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Lars von Triers "Epidemic" (Start: 12.5.2005)
und seine "Europa-Trilogie"

von Daniel Hermsdorf

April 2005

Kino > Essays

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1988 entsteht ein Film, den fast niemand sehen will. Lars von Triers „Epidemic“ wird vom dänischen Fernsehen nicht gesendet. In Deutschland wird er nur selten in einer dänischen Kopie im Kino gezeigt und als Videocassette von „235 Media“ verkauft. Das schmälert jedoch nicht seine Bedeutung. Vor allem dann, wenn der Regisseur später dem europäischen Kunstkino zu neuen Höhenflügen in der kritischen Akklamation und beim interessierten Publikum verholfen hat.

Jeder Cineast kennt Lars von Trier und hat seine Meinung über ihn. Letztere ist stark abhängig davon, ob die erste Begegnung etwa bei der TV-Serie „Riget“ (Geister, DEN 1994/97) oder dem in Cannes geehrten „Breaking the Waves“ (DEN / S / F / NL / N 1996) stattgefunden hat. Die „Riget“-Serie ist eine burleske, vielschichtige, unheimliche, amüsante Erzählung, deren Ende nie gedreht worden ist – oder auch nie gedreht werden sollte? Bei „Breaking the Waves“ erhoben sich zu Recht Stimmen, die ein eigenartiges Frauenbild witterten. Sie räumten meist Respekt für die neuartige filmische Form ein, doch der Inhalt war mindestens unwägbar, wenn nicht abstoßend. Oder er wurde als Tragödie empfunden und rief ein klassisches Mitleid aus der aristotelischen Katharsis auf den Plan. Alles nur vieldeutig und jeder nach seiner Façon?

Der Film „Epidemic“ lässt daran Zweifel aufkommen. Er ist der zweite Teil der von den Autoren sogenannten „Europa-Trilogie“, die der Kölner Verleih Real Fiction nun erneut in die Kinos bringt. „Forbrydelsens Element“ (The Element of Crime, DEN 1984) ist seit März 2005 in einer neuen Filmkopie in den Kinos zu sehen, und auf „Epidemic“ folgt im Juli noch „Europa“ (DEN / S / F / D / CH 1991).

Alles auf Anfang: „Epidemic“ beginnt mit dem Verlust eines Drehbuchs. Der Regisseur von Trier und sein Autor Niels Vørsel spielen sich selbst und haben ein Problem: eine defekte Diskette, auf der sich das Drehbuch ihres Films „Der Bulle und die Hure“ befunden hat und die nun unlesbar geworden ist. Die Anspielung ist überdeutlich: Der erste Film der Trilogie, „Forbrydelsens Element“, handelt von dem Polizisten Fisher (Michael Elphick) und der Prostituierten Kim (Me Me Lai).

„Epidemic“ besteht nun aus einer Reihung von Szenen, in denen das Autorenduo unter Zeitdruck ein neues Drehbuch verfassen muss, denn ein Treffen mit dem Produzenten (Claes Kastholm Hansen) ist bereits anberaumt. Und leider können sie sich an den Inhalt des ersten Skripts nicht mehr erinnern. Sie recherchieren in einer Bibliothek über historische Pest-Epidemien und fahren mit dem Auto nach Köln, wo ihnen Udo Kier von Kriegserlebnissen seiner Mutter berichtet – grausamen Erfahrungen mit den von den Engländern eingesetzten Phosphorbomben. Dann kehren von Trier und Vørsel wieder nach Kopenhagen zurück. Das Drehbuch wird nicht fertig, bis der Produzent zu einem Festessen eintrifft. Mit einer Hypnose-Séance, bei der eine junge Frau (Gitte Lind) schließlich in hysterische Angstzustände verfällt, soll er dennoch von dem Projekt überzeugt werden.

Als zweiter Langfilm im Œuvre des Regisseurs ist „Epidemic“ seine Version eines ‚Films im Film‘. Hier sind nicht – wie in den Klassikern, etwa Billy Wilders „Sunset Boulevard“ (Boulevard der Dämmerung, USA 1950) oder Jean-Luc Godards „Le Mépris“ (Die Verachtung, F / I 1963) – die Dreharbeiten zu sehen, sondern jene am Drehbuch; parallel dazu Szenen aus dem Film, der gedreht werden soll. So wird die Realität der Autoren innerhalb der Filmhandlung bereits von ihrer eigenen Fantasie perforiert.

Die Bedeutung des Films für das Gesamtwerk des Regisseurs lässt sich an zwei Aspekten zeigen. Der erste ist offensichtlich: Von Trier spielt in den Szenen des Films-im-Film „Dr. Mesmer“ und trägt also den Namen des Erfinders der Hypnose aus dem 18. Jahrhundert. In anderen Werken von Triers ist der Mesmerismus mehrmals Thema: In „Forbrydelsens Element“ wird die Hauptfigur in Kairo hypnotisiert und gedanklich nach Deutschland versetzt; der Film lässt offen, ob diese Halluzination je enden kann. In „Europa“ wird zu Beginn das Publikum direkt angesprochen und durch Invokation mit einer Off-Stimme symbolisch hypnotisiert. In „Riget“ wird ein Patient bei einer Hirnoperation hypnotisiert, weil er Betäubungsmittel nicht verträgt. Hier tritt der Hypnotiseur Svend Ali Hamann auf, der schon in „Epidemic“ seine Kunst ausübt.

