Fluch der Republik, Teil XXL

13.07.2008

Vorweg: Sie sind nicht auf der Domain "www.gebuehrenpflichtig-noergeln.de" gelandet. Aber. Es ist beschämend, dass ein voraussichtlich existierendes Millionenpublikum hierzulande mit allerhand Desinformation abgespeist wird, könnte es etwa mit dem Werk des englischen Dokumentarfilmers Adam Curtis wesentlich bessere Alternativen wahrnehmen. Die BBC-Produktionen 1992ff. sind seltene Glanzstücke des TV-Journalismus. Das entdecke ich nicht als erster, doch hat keine der Produktionen es bisher zu einer Aufführung im deutschen Fernsehen - und sonst auch fast nirgendwo außerhalb von Great Britain - gebracht. (Zur Verfügbarkeit im Netz s. u.) In den letzten Wochen habe ich aus gegebenem Anlass audiovisuellen Konsum einmal mehr mit eigenverantwortlichen Konserven absolviert. Und was man in Curtis' Doku-Serien "Pandora's Box" (GB 1992) und "The Century of the Self" (GB 2002) zu sehen und hören bekommt, ist eine jener Erfahrungen, die einen im Vergleich bei der Betrachtung des sonst üblichen TV-Programms mit einer Konfusion aus Lachanfällen und fortschreitender Hoffnungserweichung zurücklässt. Denn: Was Curtis in einer Folge aus historischen Dokumenten und eigenen Interviews montiert, erlaubt nachhaltige Einsichten in die jeweils gestellten Themen, welche sind: die Theorien und realpolitischen Implementierungen von Psychologien und Psychotechniken im 20. Jahrhundert ("The Century of the Self") sowie die Geschichte und Auswirkungen von naturwissenschaftlichen und technischen Erfindungen an paradigmatischen Beispielen im selben Zeitraum ("Pandora's Box"). (Mögliche Trugschlüsse oder Verkürzungen immer eingeräumt, wo das Quellenmaterial endet, das hier aber zumindest ausgeschöpft wird...)

Sieht man im Vergleich dazu, wie etwa Hans-Olaf Henkel in einer gegenwärtigen Talkshow "Maybrit Illner" (ZDF, 03.07.2008) über Atomenergie redet, ist dies eine bemerkenswerte Erfahrung in Befremdlichkeit. Was Curtis gelingt, ist ein historischer und kulturwissenschaftlicher Blick auf Personen, Traditionen und symbolische Systeme. Dabei werden Inhalte, Ideologien, Absichten, Erfolge wie auch Misserfolge, Partialinteressen wie auch massenhafte reale, veränderliche und anhaltende Konsequenzen für das Leben von Millionen (jenen, die eben auch die Sendungen im TV sehen können) deutlich. Was Henkel liefert, ist die immergleiche Begründung eines Technik- und Wirtschaftssystems, das in seiner Eigenlogik zunächst Interessen Einzelner durchsetzt und dann als ewiges Gesetz suggeriert. Bei Curtis werden die Widersprüche von historischen Ereignissen, von individuellem Handeln und komplexen Systemen erfahrbar: Das Insektizid "DDT" ist so lange ein Schlager, bis noch nicht klar ist, dass es sich im menschlichen Körper anreichert, Vögeln die Lebensgrundlage raubt und die Schale ihrer Eier zum Brechen verdünnt. Die Bilder von Landschaften und Menschen, die unbedarft mit dem Pulver eingehüllt werden, erreichen in der historischen Perspektive groteske Qualität. (Und vieles von dem, was wir gegenwärtig im TV sehen, wird bald ebenso grotesk wirken.) Besucht einer der Chefentwickler sowjetischer Atomtechnik, Valeri Legasov, 1986 noch voller Optimismus kipperauchend die Unfallstätte Tschernobyl und verkündet, er habe ja selbst Kinder, räumt er bald darauf im Interview falsche Erwartungen an die Atomenergie ein und nimmt sich 1988 - schon an Folgen seines Besuchs am verstrahlten Unfallort leidend - am zweiten Jahrestag der Katastrophe mit einem Strick das Leben. Dies und anderes sind technische Fakten, historische und menschliche Ereignisse, die in der augenscheinlichen Selbstgefälligkeit eines Herrn Henkel, der mit 22 Jahren sein Studium beendete, um die - nicht vom Himmel gefallenen - Sachzwänge industriellen Wirtschaftens kennenzulernen und auszuüben, keinen Ort zu haben scheinen.

