Andere Wahrheiten auf dem Waldweg

Oberinspektor Derrick ermittelte vor 30 Jahren zum ersten Mal

Oktober 2004

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30 Jahre was? Eine TV-Serie, die von 1974 bis 1998 gedauert hat. Von der Folge „Waldweg“ bis zum „Abschiedsgeschenk“, der Nr. 281. Danach? Oftmals halbgare Huldigungen und der nicht enden wollende flaue Gag vom Assistenten, der den Dienstwagen usw.

Wo anfangen nach 281 Stunden? Meine eigene Geschichte mit „Derrick“ beginnt 1982. Ich war 8 Jahre alt. Freitagabende mit Haribo. Wenn’s erlaubt war, danach sogar noch die Reportagen des Peter von Zahn oder der „Telezoo“. Meine erste war wohl die Folge „Eine Falle für Derrick“: Falsche Anschuldigungen gegen den „Oberinspektor“ – der erste TV-Ermittler, dessen Dienstrang es zur Zeit seiner Erfindung real schon längst nicht mehr gab.

281 Stunden eine Art von ritueller Schematik, die im ZDF zuvor schon in 97 Folgen „Der Kommissar“ mit Erik Ode nicht unähnlich erprobt wurden. Ingesamt ergeben sich so 27 Jahre Fernsehversorgung mit Polizeischutz.

Dass laut Georg Seeßlen die Figur Derrick wie Helmut Kohl „Vater und Mutter gleichzeitig geworden ist, dem ödipalen Drama gar nicht mehr zur Verfügung steht, wahrhaft deutscher Volkskörper geworden ist“, mag man ein polemisches Feuilleton nennen. Vielleicht war aber auch die Serie hier und da schlauer als ihre Kritiker (mich selbst eingeschlossen).

„Soll ich Ihre Mutter rufen? Sie ist unten!“ So droht einmal Horst Tappert als Derrick dem in die Enge getriebenen Sascha Hehn („Ein unheimliches Haus“, 1979). Es sind aufgebrauchte Klischees von herrischen Vätern, hysterischen Müttern und zwangsneurotischen Sprösslingen, die das Mantra dieser Serie waren. „Soll ich Ihre Mutter rufen? Sie ist unten!“ heißt aber vielleicht auch mehr. So intensive Erfahrung mit der deutschen Kollektivpsyche wie der Autor der Serie, Herbert Reinecker, dürften wenige in der deutschen Medienlandschaft haben. Nach seiner Propaganda für die Jugend der NSDAP bei Zeitschriften wie „Der Pimpf“ und anderen gelang ihm in der Nachkriegszeit ein Neuanfang. Eine Unzahl von Kurzgeschichten, auch Romanen und effiziente Mehrfachauswertung als Hörspiel und Drehbuch folgten, und Reinecker wurde zum bedeutendsten Autor des Zweiten Deutschen Fernsehens.

Oft hat man ihn seiner seichten Stoffe geziehen. Von „Tabletten für die Seele“ war dann die Rede. Wie auch in anderen seiner bekanntesten Werke, bedient Reinecker in „Derrick“ immer wieder mit allzu offensichtlich bedeutungsschweren Arien Weltschmerz und Kulturpessimismus. So Herr Terza in „Hölle im Kopf“ (1997): „Der Mensch stößt an. Überall stößt er an jemand, der neben ihm – zu nahe steht. Und der andere Mensch macht Angst. Er verletzt die Aura, den Sicherheitsabstand, den die Natur um jeden Menschen gezogen hat. Ein Naturgesetz ist also gestört. Natur will nicht Masse. Und wie geht sie um mit dem Phänomen? Sie zerstört Masse von innen heraus. Sie erzeugt Gleichgültigkeit, Empfindungslosigkeit und Auflösung des Gemeinschaftsgefühls.“

Die Welt, in der „Derrick“ spielt, ist eine Welt der Klischees, der Vorurteile und hanebüchenen Plots. Aber es sind vor allem andere Figuren innerhalb der Serie, die larmoyante Pseudo-Weisheiten zum Besten geben und an einer in heillose Unordnung geratenen Welt – angeblich die unsere – verzweifeln. Oswald Spengler für die Hauptsendezeit.

Aber vielleicht weiß Stephan Derrick auch noch etwas mehr, wenn er seinem Gegner droht, dass dessen Mutter „unten“ ist und er sie nur holen muss. Die großen Augen des Horst Tappert, später umrahmt von immer schwereren und unwahrscheinlicheren Brillenmodellen, adressieren den Blick der Zuschauer mit einer Vehemenz, die an frühere Formen des Herrscherbilds gemahnt. Und Herrscherbilder sind immer Mutter und Vater zugleich – Idealbilder für die Psyche derer, die sich eine Instanz erträumen, die vor aller Unbill des Daseins bewahrt.

Derrick ist eine moderne Ikone, der nicht umsonst im katholischen Italien frenetische Verehrung zu Teil wurde – Duce und Mamma in einer Person. Und er ist auch ein Führerbild, das jene politischen Fehler vermeidet, für die der frühere Arbeitgeber seines Autors bekannt geworden ist.