Die historische Parallele der filmischen Repräsentation zur Hypnose ist ebenso offensichtlich wie undefiniert. Die halluzinative Macht der Bilder ist zunächst eine bloße Analogie, während ein hypnotischer Zustand nur im Kopf des menschlichen Mediums funktioniert – und die Welt drumherum für eine Zeit verändert, gemäß den Anweisungen des Hypnotiseurs. Wenn von Trier am Ende jeder „Riget“-Folge vor einen Vorhang tritt und das Publikum anspricht, spielt er einmal mehr die Rolle eines solchen Hypnotiseurs, wie er um 1900 in den Varietés der Großstädte seine Show gab.

Das Interesse für Hypnose zog seit ihrer Erfindung jedoch weitere Kreise. Dies ist z.B. kulturhistorisch bei Peter Sloterdijk oder mediengeschichtlich bei Friedrich Kittler nachzulesen. Der Mesmerismus war auch für die Wissenschaft ein Thema und wurde von Sigmund Freud erst nach therapeutischen Misserfolgen ad acta gelegt.

Dass es eine Parallele gibt zwischen der historischen Entwicklung optischer Medien und der Karriere der Hypnose, ist evident. Aber dennoch: Der Film als künstliche Halluzination oder Wachtraum kann mit ihr zunächst nur metaphorisiert, aber nicht analysiert werden.

Von Trier scheint da anderer Meinung zu sein. In „Epidemic“ kommt zum Mesmerismus noch ein zweiter Aspekt hinzu. Und dieser könnte die Interpretation der Filme von Triers vollkommen umkrempeln. Wer „Europa“, „Breaking the Waves“ oder auch „Dancer in the Dark“ (DEN / D / NL / USA / GB / F / S / FIN / ISL / N 2000) und „Dogville“ (DEN / S / F / N / NL / FIN / D / USA / GB 2002) erklären will, ohne „Epidemic“ zu kennen, würde womöglich notwendigerweise scheitern.

Der Arzt Dr. Mesmer will in dem Film-im-Film eine Seuche bekämpfen. „Epidemic“ zeigt von Trier und Vørsel u.a. bei Recherchen zur mittelalterlichen Pest. Das Virus, das in ihrer Fantasie die Krankheit verbreitet, heißt „WAG TANN“, und die parallel gezeigten Szenen werden musikalisch begleitet von der Ouvertüre zu Richard Wagners „Tannhäuser“ (1845). Warum in Berichten über von Triers geplantes Engagement in Bayreuth kein Journalist auf diesen Zusammenhang verwies, lässt sich nur vermuten. Dass in „Breaking the Waves“ die digital manipulierten Kapitelbilder – Landschaftsbilder – auffällige Parallelen zu den Anweisungen für das Bühnenbild in Wagners „Rheingold“ (1869) aufweisen, muss man nicht, kann man aber sehen.

Wagner steht für ein künstlerisches Konzept, das als Vorläufer der Kinotechnik interpretiert worden ist: ein Bühnenschauspiel vor – historisch erstmalig – abgedunkeltem Zuschauerraum, Synästhesien von Bild und Klang.

Zu beidem – Seuche und Wagner-Oper – finden sich Max Horkheimers und Theodor W. Adornos „Dialektik der Aufklärung“ (1944) Aussagen. Hier geht es um „Kulturindustrie“ und die Television im Blick der europäischen Emigranten auf die amerikanische Gesellschaft: „Das Fernsehen zielt auf eine Synthese von Radio und Film, die man aufhält, solange sich die Interessenten noch nicht ganz geeinigt haben, deren unbegrenzte Möglichkeiten aber die Verarmung der ästhetischen Materialien so radikal zu steigern verspricht, daß die flüchtig getarnte Identität aller industriellen Kulturprodukte morgen schon offen triumphieren mag, hohnlachende Erfüllung des Wagnerschen Traums vom Gesamtkunstwerk. Die Übereinstimmung von Wort, Bild und Musik gelingt um so viel perfekter als im Tristan, weil die sinnlichen Elemente, die einspruchslos allesamt die Oberfläche der gesellschaftlichen Realität protokollieren, dem Prinzip nach im gleichen technischen Arbeitsgang produziert werden und dessen Einheit als ihren eigentlichen Gehalt ausdrücken. Dieser Arbeitsgang integriert alle Elemente der Produktion, von der auf den Film schielenden Konzeption des Romans bis zum letzten Geräuscheffekt. Er ist der Triumph des investierten Kapitals. Seine Allmacht den enteigneten Anwärtern auf jobs als die ihres Herrn ins Herz zu brennen, macht den Sinn aller Filme aus, gleichviel welches plot die Produktionsleitung jeweils ausersieht.“ Und später heißt es: „Der amerikanische Ausdruck ‚fad‘ für epidemisch auftretende – nämlich durch hochkonzentrierte ökonomische Mächte entzündete – Moden bezeichnete das Phänomen, längst ehe totalitäre Reklamechefs die jeweiligen Generallinien der Kultur durchsetzten.“

