Nr. 21, Januar 2000

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Buchkunst
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Kurzprosa
Die Marginalie

 

Daniel Hermsdorf, Benjamin Heßler

Was wir einmal vermissen würden

Den, der zurückschaut, überrascht von hinten, was da kommen mag. In unserem Fall immerhin: das Ende der Welt, wie wir sie gerade erst kennen- und liebengelernt haben. Ganz gleich, ob wir es Y2K oder millenium bug nennen, ob wir Experten bemühen, die den Computern die Doppelnull abgewöhnen – eitles Trachten. Das Desaster ist im besten Sinne vorprogrammiert. Aus die mouse. Zeit für den finalen Flashback. Über die letzten 2000 Jahre zu sprechen, heißt immer auch, über Brüche zu sprechen. Es ist ein Drahtseilakt, gleichzeitig zu raffen und ins Detail zu gehen, den Blick des/der Allmächtigen mit den eigenen Dioptrien zu versöhnen. Unser Blickwinkel: eurozentristisch und dabei nüchtern abwägend; der Rest sind Geigen.
Nach Jahrtausenden dumpfen Keulenschwingens, schwindelerregender Hochkulturen und uneffizienter Pyramidalbauweise, nach dem Erlernen unansehnlicher Keilschriften und anhaltendem Anbeten von Steinmetzarbeiten, nach Äonen ziellosen Auseinanderdriftens der Kontinente, mit jenem frischen Blubb individueller Grausamkeit erhob sich schließ1ich der eingebildete Gigant, den wir Geschichte nennen.
An die triefenden Mundwinkel ihrer Prototypen mögen sich heute die wenigsten Menschen erinnern, bestand doch der größte Innovationsschub der Zeit "davor" in der Frage: "Hast du mal Feuer?"
"Let's go living in the past" – manchmal kann es so einfach sein! Das Vergangene ist zwar per definitionem "vorbei", aber wenn man lange genug hinschaut, nachfragt, ausgräbt oder sich einfach nur treiben läßt, kann man sie im warmen Licht der Jahrtausenddämmerung entziffern: die Spuren des Gewesenen, wie sie leiben und leben.

Dritter Teil (und Schluß)