"Tschernobyl" ist nun der paradigmatische Unglücksfall in der fernen Ukraine, der zum Symbol einer prekären Technik geworden ist. Gegenüber allen Versicherungen emsiger Forscher wirken die zeitlichen Dimensionen des Projekts Atomenergie schlichtweg jenseits aller menschlichen Kompetenz, d. h. größenwahnsinnig. So die Wikipedia über Halbwertzeiten und Lagerung von Atommüll: "In Deutschland haben sich Wissenschaftler, Atomkraftbefürworter und Atomkraftgegner im Rahmen von Analysen des 'Arbeitskreis[es] Auswahlverfahren Endlagerstandorte' (AKEND) festgelegt, dass Atommüll für einen Zeitraum von einer Million Jahre[n] sicher von der Biosphäre abgeschlossen werden muss. Das wären 1000 x 1000 Jahre, bzw. 50.000 (Menschen-)Generationen. Früher war ein Zeitraum von 10.000 Jahren willkürlich gewählt worden, ist aber angesichts der Halbwertszeit beispielsweise von Plutonium-239 mit 24.000 Jahren sehr kurz. Andere Substanzen haben sogar Halbwertszeiten von Millionen von Jahren. Damit ist allerdings ihre Aktivität entsprechend schwächer als bei kurzen Halbwertszeiten."

Da mag es korrekt sein, dass deutsche Atomtechnik zur sichersten gehört und wir bei ihrer Abschaffung riskanter produzierten Strom von anderen kaufen müssten, wie Henkel es in der aktuellen Talkshow abermals betont - gegenüber der vermutlich zutreffenden Einschätzung des Schauspielers und Sympathisanten der "Linken", Peter Sodann, dass die meisten Menschen im individuellen Gespräch schnell vom Irrwitz dieser Art von Energiegewinnung und ihrer Folgen überzeugt wären - obwohl, so ist zu ergänzen, sie das Gegenteil wählen und Energie verbrauchen, die anderswo nur ad hoc umweltschädigender zu haben ist. Und man hört noch in diesen Tagen ("Wer soll das bezahlen? Energiepreise auf Rekordhoch", Phoenix-Runde, 29.05.2008) von Joachim Pfeiffer, dem energiepolitischen Sprecher der CDU, dass die Kosten für 20.000 Jahre Aufbewahrung des anfallenden gefährlichen Mülls im gegenwärtigen Preis schon enthalten seien. Im Wortlaut sagt er über deutsche Atomkraftwerke: "... die produzieren im Moment mit den günschtigschten Strom. Im übrigen sind die Entsorgungskoschten in den Strompreis bereits einkalkuliert, und die Rücklagen sind da äh für die Endlagerung, die dort äh... gemacht wird."

Passgenau werden Mitte Juni Probleme in der Schachtanlage "Asse 2" bei Wolfenbüttel bekannt, wo aus einem vorläufigen Atommüll-Lager radioaktive Lauge (im Fachjargon eine "alkalische Lösung") ausgetreten ist. Im Vergleich zu 24.000 oder gar einer Million Jahren, die man sicher vorausplanen und von Verbrauchsentgelten vorfinanzieren will, sieht die menschliche Realität dann laut www.oekonews.at so aus: "Doch in dem so genannten Versuchsendlager Asse, in dem rund 130.000 Fässer mit leicht- und mittelradioaktiv verseuchtem Müll liegen, ist es mit der Sicherheit schon nach knapp 40 Jahren vorbei. In der Salzlauge, die auf einer Sohle in der Nähe einer mit Atommüll gefüllten Kammer aufgefangen wurde, haben sich Cäsium, Strontium und sogar das hochgefährliche Plutonium gelöst. Laut Bundesamt für Strahlenschutz könnte es bereits in 150 Jahren zu einer radioaktiven Verstrahlung der oberirdischen Gewässer rund um die Asse kommen, bei der die heute geltenden Strahlenschutzwerte um das Vierfache überschritten würden."