Die Argumentationslinie führt im kulturkritischen Diskurs noch weiter zurück: Zu Gustave Le Bons Thesen zur Manipulierbarkeit als „Psychologie der Massen“ (1895) und wörtlich zu Willy Hellpachs Schrift „Die geistigen Epidemien“ (1906). Diese Art von Epidemie wird vom Autor verstanden als ein Übertragungsvorgang von „Psyche“ zu „Psyche“ auf „dreierlei Art“: „1. durch Einredung / 2. durch Einfühlung / 3. durch Eingebung.“ Hellpach meint hier v.a. Psychopathologien wie Hysterie und Hypochondrie mit deren psychosomatischen Effekten, aber auch Süchte wie den Alkoholismus. Dass solche Effekte durch technische Kommunikationsmedien verstärkt werden, ist mit Hellpachs Argumenten implizit gegeben. Bei ihm findet sich eine Geschlechtertypologie, die mit der Charakterisierung des weiblichen Mediums in „Epidemic“ übereinstimmt. Hellpach handelt von der Faszination des Okkultismus bei Rezipientinnen: „So nimmt die hysterische Epidemie hier heimlichere Formen an. Daß sie nicht fehlt, und auf was alles selbst die ‚erzogenen‘ Damen hereinfallen, haben Sensationsprozesse der letzten Jahre erst wieder ans Licht gezerrt: Wahrsagung, Wunderheilung, Medien und andere Dinge bilden Herde hysterischer Massenerregung heute ‚wie am ersten Tag‘.“

Eine neutralere Sicht auf den Zusammenhang des Medialen, der Hysterie und der Epidemie eröffnet in geschichtlicher Rückschau Elaine Showalter in ihrem Buch „Hystorien. Hysterische Epidemien im Zeitalter der Medien“ (1997). Neben den Anfängen der Hysterieforschung sind hier auch gegenwärtig bedeutsamere Themen wie sexueller Missbrauch, Kriegsneurosen oder der populäre Mythos einer Entführung durch Außerirdische das Thema.

Die konservative Kulturkritik Hellpachs und die ätzende Polemik Horkheimer/Adornos gehört zu den von Kulturjournalisten wie auch den meisten Wissenschaftlern z.Zt. sorgsam gemiedenen Statements. Denn in die Welt schöner neuer Popkultur, Pluralität und Konsumfreude, aber auch von Arbeitslosigkeit und Kulturen-Clash will dieser scheinbar hochnäsige, kommerz- und amerikafeindliche Pessimismus nicht passen. Horkheimer/Adorno behaupten, dass das Fernsehen in seiner Allgegenwart eine pervertierte Variante der Wagnerschen Kunstideologie sei. Es breite sich epidemisch aus, und zugleich habe seine kapitalistische Produktionsform die Konsequenz, dass Inhalte hier von vorläufigen formalen und ökonomischen Gesetzen bestimmt seien, die mit Kultur als solcher nichts zu tun hätten. Ein „technischer Arbeitsgang“ bewirke, dass der „Sinn aller Filme“ nicht mehr ist, zu erzählen, zu fragen, zu provozieren, sondern schnöden, eintönigen und manipulativen Direktiven zu folgen sowie Wirklichkeit in einer losen Reihung von Einzelereignissen zu repräsentieren statt in eine sinnstiftende Form zu integrieren.

Meine These wäre, dass Publizistik wie Publikum Horkheimer/Adornos Argument – nicht nur – in von Triers Erfolgen in einer Weise bereits mitgekauft haben, auch ohne es zu wissen. Hier hat sich – so unzeitgemäß das ist – die Definition des Fetischcharakters der Ware aus Karl Marx’ „Das Kapital“ (1867) bestätigt: „Dagegen hat die Warenform und das Wertverhältnis der Arbeitsprodukte, worin sie sich darstellt, mit ihrer physischen Natur und den daraus entspringenden dinglichen Beziehungen absolut nichts zu schaffen. Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt.“

Die „Warenform“ oder „phantasmagorische Form“ der erfolgreichen Filme von Triers aus den letzten Jahren hieß in den Worten der Presse: „von Trier melkt jede Träne aus seinen Zuschauern, ohne ihnen im Gegenzug den Respekt zu erweisen, den Stoff – und sein Frauenbild – für die Gegenwart zu reflektieren.“ (Susanne Weingarten über „Dancer in the Dark“, Der Spiegel, 21/2000) – „Mit dem Sadismus, der all seine Filme prägt, wird er Kidman zum armseligen, gepeinigten Menschlein degradieren, sie buchstäblich an die Kette legen und in eine grausame Passionsgeschichte schicken.“ (Katja Nicodemus über „Dogville“, Die Zeit, 44/2003) – Georg Seeßlen bemerkt an „Dancer“ von Triers Zitattechnik, greift jedoch auf die vom Regisseur in Interviews bereitgestellte motivgeschichtliche Mottenkiste zurück: „Selmas Opfertod am Galgen ist der Jeanne-d’Arc-Augenblick der Transzendenz für die Pop-Moderne.“ (Tagesspiegel, 21.10.2000) Viele andere Texte repetieren die Publicity-Infos über 100 Digitalkameras bei den Dreharbeiten von „Dancer“, die Flucht der Darstellerin Björk von den Dreharbeiten oder zuletzt die Schlachtung eines Esels bei den Dreharbeiten zu „Manderlay“.

Von Triers Filme sind interessant, aber in der Feststellung ihrer Interessantheit erschöpfen sich die meisten Pressetexte innerhalb der ihnen auferlegten Zeichenzahlen und Reflexionstiefen. Und auch die gehaltvollen Texte – die zitierten Kritiken von Nicodemus und Seeßlen gehören dazu – lassen mögliche Zusammenhänge zwischen den Filmen des Gesamtwerks außer Acht, um argumentativ immer wieder ausschließlich von Einzelheiten des gerade aktuellen Werks auszugehen. „Die Geschichte des Detektivs, der am Ende das Böse in sich entdeckt und sich selbst als Täter entlarvt“ (Achim Forst: Breaking the Dreams. Das Kino des Lars von Trier, 1998) – das könnte auch zur Geschichte einer Öffentlichkeit werden, die in den Filmen von Triers nicht das Spiegelbild ihrer eigenen Kultur erkennt, auch wenn der Regisseur nicht müde wird, in Interviews zu berichten, er habe Andrej Tarkowskijs „Zerkalo“ (Der Spiegel, CCCP 1975) zwanzigmal angesehen – oder metaphorisch wahlweise, dass er jeden Tag vier Stunden Wagners „Ring“ auf Dänisch lese, was der Dauer von durchschnittlichem TV-Konsum entspricht.

