Aufschlussreicher Post. Sicher kein Fehler, sich mit der Thematik näher zu befassen. Ich werde auch die nächsten Beitraege verfolgen.

  3. philgeland sagt:

    Danke, dass Sie hier einen Baustein medialer Beeinflussung (anhand eines konkreten Beispieles) detailliert beschreiben, welcher sich in jenes schillernd-verführerische Bilder-Mosaik fügt, das sich aus so Steinchen wie den Teletubbies für die Kleinsten, Killerspiele für Heranwachsende und so manchem Machwerk des Mainstreamkinos zusammensetzt.

    Ein “roter Faden” ist, so wie ich finde, unverkennbar.

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