5. Bürger King

Nun scheint es an der Zeit, auf den „Strukturwandel der Öffentlichkeit" (Heinz Haber) oder auch „Paradigmenwechsel" (Paul Kuhn) einzugehen, der gleichsam unserer modernen Welt das Placet gab. Die gemeinte gesellschaftliche Entwicklung bestand in einem beständigen Changieren von wirtschaftlichen Einflüssen, geistesgeschichtlichen Eingebungen und den vielen Einfällen einzelner, die den Ereignissen eine Richtung vorgaben.
Die Hindustrialisierung, nach den Lehmbruckschen H-Bilitationen von vielen Historikern spröde als „Industrialisierung" kolportiert und so ihrer metaphysischen Dimension beraubt, ergriff, wenn man dies so sagen kann, Europa und weite Teile der Welt. Durch die Erfindung eines aufwendigen Inhalationsgerätes erschloß der Brite James Watt den Produktionsmitteleignern das Nirvana des freien Marktes. Noch heute feiert diese Urform der Dampfmaschine unter Homosexuellen und Rentnern fröhliche Urständ.
Den Mitgliedern der damaligen Gesellschaft gab die Dampfmaschine freilich zum ersten Mal Gelegenheit, denen „da oben" so richtig den Marsch zu blasen. Von den Privilegien früherer Jahre blieben nur noch mickrige Tarifverhandlungen und das erzwungene Recht der Arbeitgeber auf Aussperrung bei vollem Lohnvergleich.
Technik um Technik wurde neu erfunden, Maschinenparks verstellten bald die Sicht auf die schönen Gartenanlagen, die der Vorväter Aug schmeichelten. Immer mit dabei: die Menschen, die diese Geräte erdachten und bedienten.
Im sozialen Gefüge brummte es. „Bürger" nannte sich jetzt eine verschworene Gemeinschaft, die es mit ihren schnieken Schwalbenschwänzen und übertriebenen Kopfbedeckungen immer wieder in die up-to-daten impressionistischen Tupfereien schafften und langfristig für Massentourismus und elektrische Zahnbürsten verantwortlich werden sollten.
Während Sparguthaben wuchsen und die ersten Kaufhäuser ihre Pforten öffneten, wandten sich die Empfindlicheren unter den Bürgern der Dichtkunst zu, um die Zustände gewissen Unwohlseins in sozialen Korsetts auf akademisch anerkannte Weise zu sublimieren. Als hätten sie die Bedürfnisse kommender Generationen vorausgeahnt, legten sie Studien schmerzhafter Bewußtwerdung und ausführliche Rundgänge durch städtisches Ambiente schriftlich nieder. Alltäglichkeiten wie Masturbation oder dramatische psychische Vorgänge wie die kindliche Regression mußten aufwendig in Metaphern umgegossen werden, Nebensächlichkeiten kamen zu nie geahnter Geltung. Viele derartige Romane sollten aus Anlaß späterer Verfilmungen wieder aufgelegt werden.
Das Zeitalter war zugleich geprägt von schmerzhaftem Fernweh. Die ersten Clubreisen der Europäer wurden schnell blutiger Ernst. Noch heute sind aus vielen ehemaligen Kolonien üble westliche Sitten nicht wegzudenken. Sicherlich hatte die Unterwerfung anderer Völker auch Vorteile: Billigen Rohstoffen blühte eine lange Karriere als Geste der Höflichkeit der ärmeren Länder gegenüber den Industrienationen.
Auch machten auf diese Weise viele Menschen ihre erste Begegnung mit dem Dauerbrenner Jesus, den aufmerksame Leser schon aus dem ersten Teil unserer kleinen Rückschau kennen. Während nun Bewohner Afrikas ihre Fetischregale entrümpelten und Querbalken an Totempfähle pflockten, blühte in der Alten Welt der Handel mit Exotika. Spätfolgen waren der Kubismus, auf Umwegen die Jazz-Musik und Hautlotionen, die mit Aloe-Vera-Anteil werben.
Und die Weltgeschichte? Sie erinnerte sich erstmals auch wieder an das „andere Geschlecht". Beflügelt von den Einlassungen nachdenklicher Intellektueller, die den Theoriekomplex „Gleichheit" erneut ins Rollen brachten, machten die sympathischen Diskurs-Youngster aus der Frauen-Riege auf sich aufmerksam.
Auch technisch begabte Weibsbilder wie Marie Curie sollten in den Sprachgebrauch eingehen. So läuteten sie die Jahrhunderte dauernde Rückkehr zum Matriarchat ein. Daß die Erde über weite Strecken der Frühgeschichte von resoluten Frauenzimmern beherrscht worden war, sollten erst viel spätere Forschungen ergeben.
Über Zehntausende von kaum dokumentierten Jahren waren die Männer unter der Fuchtel gestanden; daß der Eisenzeit unmittelbar die frostige und ellenlange Nudelholzperiode vorangegangen war, sollte vor allem die feministische Geschichtsschreibung noch lange leugnen.
Im 19. Jahrhundert hieß es für die Frauen jedoch erstmal, Boden gutzumachen. Strategisch besetzten sie die Schemel in den Literatenkemenaten, um in reißerischen Bestsellern im „Thelma & Louise"-Stil die bürgerlichen Konventionen in Frage zu stellen. Bald war in Teilen Europas demokratisches Stimmrecht Usus, und der Mix der Geschlechter war angerührt, der einmal im hermaphroditen Allround-Klon enden sollte.
Zeitgleich mit den ersten Bewegungen der Frauen ließen sich die meisten Maskulinen jedoch nicht beirren. Schnauzbartträger wie Bismarck beherrschten die öffentliche Szene. Männer - ob sie Karl Marx und Charles Baudelaire hießen oder ein großer Zar waren - wurden ohne Ansehen der Person gehaßt und verehrt.
Das 19. Jahrhundert zerfiel jedoch ungeachtet der geographischen Differenzen in mehrere Zeitabschnitte. Der fin de siecle mit seiner heiteren Gelassenheit könnte uns sicherlich am ehesten zum Vorbild werden – vorausgesetzt, wir verabschieden uns von der Gegenwart.