Stephan Derrick selbst ist ein besonnener Mensch. Er kennt alle Abgründe, doch in seiner Weisheit bleibt er verschwiegen. Er ist streng, aber gerecht. Es gibt keinen rechtstaatlichen Grundsatz, dem er je widersprochen hätte. Außer vielleicht in der Folge „Schwester Hilde“ (1985), wo er Inge Meisel als Mörderin eines brutalen Zuhälters verschont. Ein Schelm wohl, der Kritiken darüber schriebe.

Aber dennoch – die Erfindung „Derrick“ spielt gekonnt mit Faszinationsstrategien, die anderen bildlichen Mythen eigen sind. Die Kriegshetze und die Verbrechen des Nationalsozialismus hat Reinecker wohl als eigene Mitschuld empfinden müssen – auch wenn er in seiner Autobiografie derlei von sich gewiesen hat. „Ich spreche die Deutschen, die ich kenne, die ich liebe, frei vom Mordvorwurf, nicht von ihren Irrtümern, die sie bei Gott bis zum Übermaß büßen, aber niemand, der solchen Mord wollte, niemand, einfach niemand, bis auf diejenigen, die nun wirklich zur Weltcreme der Weltmörder gehören“, heißt es da im Jahre 1990.

Derrick ist ein Mythos des Fernsehens, der aus den Fehlern dieser Vergangenheit gelernt hat. Kaum je macht er von seiner Dienstwaffe Gebrauch. Horst Tappert ist ein großer Mann mit vertrauenerweckender Bassstimme. Nie zeigt er eine menschliche Schwäche; nie ist er jemals arrogant, wenn andere Schwäche zeigen.

Die Geschichten, die Reinecker in seiner Serie erzählt, sind in ihrer Moral kleinbürgerlich. Wo sie sexistisch sind, verbieten sie es sich sogleich wieder in der Bestrafung dessen, der hier stellvertretend sexistisch sein darf. „Derrick“ ist die spießig gezähmte Variante jener Filme, mit denen sich einige seiner Macher in den 1960 und 70er Jahren am Leben erhielten – denkt man etwa an den Prototyp „Perrak“ (D 1970), in dem Tappert unter der Regie von Alfred Vohrer, einem der „Derrick“-Regisseure, bereits einen Polizisten spielte – ein Rauhbein in einem Sumpf von Gewalt und billig parfümierter Reizwäsche.

Im München der beige-grünen Mietwohnungen und mit Ehestreit gepflasterten Villenviertel blieb vom Exploitation-Style eines „Perrak“ oder dem wirklich unsehbaren „Todesrächer von Soho“ (1972, ebf. Tappert unter der Regie von Jess Franco) nur noch eine Ahnung. Eine verlockende Ahnung, die in Disco- oder Bordellszenen aufblitzt, um dann wieder hinter Schondecken auf Beamtensofas zu verschwinden. Wo in dieser Serie Verführung und Sex in der Luft liegen, lauern – wie sonst nur im amerikanischen Horrorfilm – Tod und Verderben. Darin ist sie eine grelle Wiederaufführung puritanischer Ängste, auch wenn diese immer wieder mit der Schaulust der Kamera konkurrieren.

Der besondere Trick von „Derrick“ ist wenn, dann ganz woanders zu suchen. Nach Harald Schmidts ersten Parodien in den 1990er Jahren folgte eine Ironisierung der Serie, die selten den Ton des Originals traf. Die Essenz von Derrick ist vielleicht seit jeher seine Komik. Und diese Komik wäre eine makabere – abgründiger, böser und subtiler als jede Parodie.

Die Psychoanalyse des Kriminalromans lehrt seit jeher, dass die psychischen Triebkräfte hier auf antagonistische Figuren verteilt sind – im Leser sind sie eins. „Derrick“ widersetzt sich einer solchen Deutung nicht. Aber für einen Krimi sind diese Geschichten oft eigentlich gar nicht geeignet. Mit zunehmender Folgenzahl schien Autor Reinecker sich immer mehr handelsübliche Dramaturgien zu versagen. Die Mörderjagd wurde letztendlich egal, auch wenn der Schuldige am Ende feststand. Ermittlungsarbeit war spätestens seit Ende der 1980er Jahre eigentlich nur noch Warten – hinfahren, „Wo waren Sie…?“ fragen, wegfahren, im Büro sitzen, noch mal anrufen, weiter im Büro sitzen, noch mal hinfahren, „Frau Domberg, ich habe noch eine Frage an Sie“ sagen und nach 60 Minuten denjenigen festnehmen, der unter Tränen gesteht, das Mädchen umgebracht zu haben, weil sie nach LSD-Trip und Vergewaltigung ihren „Mittelpunkt verloren“ hatte.

