Die IRMA







Im Norden stand Bid Fetf bereit, um den Agressoren in den Rücken krabbeln zu können, falls die armen Teufel listig durch den Notausgang einfallen sollten. Eine weitere Kohorte verbarg sich in dem flauschigen Hochflorteppich im Westen, um im Fall eines Bodenkampfes überraschend aus dem Dickicht emporzuklettern. Ein schallgedämpfter Präzisionsschuss ließ die Fühler des Käferführers aufmerken, dann starb er. Die Kammerjäger hatten Scharfschützen eingesetzt. Doch Krieg hat seine eigenen Gesetze, und eines lautet: nicht am Schießen sparen. Der Tod des Anführers verschaffte den Truppen wertvolle Wochen zum Rückzug.

So blieb das Skarabäenproblem weiterhin latent. Kemoto entschwand in seinen Jahresurlaub, und Coleman war durch den Giftpfeil des Käfers zum Pianisten geworden.
Er schraubte seinen Steinway zusammen. Das Mundstück des Flügels war verdreckt. Für so ein Instrument reichte seine Puste kaum, aber diese Übung, dachte Coleman, hatte allem Anschein nach schon echte Meister zustandegebracht.
Als die ersten kehligen Klaviertöne aus dem riesigen Holzblasinstrument emporwummerten, verfiel der Ex-Saxophoniker in selige Erinnerungswellen. Es war plötzlich kein lästiger Käfer, der dort unten an seinem Hosenbein zerrte, sondern “Memories of the Dog”.
Coleman erinnerte sich an den sonnigen April, in dem die Mitarbeiter, zufällig alle am selben Fenster stehend, am Horizont ein galoppierendes Etwas mit pendelnder Zunge sahen. Die Tonkonserve aus einem Disneystreifen vervollständigte den Eindruck, dass es sich um den Hund Bruto handelte, der schnurstracks auf den Irmenkomplex zuhechelte. Wolken stülpten sich zu Credits um, und als Bruto angekommen war, erschien er vor aller Augen als strahlenumkränztes Großporträt, Copyright MMXXXCCLVIIII. Aber es war nicht THE END. Es war im Gegenteil the beginning of a wunderbares Angestelltenverhältnis zu einseitigem Vorteil. Dem Vorteil des Hundes. Der IRMA brachte der Zugelaufene nur horrende Nutzungsgebühren für den Ohrenumriss und Gassigehen im Rotationsprinzip. Zudem wuchs er rapide aus seinen Sachen heraus, so dass die hauseigene Kleiderkammer einen weiteren Anbau am Westflügel beantragte. Die brutolen Extravaganzen wurden unbesehen genehmigt, was Hadrian Mauer in seinen finstereren Momentereren ungerecht, ja zynisch nannte, denn auf seiner Etage gab es nicht einmal einen Abfalleimer, geschweige denn ein Hundeklo. Für jeden veralteten Klebezettel musste Mauer mit dem Aufzug in den Keller fahren, im hintersten Winkel sein Papierdl in den dort festgeschraubten Korb zu versenken. Diese Schikane war ein Freundschaftsdienst Karla Seewegs, die Mauers Psychoanalytiker noch einen Gefallen schuldete. Sie hatte aus ihm einen leicht modifizierten Mythos gemacht; sein Alltag war mühselig, aber alles andere als steinig. Bei jedem Gang in den Keller schwitzte Mauer einen Liter mühsam angetrunkenen Zellsaftes aus, dafür sorgten die grusligen Stimmen und die Raum-Körpertemperatur-Gleichheits-Philosophie der Firmenleitung. “Irgendeine Philosophie muss man doch haben”, pflegte Seeweg abzulehnen, wenn ein Dehydrierter sich zaghaft nach H2O erkundigte.

“... und der Hund bekommt italienisches Speiseeis in sein frisches Quellwasser gerührt.” Frustriert drehte Mauer sich eine weitere Zikarette. Wieder legte Dinah Kempel mit zitternden Händen eine neue Wachsplatte in ihren Phonographen ein.


[...]



