Volkes freier Willy

Die Koalition ist die Frage - neue Köpfe für den Staatskörper



Rot


“Schröder”, SPD, Bundeskanzler

Über den “großen Unbekannten”, den “Kandidaten X” des vergangenen Wahlkampfs, konnten auch wir nur in Erfahrung bringen, was sein Pressesprecher bisher über ihn verlauten ließ: “Schröder” sei schüchtern, introvertiert, hasse es, im Rampenlicht zu stehen. Über sein privates Umfeld ist nichts Näheres bekannt. “Herr Schröder interessiert sich sehr für Wirtschaft, jeden Morgen sehe ich ihn mit Verständnis die Zeitung lesen. Wir reden viel, auch über Aktuelles. Und wenn die Staatsgeschäfte mal nicht so drängen, kriegt er sogar seinen Poetischen.” Demnächst erscheinen Schröders Sottisen unter dem Titel “Richtungswahl und Dichtungsqual” im Verlag Stroemfeld/Roter Stern.
Zur Zeit ist Schröder noch mit einer unbekannten Blondine auf einer ausgedehnten Weltreise, hat jedoch fest zugesagt, die Geschicke der Nation per Ansichtsichtskarte kritisch zu begleiten. Insgesamt steht nun wohl eine neue Außenpolitik ins Haus. Nach der Enttäuschung durch Bill Clinton will sich Schröder voll auf Tony Blur konzentrieren. Sein Nikotin-Hit “Roll with it” ist für ihn “der Bringer schlechthin”. Da läßt man schonmal Vater Staat einen guten Mann sein.


Herta Däubler-Gmelin, SPD, Justiz

Recht, wem Recht gebührt - besser kann man den Gerechtigkeitssinn von Herta Däubler-Gmelin wohl kaum verstehen. Dank ihrer Vergangenheit als Renogehilfin ist der Job für sie kein Sprung ins kalte Wasser. “Ich konnte mir so einiges abgucken, so mit Akten und so. Ist ja letztendlich auch nicht so schwierig” , räumt die versierte Roulettespielerin uneitel ein, “es geht immer um schuldig oder unschuldig.” Schwieriger zu verstehen ist da schon ihr Nachname. Nach der Wahl will sie ihren Nachnamen zu Däumelin verschmelzen. Identitätskrise? Die 55jährige kann es nicht mehr hören: “Ich bin doch immer noch Herta, das einzige was sich verändert, ist “bler-gm”, Herta minus bler-gm!” Für sie das mögliche Motto einer Berliner Republik.


Jost Stollmann, parteilos, Minister für Wirtschaft, Technologie und Zukunft

Stollmann, bisher nur aus der gleichnamigen Boygroup STOLLMAN bekannt, packt zu. In seinem Sofortprogramm hat er den kostenfreien Bau der Transrapid-Strecke vorgesehen. Aktien sollen steigen, insgesamt aber billiger werden. “Die Kosten wird der kleine Mann zu tragen haben, dafür ich stehe ich ein.” Vorübergehende Gerüchte, Stollmann sei mannstoll, konnten nicht bestätigt werden. “Dafür bin ich viel zu beschäftigt. Abriß Ost, Aufguß im Rest, Anschiß sowieso, Sie wissen schon, haha.” Ruhig döst der Zukunftsminister hinter seiner verspiegelten Sonnenbrille der Sperrstunde entgegen.


Rudolf Scharping, SPD, Verteidigungsminister

Rudolf Scharping setzt ganz auf Kohl. Werner Kohl ist der Gärtner, den Scharping im vergangenen Monat durch eine Anzeige im Stellenmarkt des Potsdamer Amtsblatts fand. Er soll in Scharpings neuer Grunewalder Villa die Büsche stutzen. Auch ein kleiner Fischteich befindet sich bei der Immobilie. Kohl hat seit seiner Kindheit mit Fischen zu tun - sein Vater war Hobbyangler, ein Nachbar in seiner Bitterfelder Heimat gar Fischhändler (bis zum Prager Bückling, wie er melancholisch ergänzt). Kompetenz ist also nicht das Problem. Aber soll nun ein zweiter Hometrainer extra für die Berliner Jahre angeschafft werden? Oder reicht einem in den späteren Jahren ein Gang durch die weitläufigen Parkanlagen der neuen Heimstatt? Rudolf Scharping ist nachdenklich geworden über all diesen Fragen, und nun plant er, sein Problembewußtsein in die Regierungsarbeit voll einzubringen.


Franz Müntefering, SPD, Gesundheit!-Minister

“Klar ist das ein hochspezialisierter Job, aber letztendlich geht es mir um Traditionen, die hochgehalten werden müssen.” Der frei nach Frans Hals getaufte Franz Müntefering freut sich schon auf den Winter: “Da gibt’s mehr zu tun, es wird viel geniest.” Gesundheit heißt bei ihm aber auch: fettes Essen und Dujardin nicht zu knapp. “Manchmal reicht so eine Kanne Whisky bis morgens um fünf, dann komme ich natürlich schwer raus. Wochenende heißt bei mir wie auch bei der gesamten Fraktion ganz klar Dauersuff.” Die Zukunft? “Ich sage immer: Hauptsache, ich schaffe es noch, mir vor dem Kotzen die Haare hochzustecken.”