6. Anfang vs. Ende – 20th Century rocks!

Als sich das Jahr Null zum 1946. Mal jährte, entstiegen dem menschlichen Genpool in der musikalischen Arbeiterstadt Swimmingpool gleichzeitig vier prächtige Burschen. Nach gut zwanzig Jahren hatten sie auch einen Namen für das gefunden, was sie ihrer Meinung nach waren: „Beatles".
Damit war auch der Grundstein für die einzige wahre Umwälzung des Jahrhunderts gelegt. Das „Epische Theater" (sprich: Weltkrieg Zwo) stellte erstmals wieder die Einheit von Zeit, Ort und Handlung in Frage, die nach dem ersten großen Schlagabtausch (dem „Vater aller Dinge") eingekehrt war. Was z.B. in Washington, D.C., beschlossen wurde, war zehn Stunden später in Hiroshima Wirklichkeit, also ganz woanders.
Wegbereiter der musikalischen Neuerungen war sicherlich ein unscheinbarer Fiesling aus Braunau am Inn. Mit seinen grauenvoll angelegten Werken („Verbrechen gegen die Menschlichkeit", „Abschied von der Vernunft", „In Stahlgewittern") hielt er nicht nur der Menschheit den Spiegel vor, sondern entwickelte auch Praktisches wie den Stereo-Sound und Taktisches wie den Pakt, den er mit dem versierten Organisten Joseph Stalin improvisierte.
Von den Höhenflügen des überschätzten Komponisten Hitler hatte man in den Orchestergräben der Ostfront natürlich nichts. Musizieren wurde hier bald zur Nebensache, und viel zu vielen erklang der Schlußakkord in Moll.
Doch der Braunauer Kakophile ließ sich durch Tonartwechsel nicht beirren - „Hauptsache, laut". Seine Formation NSDAP sorgte nicht nur für vorübergehende Ruhestörung, sondern war gleichsam die erste allgemeine Verunsicherung.
In Graceland, Tennessee entwickelte kurz darauf der bahnbrechende Philosoph der Epoche seine skeptische Lehre. Elvis the Pelvis verneinte strikt, daß nach Bayreuth Musik überhaupt noch möglich sei, um sich jedoch selbst in dem Song „Don't be cruel" zu widerlegen. Seine Schnulzen „On green Dolferl Street" und „Dialektik der Aufklärung Hotel" brachten dann auch die letzten Kritiker zum Verstummen bzw. Erwerb von Vinyl.
Zur selben Zeit im Hamburger „Star Club", Wirtschaftswunder was born. Zu den Klängem der jungen Beatles schwofte Ludwig Erhardt mit seinen Schicksea und der damals schwule Adenauer, die „Mutter der Republik". Bald widmete man dem Bruttosozialprodukt schwärmerische Songs wie „Du machst Geld, yeah, yeah, yeah" und baute die Boomrepublik auf. Noch Jahrzehnte schwang im Bundestag die Unbekümmertheit jener Jahre mit.
Auch die in den „Drögen 60er Jahren" proklamierte „Neue Ernsthaftigkeit" wäre ohne die Beatles kaum denkbar, führten sie doch bei dem legendären Closed-Roof-Festival in der Nähe der New Yorker Kleinstadt Woodstock eine strenge Kleider- und Sitzordnung ein. John Lennon, der „Fool on the hill" des Forellen-Quartetts, dachte den Gedanken zu Ende und erklärte, es sei „kein Platz mehr für Platten". Er war es auch, der in dem Kult-Film der Shower-Power- Bewegung „Psycho" als männlicher Hauptpart brillierte. Mit seinem Reinlichkeitswahn versetzte er das Kinopublikum in Ekstase. Zweieinhalb Stunden exzessives Duschen im Splash- Screen-Verfahren hatte es noch nie gegeben. Fortan war Lennon auf die Rolle des schüchtern duschenden Muttersöhnchens festgelegt, bekam jedoch keine Filmangebote mehr. Erst Jahre später war er wieder trocken.