Was sadistisch an von Triers Filmen ist, ist nichts Ungewöhnliches für populäre Kultur. In der traditionellen Variante aus Hollywood ist Sadismus in der Manier Hitchcocks verschoben (sexuelle Symboliken von Räumen, Requisiten und Handlungen) oder wird unter dem Deckmantel der Pathologie und des kriminellen Anderen ausagiert. Gleichwohl sind sadistisches und voyeuristisches Vergnügen oder Gewalt in Mainstream-Filmen keine Seltenheit. Auch wenn die Aufmerksamkeit dafür in den letzten Jahren gewachsen ist und Filmemacher sich seltener platte Machismen erlauben – in den Wiederholungen des Fernsehens kursieren auch die antiquierteren Varianten unentwegt.

Sadismus, die unersättliche Neigung zur Darstellung krimineller Handlungen, zu hysterischen Angstsituationen und tendenziös-ideologischen Vereinfachungen der Welt, die die real existierende amerikanisierte Kino-Leitkultur weitgehend prägen, sind jene Inhalte, die in von Triers Filmen collagiert, als Pastiche und Parodie wiederkehren, scharfsinnig kommentiert, in einzigartiger Weise neu gezeigt werden – und dabei sicher zum Zynischsten gehören, was Kinokultur je hervorgebracht hat. Aber es ist – im Gegensatz zur allgegenwärtigen Ausbeutung von Gefühlen im Kabelfernsehen – ein Zynismus, der selbst genug Warnschilder um sich herum aufgestellt hat. So zeigt die letzte Einstellung von „Forbrydelsens Element“ eben kein „Opossum“ (Achim Forst in anderer Orthografie), sondern einen Maki-Bär – einen nachtaktiven Allesfresser, zu dem Kulturindustrie dieser Tage ihre Kinder mit Endlos-Soaps und LAN-Parties so gern erzieht.

Überdies ergibt sich eine Assoziation zu Elem Klimovs Kriegsdrama „Idi i smotri“ (Komm und sieh, CCCP 1985), in dem ein deutscher Sturmbannführer während des Russlandfeldzugs ein solches Tier als Maskottchen bei sich führt – hier also ein intertextueller Verweis auf deutsche Kriegsgräuel entsprechend den expliziten Erzählungen von deutscher Okkupation in „Befrielsesbilleder“ (s.u.) und der Nachkriegszeit in „Europa“. Was in „Element“ die seriellen Kindermorde eines wahnsinnigen Täters, sind in dem erwähnten Film von Klimov historische Morde: ein Massaker an russischen Zivilisten, darunter auch Kinder, erzählt aus der Perspektive eines jugendlichen russischen Kämpfers. Dass bei von Trier der Maki-Bär als Schlussbild fungiert, lässt im Zusammenhang mit der Ansiedlung der Fabel in einem ‚zeitlosen‘ imaginären Deutschland auch hier eine realhistorische Konnotation entstehen. Das Kuscheltier des Sturmbannführers ist das Bild, das in „Element“ offen lässt, ob der deutsche Polizist Fisher je aus seiner Hypnose wird zurückkehren können, nachdem er auf Mördersuche selbst zum Mörder geworden ist.

Dies ist ein Beispiel, wie von Trier – bezieht man Klimovs Film in die Interpretation ein – mit Konnotationen arbeitet, die in diesem Fall nur durch Kenntnis eines russischen Films entstehen. Dadurch wird die Anverwandlung der Sünde durch den Ermittler in „Element“ mit einer historischen Dimension versehen, die der Filmtext nicht unmittelbar enthält. Und geht man von einer solchen Bedeutungsebene aus, wird die Hardboiled-Pastiche von „Element“ auch zu einer Parabel auf den Völkermord deutscher Soldaten – was als Parabel eine mythenhafte Formelhaftigkeit und Dekontextualisierung mit sich bringt.

Christiane Peitz weist in ihrer Rezension von „Breaking the Waves“ (Die Zeit, 41/1996) auf die These vom Demagogen von Trier hin: „Lars von Trier ist ein Scharlatan. Den Verdacht, daß er als Meister der Demagogie den Zuschauern fragwürdige Ansichten unterjubelt, bestärkt eine weitere Äußerung, der zufolge er selbst das Melodram für ‚nicht zumutbar‘ hielte, wäre es ‚konventionell‘ verfilmt.“ Hierbei geht es darum, dass „Breaking“ in jener nervösen Handkamera-Sicht gefilmt ist, die als eine formale Variante des Hypnotismus in seinen Filmen gesehen werden kann. Rein physiologisch stressieren diese Bilder den Zuschauer und verwandeln sich zugleich dem lebendigen Blick auf ihre Weise an. Was für ein konservativeres Filmpublikum zunächst noch anstrengend war, gehört für Computerspiel-Fans zum optischen Alltag.