Oskar Lafontaine, SPD, Finanzminister

Ob Lafontaine das Saarland vergessen wird, ist noch unsicher. “Kommt darauf an, wieviel ich mir in Berlin merken muß.” Der penible Preuße beackert jetzt schon Stadtpläne, um sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden. Das ist bei Lafontaines oft schwierig. Der viele Verkehr und der Baulärm in der neuen Hauptstadt stören die Ultraschallsensoren in Lafontaines Kinn. Nur durch unhörbare Schreie entsteht in Lafontaines Hirn ein komplexes Rasterbild der Abgeordnetenränge. Nicht Bürde, sondern Gabe, findet das elegante Urviech. Auf diese Weise hört er auch die feinsten Tonabweichungen: “Bei Kanther zum Beispiel schwang in den unteren Frequenzen immer das Geräusch schwerer Stiefel auf Kopfsteinpflaster mit. Zum Glück war Kanther ja nur eine Einbildung.” Realpolitik ist also angesagt, und die kann Lafontaine als einziger auch im Dunkeln machen.



Grün



Joschka Fischer, Bündnis 90 / Grüne, Außenminister

Der Internet-Freak der ersten Stunde ist auch heute noch unermüdlicher Surfer. Nächtelang bewegt er sich im virtuellen Raum. Über etwas anderes reden als Computer? Nicht mit tagname “j-dot”. Zum Beispiel im Chatroom “Harddisk review”. Fischer debattiert mit den großen Programmierern über die Optimierung von Speicherinhalten, verschickt Lösungsvorschläge in Rundmails und hilft auch schonmal ganz praktisch bei Virenbefall. Josef Scharfmacher, EDV-Koordinator bei Messerschmidt-Bölkow-Blom, bringt es auf den Punkt: “Durch Joschka sparen wir monatlich glatt bis zu einem Gigabyte. Auch die Bilder auf unserer Homepage sind besser geworden.” Für den neuen Job in Berlin hat Fischer vorgesorgt: der Colani-Laptop ist programmiert und aufgeladen, die Sonnenbrille blankgewienert, der Haschbeutel prall gefüllt und die Augen immer auf halb acht. Der bekennende Magersüchtige will die Zeit der Ostermärsche wieder aufleben lassen, diesmal jedoch als Ostermarathon. Gleichzeitig geht das Bündnis für Arbeit, wie er seine WG-Kumpane tituliert, an den Start. “Wenn ich berufsbedingt außer Haus bin, putzt auch schon mal der Gysi für mich den Flur.” Gysi ist die gute Seele der Chaoten-WG. Für Berlin hat sich Fischer vorgenommen, Schröder endlich in DOOM zu schlagen. Doch auch Günter Verheugen ist im Highscore ganz vorne mit dabei. “Mit dem Granatenwerfer ist der Günter unschlagbar, da geht das Piuw!Piuw!Piuw!, und wir können alle einpacken”, fachsimpelt der Alternative. Na, das kann ja Eiter werden.


Jürgen Trittin, Umweltminister

“Der Joschka soll ruhig Außenminister werden. Ich kann aber auch eine Fremdsprache.” “Tritt in!” rief er beim Wahlkampf in Norddeutschland, und seine Marotte, alles ins Plattdeutsche zu bringen, läßt ihm die Herzen des Wahlvolks zufliegen. Doch Kompromisse kennt er an sich keine. Dem designierten Umweltminister ist kein Witz zu hart. Der rigorose Humorist, in weiten Teilen der Bevölkerung bisher nur als der “Grinser” bekannt, fiel vor allem mit seinen satirisch angehauchten Happenings, meist Gegenveranstaltungen zu ernst gemeinten Themen (“Das Holokotz-Denkmal”, “Die Miederverengung”, “Wal-Tag - Freitag diesmal keinen Fisch”) auf und ist seither ein gefürchteter Aufzug-Mitfahrer im Bundestag. “Haarwuchs ist für mich kein Thema mehr”, bekennt er mit seinem aasigen Grinsen. Trittin betrachtet es als seinen Auftrag, Politik mit Schönheit in einer ihrer entlegensten Spielarten zu vermählen und hat die feste Absicht, seine Geheimratsecken mit nach Berlin zu nehmen - “die halten im Winter so schön warm!” Nicht zuletzt deshalb (wegen der Wärme) will er sich auch sein RAF-Shirt nicht verbieten lassen. “Auf meine langweiligen Rollis hat mich bisher jedenfalls niemand angesprochen. Und besser, es wird schlecht über einen geredet, als überhaupt nicht.” So will Trittin auch in Zukunft für Gesprächsstoff sorgen: Die heißeste Tip aus dem Nähkästchen des Fundis ist ein Wurfanker, mit dem die Extrazüge der zukünftigen Berliner Abgeordneten lahmgelegt werden können. “Anarchie darf keine Worthülse bleiben”, ist der Freund der internationalen Küche überzeugt. “Und ich fahr sowieso mit der eigenen Karre wegen meiner Uniformallergie.” Ein Problem gilt es vor dem endgültigen Umzug noch zu lösen: Trittin will die Basis mitnehmen. Mitfahrgelegenheiten sind erbeten.


Daniel Hermsdorf / Benjamin Heßler

junge Welt
9.10.1998