Die Erfindung der CD und die Gitarristenhatz der McCartney-Ära waren die Folge. Maßstäbe, die auch in der libertären BRD den Nerv der Zeit trafen. Hatte man den wirtschaftlichen Aufbau noch mit Love & Peace über die Bühne gebracht, wichen die Schlaghosen nun baghwanitischen Sackgewändern – „Ch-ch-ch-changes." (D. Bowie)
Ein schockhaftes Erlebnis sollte dann einen Endpunkt ganz eigener Art setzen. In Denver, NY, erschoß „Mr. President" Lee Harvey Oswald den joggenden Lennon aus einem offenen Wagen heraus. Die zufällig anwesenden Kamerateams filmten den Moment aus zehn Perspektiven – der erste von vielen Blindenstürzen der Mediengesellschaft.
Währenddessen hatte es Trommler Ringo Starr in den vietnamesischen Dschungel verschlagen. Er war auf eine Einladung Richard „Wasser" Nixons hereingefallen, die Urlaub in freundlicher Umgebung inkl. Schlankheitsfarm versprochen hatte. Der vormals Dickste der „Fat Four" kehrte ausgemergelt zurück und drehte unter den Pseudonymen vieler großer Hollywood- Regisseure Kriegsbewältigungsfilme mit Überlänge.
Aber wo war Ronald Reagan? Er deckte sich gerade im örtlichen Supermarkt mit Cola ein, die er an einer Pferdekoppel stehend austrinken wollte. Doch daraus wurde nichts. Auf dem Rückweg zu seiner Farm verfuhr er sich und landete in einer Garage in einem anderen Kuhdorf.
Die Weite der Prärie gewohnt, fand Reagan sich in der dunklen Garage nicht ohne weiteres zurecht. Solche Not machte den Sohn einer Farmerin und eines Schwachsinnigen erfinderisch, und bevor er am nächsten Morgen den Ausgang fand, rüstete er die Garage mit einem Beleuchtungskörper aus, der sich später als der erste Monitor mit VGA-Modus herausstellte. In nächtlicher Betriebsamkeit ließ der fingerfertige Reagan auch einen dazu passenden Personalcomputer zurück, dessen Vermarktung die inzestuöse Brut der Garagenbesitzer sehr bald reich machen sollte.
Ronnie hingegen hatte andere Pläne. Er stattete die elterliche Farm mit einem ausgeklügelten System interstellarer Abwehrraketen aus, die noch heute den Weltraum verschönern.
Irgendwann hatten jedoch sogar die Farmerin und der Schwachsinnige die Blöcke satt. Sohnemann wurde verwarnt, versohlt und ging dazu über, in einem kalten Krieg die Aufmerksamkeit von Jodie Foster zu erlangen. „Das Schweigen der Lämmer" ist hierfür symptomatisch.
Für eine Übergangszeit übernahm ein zwielichtiger Buschmann in den USA das Luder. Er heiratete Barbie und wurde folgerichtig Präsident. Er soll auch Ringo Starr animiert haben, seinen Sohn Kenneth zu nennen. Die deutsche Wiedervereinigung im gleichnamigen vormaligen Zwei-Länder-„Eck" entlockte auch hier manchem ein gutturales „Hört, hört!"
„Sadamned!" hieß es fortan bei jeder Kleinigkeit – ein Fluch, der auch Buschmanns Nachfolger im Amt leicht von den Lippen kam. Der graumelierte Saxophonist konnte schließlich alle Zweifel der Welt von seiner weißen Weste iiberzeugen. Danach zog er sie lässig aus und sich zurück.

Prognosen für die Zukunft darf man an dieser Stelle wohl nicht wagen – zu gewagt war schon der Versuch, sich zu erinnern, und gründlich abwägen sollte man alles und jedes. Dies kann nicht bedeuten, daß „Phantasie" verboten sei; allerdings sollte man sich, wie allseits empfohlen, nicht allzu lange unter der schwarzen Sonne der Erkenntnis aufhalten.


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