Mit den „Dogma 95“-Filmen, die sich auf von Triers und Thomas Vinterbergs Manifest berufen, hat eine Proliferation dieser Handkamera-Optik stattgefunden, die nach Filmen wie „The Blair Witch Project“ (USA 1999, R: Daniel Myrick / Eduardo Sánchez) und TV-Serien wie „24“ (USA 2001-05, R: Jon Cassar et al.) zur Normalität geworden ist. Aus Sicht von „Epidemic“ lässt sich die Dogma-Kultur als ein ästhetisches Ansteckungsphänomen interpretieren. So, wie von Trier als Mesmer die „infected areas“ besucht und unwillentlich die Epidemie verschlimmert, hat der Regisseur von Trier zu einer Auflehnung gegen die amerikanische Kulturhegemonie aufgerufen („the superficial action and the superficial movie are receiving all the praise“), die zugleich eine fragwürdige Ästhetik („The camera must be hand-held“) mit sich bringt. Handkamera, keine Beleuchtung, keine künstliche Dekoration – die Bilder geben vor, natürlich zu sein, aber vielleicht vergisst man ihre notwendige Künstlichkeit als Filmbild umso mehr.

Das Thema und die mögliche Metaphorik der Epidemie lässt sich in der Filmgeschichte an zahlreichen Beispielen nachvollziehen. „Nosferatu, eine Symphonie des Grauens“ (D 1922, R: Friedrich Wilhelm Murnau) zeigt als Auslöser der Pest den Vampir, der aus Transylvanien, „dem Land der Phantome“ kommt. Er löst „ein plötzliches Fieber“ und damit die tödliche Krankheit aus.

In „La Habanera“ (D 1937, R: Detlef Sierck) ist es das „Puerto-Rico-Fieber“, das von den Obrigkeiten auf einer Insel geleugnet wird, um wirtschaftlichen Schaden abzuwenden.

Werner Hochbaums „Die ewige Maske“ (CH 1935) erzählt von dem Arzt Dr. Dumartin (Mathias Wieman), der ein Serum gegen eine Meningitis-Epidemie gefunden hat, dieses jedoch nicht verwenden darf. Als er es dennoch an einem Patienten erprobt, stirbt dieser, was Dumartin ohne Grund in den Wahnsinn treibt. Er kann ihm erst entkommen, als er im Traum dem verstorbenen Patienten Negar (Franz Schafheitlin) eine Maske abnimmt. Das Requisit kultischer Theateralik, das Symbol der für den Film so grundlegenden Form des Gesichts erlöst hier den Arzt von einer diagnostizierten Schizophrenie und bringt ihn dazu, wieder gegen die Epidemie zu kämpfen.

In „Verwehte Spuren“ (D 1938, R: Veit Harlan) wird eine Pest-Epidemie vertuscht, um die Weltausstellung nicht zu gefährden.

Bei Ingmar Bergman erscheint in „Det Sjunde Inseglet“ (Das siebte Siegel, S 1957) die Pest personifiziert als Tod (Bengt Ekerot), mit dem der Ritter Block (Max von Sydow) nach seiner Heimkehr von einem Kreuzzug ein Schachspiel um sein Überleben spielt.

In „The Andromeda Strain“ (Andromeda – Tödlicher Staub aus dem Weltall, USA 1978, R: Robert Wise) erfolgt ein expliziter Medienbezug: Ansteckende Viren werden von einem abgestürzten Armee-Satelliten verbreitet; ihre unter hohen Sicherheitsvorkehrungen vorgenommene Examination, die auf Bildschirmansichten und mikroskopisch vergrößerten Ansichten beruht, bringt die Ausführenden schließlich in Lebensgefahr.

In Wolfgang Petersens „Outbreak“ (Outbreak – Lautlose Killer, USA 1997) kommentiert die ungreifbare Ausbreitung eines ansteckenden Virus aus Afrika u.a. fortgesetzt mit dem Hinweis, diese befänden sich überall „in the air“, was in der Originalsprache eine Doppeldeutigkeit zur technisch-medialen Ausstrahlung entstehen lässt; auch hier sind Bildschirme bei der optischen Analyse der Mikroben im Einsatz.

Die erwähnte TV-Serie „24“ erzählt in der dritten Staffel ebenfalls von einem solchen Virus, der mit terroristischen Absichten in Umlauf gebracht wird. Hier fällt die besagte Kamera-Ästhetik mit dem Thema der Epidemie zusammen, und die Wirkungsweise des Virus wird im Dialog sehr deutlich mit dem zeitlichen Prinzip der Serie korreliert: So, wie die Erzählung in 24 Fernsehstunden (abzüglich Werbepausen) einen 24-Stunden-Tag erzählt, wirkt auch das Virus innerhalb von 24 Stunden tödlich.

In den erwähnten Filmen finden sich zahlreiche medial-selbstreferenzielle Anspielungen, die hier nicht ausführlich das Thema sein können. Dabei handelt es sich um Motive wie den Vampir und das Phantom (als Allegorie der geisterhaften Schatten auf der Kinoleinwand), die Maske (als Symbol des filmischen Gesichts und der Maskenhaftigkeit von Filmbildern), die Insel (als Metapher des flächig abgegrenzten Bildes), der Weltausstellung (als Modus visueller Präsentation), des Spiels mit lenkbaren Figuren (als Metapher des Schauspiels), des Weltalls und eines anderen Kontinents (als räumliches Jenseits analog zur filmischen Scheinräumlichkeit) und schließlich der terroristischen Subversivität von Zeichen, die heimtückisch ihre Wirkung entfalten.