Von der Endlichkeit der Uranvorräte (nach gegenwärtigen Schätzungen der Internationalen Atomenergie Organisation [AIEO] reichen sie noch 70 Jahre; gleichzeitig betont jeder Lobbyist mit Nachdruck die Zahl neu entstehender Kraftwerke und erwägt teurere - und ungenannt: umweltschädlichere - Abbaumethoden etwa für riesige bestehende Vorräte unter dem Meeresboden) redet zur Abwechslung mal wieder niemand, obwohl das die Anwendbarkeit dieser Technik, ebenso wie der fossilen Brennstoffe, natürlich limitiert (falls unter den Betonkuppeln nicht in Wirklichkeit heimlich die länger anhaltenden Kohlevorräte verbrannt werden und man sich mit uns einen schlechten Scherz erlaubt - soviel Paranoia muss bei soviel Info- und Planungswirrnis erlaubt sein). Die einzige philosophische Konsequenz kann nur lauten: Leben im Einklang mit der Natur, nur verbrauchen, was nachwächst und die Kreisläufe nicht aus dem Tritt bringt. Alles andere ist wider die Vernunft und gehört schleunigst reduziert. Und diejenigen, die versuchen, dieses Andere zu realisieren, sind aus einer moralischen Perspektive, die über den Tag hinausgeht, kriminell. Dass Henkel ehemaliger Präsident der deutschen Leibniz-Gesellschaft ist, legt in dieser Hinsicht eine Vorliebe für Butterkekse näher als analytischen Verstand. Wobei für Butterkekse nach wie vor so gut wie alles spricht.

Bisher gibt jenen, die die so charakterisierten Straftäter wären - z. Zt. sind sie es nach veränderlichen Gesetzen ja nicht -, die Geschichte Recht: Es lohnt sich, bestimmte Industrien zu bilden, ihre Produkte am Markt durchzusetzen, die komplexen Systeme so zu gestalten, dass sie von ihnen abhängig werden, kritische Diskurse an den Rand zu drängen und die entstehenden Gewinne abzuschöpfen. Dass die Buchsbäume in den Gärten von Atom-Funktionären mit einem Kapital erkauft sind, das in - so ist anzunehmen - mehrfacher Höhe und durch unkalkulierbare Gesundheits- und Umweltrisiken später nachfolgende Generationen zu büßen haben, lässt sich heute nicht beweisen. Und falls es bewiesen werden könnte, sind die Schuldigen bereits tot und christlich beerdigt.

À propos nochmal "christlich": Der CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla stellte am 23.06.2008 für seine Partei den Antrag "Bewahrung der Schöpfung: Klima-, Umwelt- und Verbraucherschutz" vor. Im PDF-Dokument steht: "Auf absehbare Zeit kann auf den Beitrag der Kernenergie zur Stromerzeugung in Deutschland nicht verzichtet werden. Sie ermöglicht es, den Zeitraum zu überbrücken, bis neue klimafreundliche und wirtschaftliche Energieträger in ausreichendem Umfang verfügbar sind. Im Rahmen unserer Klimaschutzstrategie streben wir eine Laufzeitverlängerung von sicheren Kernkraftwerken an." Im O-Ton Pofalla hieß es bei der Pressekonferenz: "Kernkraft ist für die CDU Öko-Energie."