Von Ombach-Löten rülpste diskret in seine Serviette. Er hatte sich das Mahl köstlich schmecken lassen, klebte sich nun das Megaphon wieder vor den Mund und blickte noch einmal zufällig auf seine Digitaluhr. Das Sichtfenster für seinen Anrufbeantworter blinkte. Neugierig drückte er die Taste, und aus dem krächzenden Mini-Lautsprecher drang das Organ der Kempel: “Von Ombach-Löten, lesen Sie eigentlich nie Ihre Post? Ich habe Ihnen heute schon vier Erpresserbriefe geschenkt und noch nichts von Ihnen gehört. Das gehört sich ja wohl kaum. Aber wo ich gerade dabei bin: Bruto ist in meiner Gewalt. Wenn Sie Ihr Maskottchen wieder haben wollen, müssen sie sich schon noch ein wenig gedulden. Das heißt, Sie müssen mir einiges dafür zahlen, das wollte ich sagen, genau. So, und PIIIIIIIEEEEEP”
Den Warnton hörte der glatte Managertyp schon nicht mehr, da nun ein herbeigeeilter Kellner seiner blassen Stirne Luft zufächelte. “Herr von Ombach-Löten, ist alles im Lötchen? Ahahaha!”
Der geschwächte “dritte Mann” der IRMA witterte für Sekunden Komödie, doch er wurde sich schnell wieder des Ernstes der Lage bewusst. Mit zittrigen Fingern wählte er sich verbissen bis zur Auskunft vor, holte Luft und wusste schnell die Telefonnummer der Kempel.
“Kempel am Apparat.” - “Kommen wir gleich zur Sache, Frau Kempel: Sie wollen uns erpressen?” - “Entschuldigen Sie, da muss ich Sie verbinden.” Von Ombach-Löten hörte nun ein Schnalzgeräusch, dann die Kempel mit einer verkrampft heruntergepitchten Stimme: “Anonymus?” - “Von Ombach-Löten hier. Sie erpressen mich? Bzw. uns, die IRMA?” - “Das war der Fall, wo wir den Firmenhund entführt haben?” - “Den Irmenhund, ja.” - “Was war das für ein Hund, wenn ich mal fragen darf?” - “Das wissen Sie herzerfrischend genau. Ein Tiefland-setter natürlich!” - “Tiefland, Tiefland, Tiefbaumaschinen, Tieflanddogge, Tieflandsetter! Bruto! Ganz recht, was kann ich für Sie tun?” - “Sparen Sie die Atemluft, hier geht’s um Zeit. Wieviel, wann, wo, den Rest besprechen wir am Telefon.” - “Mal halblang, Sie Canaille.” Die Kempel verfiel in ihr ursprüngliches Glockenidiom. “Das Wort ‚Nein‘ hören Sie wohl nicht oft, was, Ombachchen? Ich spiel‘ die Musik nach meiner Pfeife. Warum rufen Sie überhaupt hier an? Wir haben Frau Kempels Telefon ohne ihr Wissen ausgeliehen.” - “Geben Sie mir Bruto.” - Ihre persönliche Disposition stand auf einem anderen Blatt, aber Kempels Gesprächsmunition war erloschen. Treudoof winkte sie den Hund heran, der insistiert hatte, frei herumlaufen und in ihrem Bett schlafen zu dürfen. Er kratzte sich müde am Kopf. “Is‘ Löte dran?” Die Kempel rang sich ein Nicken aus dem Flockenpüree, das ihr Nacken war. “Sag ihm, ich ruf zurück. Außerdem bin ich ein Freilandsetter, meiner Treu!”
Innerlich stellte Kempel bereits die Stühle hoch und knipste die Neonreklame aus. “Look what they done to my dognapping, Ma”, häuchzte sie melancholisch, als sie den Nachtclub “Sanity” als letzte verließ und sich matt ergeben mit der Menschenmenge auf der Bonkers Road zum Hatter Place treiben ließ.
“Kann er zurückrufen?” schnurrte es dünn aus Ombachs Empfangsteil, das herrenlos in der Telefonzelle herumbaumelte. Die Fangschaltung verkroch sich wieder in ihrem Fuchsbau. Sie war die beste, und das wusste sie.




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