Dass von Trier seinen Abschlussfilm auf der dänischen Filmhochschule „Befrielsesbilleder“ (Bilder der Befreiung, DEN 1982) genannt hat, weckt einmal mehr die Aufmerksamkeit. Hier wirkt jedes Bild höchst artifiziell, bis ins Kleinste geplant. Die Geschichte handelt von dem deutschen Soldaten Leo (Edward Fleming), der während der deutschen Besatzung Dänemarks im Zweiten Weltkrieg einen jungen Partisanen festgenommen und seine Augen „zerstört“ hat. Für diese Tat rächt sich nun seine dänische Geliebte Esther (Kirsten Olesen), indem sie ihm die Augen aussticht. Wie der geblendete Ödipus irrt er durch den nebligen Wald und steigt schließlich zu Chorklängen wie von Geisterhand erhoben über die Baumwipfel empor.

Der Film enthält mehrere farblich viragierte Szenen mit historischem Filmmaterial – Szenen der deutschen Besatzung Kopenhagens. Die übrigen Sequenzen deuten jedoch ihren Geschichtsbezug nur an und wirken mehr über ihre Ausstattung, Beleuchtung und Kameraarbeit. Und letztere zielen immer wieder selbstreferenziell auf das Wesen filmischer Bilder. Wie die leuchtenden und auf dem Filmstreifen seriell gereihten Bilder der Leinwand wirken die Reihen von Lampions für eine Gartenparty über einer menschenleeren Wiese im Wind. Amerikanische Swing-Klänge vermengen sich dazu mit Geräuschen eines Sturms. Esther sagt: „Die Lampions im Garten wurden fortgeweht, letzte Nacht.“ Auf einem Plattenteller rotiert ein schweres Weinglas und wirft einen kreisenden Lichtreflex auf die Zimmerdecke. Seriell wiederholt wirkt auch der Reflex der Straßenbeleuchtung, der über das schlafende Gesicht Leos in einem fahrenden VW Käfer huscht. Der Song „Somewhere over the Rainbow“ aus Victor Flemings Filmklassiker „The Wizard of Oz“ (In einem zauberhaften Land, USA 1939) ist ebenso zu hören wie „Die Wacht am Rhein“. – Beweglicher Lichtschein, serielle Reihung, mechanische Bewegung, in Wiederholungen zur Tradition gewordenes Liedgut, all dies scheint in „Befrielsesbilleder“ in einer verschatteten und bedrückenden Szenerie auf. Pathos, Patina, Lethargie und symbolische Überfrachtung erlauben den Verweis auf Tarkowskij, der diese Art zu erzählen mit seinen Filmen geprägt hat.

Damit entfernt sich von Trier wie bereits angedeutet von jedwedem historischen Realismus. Es entsteht vielmehr eine zyklische Auffassung von Fabel, Schicksalen und Charakteren: Leos Zuordnung zur Nazi-Okkupation und ihren Symbolen steht neben einer kurzen Einstellung, in der sein Gesicht durch eine Türluke zu sehen ist; darüber wird im fliehenden Lichtschein die „666“ aus der Offenbarung des Johannes sichtbar. Der deutsche Soldat, der einem dänischen Jüngling das Augenlicht nimmt, wird so mit dem Teufel assoziiert. Und seine eigene Schandtat wiederholt sich an ihm selbst von der Hand Esthers in einem archaischen Rache-Szenario, macht ihn zum blinden Ödipus.

Von Triers Vorstellungswelt verschmilzt so dokumentarische Bilder mit zitierten und rekombinierten, mythisch überhöhten Motiven. Dies wäre ihm vorzuwerfen, wenn er historische Aussagen anstreben würde. Und auch darüber hinaus bleibt dieser Umgang mit Geschichte ambivalent. Ein offensichtliches Bewusstsein für das mythische Erbe unserer Kultur wird in seinen Filmen zu einem provokanten Spiel, in dem Archetypen, Anspielungen, Andeutungen von Realgeschichte, stilistische Verfremdungen und die Suggestion von Authentizität zu einem auf den ersten Blick unentwirrbaren Zeichengeflecht werden, in dem nur eine langwierige Entschlüsselungsarbeit Strukturen erklären kann: Motivaufnahmen, Kontrastierungen, Ironisierungen, Kommentare, ikonografische Doppelbelichtungen, Überspitzungen. Bei allem ideologischen Sprengstoff, mit dem von Trier hantiert – den er selbst aber nicht er-, sondern vorgefunden hat – gehören seine Filme zumindest in ihrem prinzipiellen Gehalt zu den geschichtsbewusstesten Produktionen, insofern sie reich an Verweisen auf das kulturelle Gedächtnis sind.

Hier ist Rüdiger Sünner zuzustimmen, wenn er schreibt: „Verdrängt man diese Überlieferungen […] gänzlich aus dem Bereich von Bildung und Kultur, so besteht – nach der Auffassung von C.G. Jung – die Gefahr, daß ein ‚wurzelloses, an der Vergangenheit nicht mehr orientiertes Bewußtsein‘ ensteht, ‚welches hilflos allen Suggestionen erliegt, d.h. praktisch für psychische Epidemien anfällig wird‘.

Gerade die vielen verqueren und z.T. fanatisch aufgeladenen Ersatz-Mythologien, die heute wieder verstärkt aus einem esoterischen, neuheidnischen und rechtsradikalen Untergrund empordrängen, zeigen in exemplarischer Deutlichkeit, was mit dieser Warnung gemeint ist.“ (Schwarze Sonne. Entfesselung und Mißbrauch der Mythen in Nationalsozialismus und rechter Esoterik, 1999) Bei von Trier liegen diese Themen an einer Oberfläche, die auch in umfangreicheren Studien zu seinem Werk übersehen wird. Schätzte man ihn als in dieser Hinsicht gefährlich ein, müsste die Arbeit erst recht an entsprechenden Tendenzen v.a. des Hollywood-Kinos weitergehen.