Ein Kommentar erübrigte sich auch hier, wenn nicht laut neuester Forsa-Umfrage derzeit 35% der Deutschen diese Partei wählen wollten, vermutlich, weil Frau Merkel so nett ist und sich als ehemalige Bundesumweltministerin einer Pro-Atom-Regierung ja auch für die Umwelt einsetzt, nachdem eine andere Partei (die Pofalla zum Dank für sein eigenes neues Parteiprogramm "ideologisch" nennt) es der ihren jahrzehntelang vorgemacht hat und der Salär von "Greenpeace"-Funktionären immer noch deutlich unter jenem von steuerflüchtigen Formel-1-Fahrern liegt. Oder irgendwie so.

Die Ersten werden die Letzten sein - das ist eine jener biblischen Weisheiten, die gesellschaftliche Realität nicht müde wird zu beweisen. Ehrlichkeit hingegen zahlt sich aus - auch wenn sie etwas zeitversetzt geäußert wird. In der Dokumentation "175 Jahre Ringier - Patriarchen, Presse und Profit" (CH 2008, R: Christian Kolbe) ist ein Ausschnitt aus einem Gespräch von 1986 zu sehen. Einer der "Patriarchen" des Schweizer Pressekonzerns, Hans Ringier, erzählt Frank A. Meyer, man habe seinerzeit im Verlagshaus die selbst produzierte Illustrierte "Blatt für alle" intern "Quatsch für alle" genannt. Hihi. Verwaltungspräsident Michael Ringier gibt sich in einem aktuellen Interview im selben Film eher grüblerisch, wenn es um die später folgende Boulevardzeitung "Blick" geht (Übersetzung aus dem Schwyzerdütsch): "Ich erinnere mich, dass auf einem Cocktail-Empfang in Luzern jemand auf meine Mutter zuging und fragte: 'Möchten Sie einen Blick-Cocktail?' Und sie fragte, was das sei. 'Ein Glas Wasser mit Scheiße.' Solche Erinnerungen bleiben einem schon." Hauptsache, die Konsumenten erinnern sich nicht daran oder erfahren es erst nach Jahrzehnten. Das meint sicherlich auch Hans-Olaf Henkel, den man in "175 Jahre Ringier" während einer Aufsichtsratskonferenz erblickt. Qualität hat eben ihren Preis.

À propos nochmal "Greenpeace": In dem Porträt über den Gründer der Umweltschutzorganisation, "Der Greenpeace-Macher - David McTaggart" (D 2002, R: Ingo Helm), wird das zwiespältige Bild eines Mannes gezeichnet, der über dem Kampf gegen Atombombentests und Giftverklappung seine familiären Verpflichtungen vernachlässigt, die er durch mehrere Beziehungen und vier leibliche Kinder eingegangen ist. Seine Schwägerin Myrna McTaggart (siehe Abb.) skizziert ihn zudem als verwöhntes Kind, das späterhin geglaubt habe, alle Welt müsse ihn so lieben wie seine zu nachgiebigen Eltern. Wir warten auf die sicher bald folgenden Enthüllungen aus anderen gesellschaftlichen Kreisen - wobei Atommanager, Fußballfunktionäre oder Ölscheichs natürlich von der Kritik ausgenommen und in ihrer Privatsphäre geschützt werden sollten.

Walter Hohlefelder
Myrna McTaggart in
Der Greenpeace-Macher - David McTaggart
D 2002, R: Ingo Helm