Aber der eigentliche Trip war immer schon „Derrick“, der Film. Sein Inhalt – Mord, Telefonieren, Autofahren, Verdächtige befragen – war stets eine Beschreibung der Fernsehserie selbst. So ungläubig, wie noch jeder der von Derrick und Inspektor Harry Klein verhörten Verdächtigen sich entrüstete: „Dr. Winter ermordet? Aber… von wem und… aus welchem Grunde?“ – so ungläubig hätte eigentlich bei jeder erneuten Ausstrahlung die Frage nach dem Sinn dieses absurden Theaters klingen müssen. „Ich hatte mich telefonisch angekündigt. Mein Name ist Mahler“, sagt der Schuldige in „Die Stunde der Mörder“ (1981). Tele-visuell sind all jene einstündigen Bilder aus Derricks Welt. Es sind Bilder aus einer unwirklichen Dimension, in der zwar realistische Umgebungen einen Gegenwartsbezug vortäuschen, ansonsten aber Authentizität – charakterlicher, politischer oder atmosphärischer Art – zugunsten einer space odyssey in die Untiefen der Ultra-Piefigkeit getilgt scheint.

Dafür wird der Schein der Bilder umso deutlicher – Derricks Figur ist oft versehen mit dem At­tribut des Bilderrahmens oder der Lampe. Oder er residiert vor dem großen Stadtplan in seinem Büro – Bevollmächtigter in Sachen Mordverdacht auf Münchener Stadtgebiet.

„Ist das nicht schrecklich? Wo man hinhört – Mord.“ (Frau Huberti in „Der Tote auf der Parkbank“, 1987) Der Mord ist die Essenz des Derrick-Kosmos. Er wird verübt, erforscht, ehrlich oder verlogen betrauert. Wenn Derrick und Harry Klein die Szene betreten, ist er zumeist schon geschehen – Signum einer Fatalität, die nicht nur menschlich-existenziell zu nennen ist. Das ewige Schwätzen über den Mord, das Motiv und den Verdacht kann auch ein Symptom sein für die verlorene Zeit, die hier vor dem neuesten Mordopfer schon den Bach herunter gegangen ist. „Eine Exhumierung? Ja um Himmels Willen, was hat Sie dazu gebracht, dies zu veranlassen?“ fragt Ernst Schröder als Prof. Rotheim in „Dr. Römer und der Mann des Jahres“ (1983). Aber die filmische Vergangenheit ist immer ein offenes Grab. Die Dialoge der Serie „Derrick“ werden nie müde, von der Unwirklichkeit kinematografischer Repräsentation zu plaudern, auch wenn es handlungslogisch um den Fall der Fälle geht. So heißt es in zwei verschiedenen Spätfolgen in Folge: „Sie ist als Mensch zwar da, aber nicht vorhanden“ und: „Sie sehen aus wie ein Mensch und sind keiner.“ Um nicht mit Gregor Lenau aus „Verlorener Platz“ (1997) zu sagen: „Niemand spricht darüber, dass meine Frau tot ist. Sie ist doch ermordet worden. Ich höre keine Rede darüber. Was etwas zur Folge hat. Ich frage mich, ob das nicht alles ein schlechter Traum ist.“

Wenn die Derrick-Macher sich dessen bewusst waren, sind sie sich mit den Skeptikern der Medientheorie einiger als mit scheinbar so fröhlichen Postmodernitäten. Lewis Mumford hat 1952 die fotografierte Welt den „Hades“, ein „Reich der Schatten“ genannt. 1956 sieht Günther Anders, dass massenmediale Phänomene eine spezifische sinnliche Verarmung mit sich bringen, weil „die tägliche Überfütterung mit Phantomen, die als ‚Welt‘ auftreten, uns daran hindert, jemals Hunger nach Deutung, nach eigener Deutung, zu verspüren; und weil wir, je mehr wir mit arrangierter Welt vollgestopft werden, diesen Hunger umso gründlicher verlernen.“ Viel später, in „Derrick“-Folge 262 („Riekes trauriger Nachbar“, 1996), sagt der Serienheld zu einer jungen Frau, die ihre Schwester nie kennengelernt hat: „Sie haben Ihre Schwester ja nicht gekannt. Ich werde Ihnen ein paar Bilder zeigen, damit Sie wenigstens zu ihrer Urne eine Beziehung bekommen.“ So lautet Reineckers bitteres Fazit über die „Antiquiertheit des Menschen“ im Kabelzeitalter.

Als Flucht aus dem Jammertal Nachkriegsdeutschland bleiben nur Wahnsinn oder Tod. Über dieser für den Freitagabend im ZDF tiefgekühlten Version spätromantischen Furors (Folge 213: „Eine eiskalte Nummer“) wachte der stoische Blick Horst Tapperts und seines nur wenig aufgeregteren Beisitzers Fritz Wepper. Ihre Residenz: die Hauptstadt des Mordes, ein stereotyper Kosmos der Wiederholungen und im Stegreif erfundenen Geisteskrankheiten. „Es gibt Menschen, die sind umgeben von Illusionen, und da finden dann ganz andere Wahrheiten statt“, heißt es hier einmal. „Derrick“-Folgen kommen wieder, auch wenn keiner mehr welche dreht.

 

Daniel Hermsdorf

 

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