Schon in „Befrielsesbilleder“ beginnt also bei von Trier im Umgang mit der historischen Vergangenheit eine metaphorische Verwendung, in der Nazis nicht nur Nazis sind. Die Macht, gegen die das Dogma 95 zum Kampf aufruft („We must put our films into uniform“), ist eine selbst uniforme Massenkultur, die sich anmaßt, die Gewohnheiten und den Geschmack historisch gewachsener Kulturen einzuebnen. Und so wird – dies ist nicht von Triers Erfindung – das Bild der Geschichte zu einer Parabel für die Jetzt-Zeit: der Künstler als Diktator (von Caligari zu Hitler zu…), die hegemoniale Kulturindustrie als Regime. Eine sonst in Fragen einer ‚Vergangenheitsbewältigung‘ so bemühte Öffentlichkeit hat es bis heute nicht zum Thema gemacht, dass in „Epidemic“ von einem Umsturz die Rede ist, nach der eine Regierung aus „Ärzten“ gebildet werde, deren „Minister of Interior“ Rosenberg heißen werde – im Kontext mit anderen an dieser Stelle genannten deutschen Namen weckt dies die Assoziation zu Alfred Rosenberg. Dann wäre dieser nationalsozialistische Autor einer gelehrten, aber ideologisch äußerst aggressiven und fragwürdigen kulturpolitischen Kampfschrift („Der Mythus des 20. Jahrhunderts“, 1930) gemeint.

Es bleibt zu klären, was an solchen Anspielungen von Triers auf den Nationalsozialismus in seinem epidemisch-wagnerianischen Opus und anderswo Koketterie und was absichtsvoller Plan sein könnte. Eine vorurteilsfreie und ausgewogene Reflexion über eine sogenannte ‚faschistische Ästhetik‘ bleibt allzu oft vor den geschlossenen Reihen von Parteitagsfilmen stehen, ohne mythologische und ideologische Kontinuitäten und Verwandlungen in ihrer weitverzweigten Realisierung bis zum heutigen Tag aufzuarbeiten.

In „Europa“ wird der idealistische junge Amerikaner Leopold Kessler (Jean-Marc Barr) mit den Nachwirkungen der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland konfrontiert, und bis zum Ende ist er unschlüssig, ob er eine Bombe im Auftrag der Nazi-Guerilla-Organisation „Werwolf“ in einem Zug anbringen soll oder nicht.

Wo „Epidemic“ mit dem hysterischen Anfall einer hypnotisierten Frau endet, die in Gegenwart des Filmproduzenten das Drehbuch zu Ende halluzinieren soll und dabei in unaussprechliche Angstzustände gerät, schreit und weint, während an Vørsels Körper die ersten Furunkel der epidemischen Krankheit aufbrechen, stehen in den anderen Filmen der Trilogie ebenfalls Ausweglosigkeiten: Fishers hilfloses Rufen nach Beendigung der Hypnose und sein Verweilen in Deutschland; Kesslers Ertrinken nach dem tödlichen Sturz des Zugs in einen Fluss, hervorgerufen durch sein eigenes dilettantisch ausgeführtes Attentat auf die Schlafwagen der „Zentropa“ (so auch der Name der Filmproduktionsgesellschaft von Triers). Eine Interpretation wie jene Roger Eberts zu „Europa“ wird dann auf skurrile Weise ahnungsvoll:  „I read it as a film about the death throes of Nazism, which is represented by the train, and the moral culpability of Americans and others who turned up too late to save the victims of these trains and the camps where they delivered their doomed human cargo. The train, and the Nazi state, are dead, but like cartoon figures they continue to jerk through their motions; the message from the brain has not reached the body.“ (Chicago Sun-Times, 3. Juli 1992)

Die „message from the brain“ zu erhalten, heißt zunächst einmal ganz simpel, nicht nur ein einzelnes Werk des jeweiligen Regisseurs – und der Filmgeschichte – wahrzunehmen. Gegenüber obskurantistischen Gesten und hermetischen Argumentationen von Filmemachern seit der Frühzeit des Kinos wirken gegenwärtige Bemühungen um ‚Medienkompetenz‘ noch niedlich. Wer „Epidemic“ gesehen hat, weiß, dass es von Trier und seinen Mitarbeitern auch um die Frage nach Wissen und Bildung geht. Auf dem Weg über die deutsche Autobahn A 40 mit Fahrtziel Köln sagt der Regisseur zu seinem Autor Vørsel – und meint damit seine eigene Rolle im Film –: „Unser Freund Mesmer ist auf dem Weg raus ins von Krankheit schwer gezeichnete Europa. Ich glaube, es wird Zeit, daß er jemandem begegnet. Ich würde vorschlagen, daß unser Freund hier einen Theologen trifft. Wir haben über die Dauer verschiedener Ausbildungen gesprochen. Die Tatsache, daß die Ausbildung für spezielle Berufe sehr kurz geworden ist. In einer Gesellschaft, in der man nur wenige Stunden voraus planen kann, weil sich die Krankheit mit Höchstgeschwindigkeit ausbreitet. Angenommen, dieser Theologe hat eine Ausbildung, die, sagen wir, eineinhalb Stunden dauerte. Das gibt uns Gelegenheit, die Religion lächerlich zu machen. Und auch das Ausbildungssystem. Auf diese Art und Weise können wir etwas Humor in diese Tragödie bringen. (singt) There’s a place for us...