Phoenix

Walter Hohlefelder in
Maybrit Illner
10.07.2008

ZDF

Auch das Thema "Atom" lässt uns nicht los. Der aktuellen Debatte um die Schäden in Asse und einem weiteren Störfall im französischen AKW in Tricastin, bei dem 30.000 Liter radioaktive Uranlösung in zwei Flüsse ausgetreten ist, zollt "Maybrit Illner" am 10.07.2008 Tribut, indem sie den ehemaligen Bundesumweltminister Jürgen Trittin (Die Grünen) auf Michael Glos (CSU), Minister für Wirtschaft und Technologie, und den Präsidenten des "Deutschen Atomforums e. V.", Walter Hohlefelder (siehe Abb.), hetzt. Auch Hohlefelder will dem eigenen Wort gemäß "unideologisch" sein. (Gab es schonmal eine TV-Sendung, die ausführlicher über den Gebrauch des Wortes "Ideologie" reflektiert hätte? Etwas anderes als geistige Armut lässt sich bei Pofalla oder Hohlefelder in dieser Hinsicht nicht entdecken - als gäbe es keine Bücher, die man lesen könnte, bevor man redet. Als sagten Worte nicht mehr als ungedeckte Schnitzel, um Martin Kippenberger nicht zu vergessen.) Ergebnis der Sendung ist - wie in TV-Talkshows fast durchgehend zu bemerken - eine uneindeutige Stimmung der losen Fäden und unbewiesenen Behauptungen. Wer für Trittin optiert, kann diesen als Sieger wähnen - denn alle Anzeichen sprechen für seine Position, und entsprechenden Anwürfen haben seine Kontrahenten nichts Nennenswertes entgegenzusetzen. Ihnen gelingt es jedoch, durch Sturheit und Ausweichbewegungen v. a. das gegenwärtig zugkräftige Argument, Atomkraft helfe gegen Klimawandel, durch Wiederholung präsent zu halten, auch wenn glaubhafte Gegenargumente geäußert werden, dass der Anteil von Atomstrom dafür ohnehin zu gering und die finanzielle Ersparnis für Verbraucher ebenfalls inexistent sei, ja, eher in Gewinnen für die Stromerzeuger zu Buche schlage. Wiederholt werden auch von Trittin und der Ökostrom-Produzentin Ursula Sladek die Fakten von "Asse" und "Tricastin". Die Illner-Redaktion wärmt in zwei Einspielern die - hier aktuell eher irrelevante - Tschernobyl-Katastrophe auf und verkauft mit versteckter Kamera an Passanten besonders günstigen Atomstrom. Ein Hauptargument, das die Endlagerquerelen und Störfälle betrifft, nämlich die nachhaltige Umweltvertäglichkeit, bleibt in diesen Beiträgen außen vor. Weder besonders lustig noch aussagekräftig. Und auch die beiden Atom-Befürworter Glos und Hohlefelder müssen im Gespräch kein einziges Mal dazu Stellung nehmen, wie sie es verantworten wollen, für Zehntausende von Jahren gefährlichen Müll zu hinterlassen. "Die Welt" wird es in ihrer TV-Kritik vom 11.07.2008 eine "bizarre Liebeserklärung" nennen, dass Hohlefelder in gespielter Jovialität als Erwiderung auf beklemmende Sachargumente nur noch zu verkünden hat: "Ich liebe nicht die Kernenergie, ich liebe meine Frau." Roland Kaiser meets Agent Orange.

Dass die "Meinungen" und politisch relevanten Erkenntnisse der Akteure von privatwirtschaftlichen Partialinteressen bestimmt sein könnten, liegt sicherlich ganz fern. Glos und Hohlefelder funktionieren in dieser Hinsicht als Spiegelfiguren. Glos: bis Ende 2004 Mitglied im Beirat der "E.ON Bayern AG"; ab Ende 2005 Bundesminister für Wirtschaft und Technologie. Hohlefelder: 1986-94 Abteilungsleitender Ministerialdirektor im Bundesumweltministerium im Bereich Reaktorsicherheit, Strahlenschutz und Nukleare Entsorgung; des Weiteren u. a. 1994-99 Generalbevollmächtigter im Bereich Wirtschaftspolitik, "VEBA AG"; 1999-2001 Mitglied der Geschäftsführung der "E.ON Kernkraft GmbH"; heute pensionierter Lobbyist im genannten "Atomforum".

Für Kritik sorgt auf der "Welt"-Website in der TV-Kritik zur Illner-Sendung leider nicht so sehr die bezahlte Redaktion, sondern die unbezahlte User-Fraktion. "Kaiserbubu" meint: "Die Befürworter der Kernenergie sind eine besonders merkwürdige Truppe. Die beschuldigen die Kernkraftskeptiker, -gegner, diese seien nicht rational denkend und handelnd. Wenn die Skeptiker auf Tschernobyl, die bis heute ungeklärte Endlagerung weltweit (!) verweisen, dann nehmen sie diese Argumente von Gewicht nicht in die Diskussion auf. Es gibt keine seriöse Antwort auf diese Risiken, die aufgrund rationaler Argumente die Skeptiker überzeugen kann. Nicht, weil die Skeptiker Scheuklappen tragen, sondern weil es faktisch keine Argumente gibt. So verbleibt das atomare 'Restrisiko', das die einen als groß, die anderen als klein betrachten. Es ist nicht schwer, welche Gruppe im Streit um die Kernkraft Scheuklappen trägt. Wohl kaum die, die auf Tschernobyl und die weltweit ungeklärte Endlagerung des radioaktiven Mülls verweisen."


Deutschland, Deine Künstler - Herbert Grönemeyer
D 2008. R: Ulrich Stein

ARD

Die Zurechnungsfähigkeit des Wahlvolks (Pofalla: "Das Leitbild der CDU ist der mündige Verbraucher") wird derweil von weniger dramatischen Koordinaten in Frage gestellt. Wer jedenfalls auch nur nach Ansicht der Sendung "Deutschland, Deine Künstler" (ARD, 03.07.2008) über Herbert Grönemeyer noch ernsthaft annimmt, sich auf eine "ehrliche Haut" (G. über "Bochum", wo er nicht mehr lebt - "ich häng an dir") verlassen zu können, dem ist von mir nur bedingt zu helfen. Dass im Verlauf von Konzerten seine Stimme sich zu einem grauenhaften Röhren verwandelt, das er zudem - im Gegensatz zu den Studioversionen - in merkwürdig arhythmischem Gebahren in die Arenen schleudert, bevor er sich auf dem Laufsteg wälzt (siehe Abb. - Annonce eines drohenden Bestsellers "Ich fall dann mal hin"?), gibt nicht nur Anlass dazu - wie G. im Interview insinuiert -, dies zu mögen oder nicht bzw. sich an dieser Tatsache - so G. wörtlich - zu "reiben", sondern vielleicht eher, die Notwendigkeit von musikalischer Erziehung und Praxis bzw. deren Ausbleiben im gegenwärtigen Bildungssystem und der Freizeitkultur jahrelang Fußball studierender Nicht-Gitarristen einzusehen. (Von der sog. "Mikro-Therapie" von G.s Mediziner-Bruder Dietrich mal nicht zu reden.)

Auch solche Unterhaltungsangebote nebst narkotischem Begleitprogramm sind es, die Millionen von Menschen davon abhalten, sich differenziert über ihre Situation zu informieren bzw. die Möglichkeit dazu überhaupt erst einzufordern. Dies zeigt sich in diesen Tagen sehr deutlich an den Reaktionen auf bzw. die Nachrichten-Berichterstattung über die schnell steigenden Benzinpreise. Wer in den letzten Jahrzehnten Gespräche über die exisitierenden Verkehrssysteme führte, hat bei der Mehrzahl der Bürger meist Unverständnis über die Kritik an autoorientierten Varianten geerntet. Noch heute ist das Argument der zahlreichen Arbeitsplätze in der deutschen Autoindustrie für die meisten einsichtiger als der Hinweis, dass die Alternativen für endliche und immer stärker nachgefragte Kraftstoffe nicht geklärt sind, möglicherweise auf längere Sicht gar nicht existieren. Es ist eine weitere Erfahrung von strukturellem Wahnsinn, wenn man z. B. in den N24-Nachrichten vom 07.07.2008 die Meldung von bald möglichen Steigerungen des Literpreises für Benzin auf 2 Euro (von den möglichen 5 Euro oder mehr in zehn Jahren oder weniger mal zu schweigen) und das entsprechende verständliche Klagen von beruflich davon Abhängigen hört, worauf in diesem rein kommerziellen TV-Programm gleich die nächste werbungsartige Sendung ("Tempo - Das Automagazin") mit Fahrberichten für neue Cabrios und ihre "spritzige" Fahrweise folgt, bei der für die mindestens 10fache Sendezeit von den dabei verbrauchten fossilen Energien mal wieder keine Rede ist.