Die Art, wie mit von Triers Filmen umgegangen wird, und auch, wie protestlos dieser Umgang von Publikum und Lesern hingenommen wird, mag mit Ausbildungsgängen von etwa „eineinhalb Stunden“ zu tun haben. Filmgeschichtliches Wissen, seine Erarbeitung und Vermittlung braucht Zeit und Institutionen. Und was das Ergebnis einer kritischen Auseinandersetzung mit dieser Geschichte sein kann, wird ahnungslose Euphorien selbsternannter Filmfreunde schnell wieder dämpfen.

Von Triers Kunst ist auch eine, die Auskunft geben kann über den Status von Zeichen in einer auf technischer Reproduktion, massenhafter Verbreitung, mechanischer Archivierung und Wiederholung archivierter Aufzeichnungen basierenden Öffentlichkeit. Das Geschichts­bewusstsein seiner Filme zeigt damit nicht nur mythische Dimensionen – in traditioneller Motivik und populären Stoffen – auf, sondern reflektiert auch Stereotypie, modernen Sinn- und Authentizitätsverlust.

Dies erinnert an Themen eines Gesprächs von Florian Rötzer mit Jean Baudrillard, der konstatiert, die Sprache der westlichen Welt werde in der Gegenwart „mehr und mehr formelhaft benutzt und dadurch an ihren eigenen Formeln krank.“ Er sieht dies als Grund ihrer Anfälligkeit für „virale Epidemien“, Zeichen, die in Öffentlichkeiten zirkulieren und trotz ihrer Sinnleere diese Zirkulation aufrechterhalten helfen. Wenn die Öffentlichkeit auf diese Weise nicht zusammenbreche, gehe sie in eine „Metastabilisierung über, was aber nicht von einer Dialektik, sondern von einer Art Katastrophe zeugt.“ (Viralität und Virulenz, 1991)

Die mediale Selbstreferenzialität von „Epidemic“ erkennt zuerst und luzide Daniele dell’ Agli in einem Aufsatz („Tempus Incubandi. Der Film im Film oder der Alptraum der Mediengesellschaft. Lars von Triers ‚Epidemic‘“, 1990). Sie wird von ihm am klarsten im Zusammenhang der Etymologie des Filmtitels erklärt. Der griechische Wortsinn besage „im ganzen Volk verbreitet“ und habe nichts mit ‚Krankheit‘ zu tun. „Epidemisch im strengen wie im übertragenen Sinne des Wortes ist heute vieles. Zum Beispiel Fernseher, Autos und Spatzen – oder Dummheit, Krach und Geschwätz; epidemisch sind Vorurteile, Neid und Beton – oder Kälte, Angst und Gewalt. Eines ist mit Sicherheit nicht epidemisch: AIDS. Dafür gleicht die Erde längst einem von sechs Milliarden Viren befallenen Organismus: überall Spuren der Zerstörung, Verwüstung, parasitären Nutzung und Blähung; überall Pusteln, Beulen, Löcher und Geschwüre. Auf die Verpestung des Planeten reagiert der böse Blick des Dermatologen von Trier […]. Im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit sind indes auch Filme epidemisch geworden, insbesondere solche beliebig reproduzierbarer Machart.“

Die Wiederaufführungen der Filme von Triers sind so eine dankenswerte Geste an die Öffentlichkeit, von der manche Presseorgane meinen, sie interessiere sich eher für Anekdoten, stereotypisierte und inhaltlich reduktive Formen – „formelhafte“ Sprache –  als für Interpretationen und Recherche. Nicht nur bei von Triers Filmen hat dies zu einer eigenartigen Schweigespirale geführt, in der verschlüsselte Kunstformen und zynische Verstiegenheiten in Filmprodukten neben Oberflächlichkeiten oder wiederum metaphorischen Verschrobenheiten von Filmrezensionen stehen. Bei von Trier wird zwar von einer Art ‚künstlerischem Anspruch‘ ausgegangen, der Wachsamkeit und disputativen Ehrgeiz der AutorInnen erhöht; doch bis zur Sichtung und argumentativen Beachtung des Films „Epidemic“ hat dies in der Vergangenheit offenbar nur selten geführt.

Diese Debatte kann nun eröffnet werden. Und sie sollte den dänischen Regisseur endlich von der Bürde befreien, für alle Zynismen, Verächtlichkeiten und abseitigen Triebkompensationen gescholten zu werden, die viele Zeitungen – und auch Buchpublikationen – am US-Kino der letzten Jahrzehnte nicht bemerkt haben wollen, während der europäische ‚Filmkünstler‘, der sich mit dieser – unser aller – Kulturgeschichte auseinandersetzt, selbst zur Projektionsfläche des Misstrauens gegenüber der eigenen Psyche und vorherrschenden Kultur, ihrer Verdrängung und Verleugnung wird. Von Trier war immer schon offener, ironischer, beweglicher, fantasievoller, nachdenklicher als die meisten Blockbuster-Produzenten – auch wenn er lügt wie gedruckt.

Dass Dr. Mesmer in „Epidemic“ zum Ausgestoßenen wird, man ihn beschmipft als „traitor“ und „renegade“, war 1988 eine Vorwegnahme jener Außenseiterrolle, die von Trier nach wie vor spielt. Es muss jedoch verstärkt um die Gründe seines Image, seiner ästhetischen Konzeptionen und vor allem um die Zeichen seiner Filme selbst gehen.

Nur so – aber in der Tat – kann aus der Epidemie der filmischen Projekte Lars von Triers eine heilsame werden.

 

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