Für die statistische Lage der Informationen etwa für und wider Benzinverbrauch bzw. der weitblickenden Einordnung des Problems in wirtschaftliche und kulturelle Zusammenhänge ist derselbe Wahn festzustellen. (Der "Brockhaus" definiert "Wahn": "inhaltliche Denkstörung, die [...] durch subjektive Gewissheit des Betroffenen, Unkorrigierbarkeit durch widerlegende Argumente und meist durch den Widerspruch zum objektiven Sachverhalt gekennzeichnet ist.") Was man in TV-Nachrichten hört, sind hilflose bis aggressive Spontanreaktionen, die nichts von den wirklichen Gründen und möglichen Konsequenzen einer solchen "Krise" begreifen lassen. Dokumentationen wie jene von Adam Curtis hingegen geben einen historischen Überblick mit ästhetisch gewieften - aus meiner Sicht zuweilen auch angebracht polemischen - Mitteln, die den meisten TV-Sendern - obwohl sie auf immensen Archiven und Bildrechten hocken - zu fehlen scheinen (wollte man nicht egoistische und ferngesteuerte Manipulationsabsichten unterstellen). Die Konsequenzen aus dieser Situation sind realpolitischer Art.

Wer Curtis' "The Century of the Self" sieht, lernt Edward Bernays kennen, den Neffen Sigmund Freuds, dessen Namen man wohl an den wenigsten deutschen Universitäten der letzten Jahrzehnte einschließlich ihrer "medienwissenschaftlichen" Seminare jemals gehört hat. Mit seinem psychologischen Wissen sind seit den 1920er Jahren jene Agenturen für "Public Relations" (so genannt, seit Joseph Goebbels sich auf Bernays berief und der Titel von Bernays' Buch "Propaganda" [1928] nicht mehr schicklich war - eine deutsche Übersetzung liegt, Sapperlot, seit 2007 vor) ausgestattet, die uns mit ihrem Training öffentlicher Personen die existierende 'Gesprächskultur' der medialen Avatare Henkels, Pfeiffers, Hohlefelders und Grönemeyers bescheren.

(Dieser Beitrag ist zugleich der Antrag auf Zuerkennung der Bronze-Medaille für verbastelten Satzbau einer noch zu gründenden Sprachwacht. Nach dem Tod Adornos und Thomas Bernhards muss da doch was gehen.)


Daniel Hermsdorf

Fernsehen > Themen

Nachtrag: Qualität hat eben ihren Preis - wenn es sich um Hollywood-Preziosen handelt. Anderenfalls gibt es sie umsonst, wie ich bemerke. Nämlich mehrere Arbeiten von Adam Curtis als Downloads im Internet bei www.archive.org - über deren Legalität ich keine Auskunft geben kann und deshalb auch nicht zum Abruf dieser Dateien aufrufe, sondern nur dessen Möglichkeit erwähne:

Pandora's Box - http://www.archive.org/details/Pandoras_Box_DVD_1_of_3

The Mayfair Set - http://www.archive.org/details/The_Mayfair_Set_Part_1

The Century of the Self - http://www.archive.org/details/AdaCurtisCenturyoftheSelf_O

The Power of Nightmares - http://www.archive.org/details/ThePowerOfNightmares (hier Links zu allen Einzelseiten)

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