Nr. 20, Dezember 1999

 Essays      Interview     Leseproben     Net-Ticker     TextBilder    Rubriken     Archiv

 
TextBilder
 
 
 
 
 
 
 
 
Buchkunst
Lyrik
Kurzprosa
Fotogalerie
Die Marginalie

 

Daniel Hermsdorf, Benjamin Heßler

Was wir einmal vermissen würden

Den, der zurückschaut, überrascht von hinten, was da kommen mag. In unserem Fall immerhin: das Ende der Welt, wie wir sie gerade erst kennen- und liebengelernt haben. Ganz gleich, ob wir es Y2K oder millenium bug nennen, ob wir Experten bemühen, die den Computern die Doppelnull abgewöhnen – eitles Trachten. Das Desaster ist im besten Sinne vorprogrammiert. Aus die mouse. Zeit für den finalen Flashback. Über die letzten 2000 Jahre zu sprechen, heißt immer auch, über Brüche zu sprechen. Es ist ein Drahtseilakt, gleichzeitig zu raffen und ins Detail zu gehen, den Blick des/der Allmächtigen mit den eigenen Dioptrien zu versöhnen. Unser Blickwinkel: eurozentristisch und dabei nüchtern abwägend; der Rest sind Geigen.
Nach Jahrtausenden dumpfen Keulenschwingens, schwindelerregender Hochkulturen und uneffizienter Pyramidalbauweise, nach dem Erlernen unansehnlicher Keilschriften und anhaltendem Anbeten von Steinmetzarbeiten, nach Äonen ziellosen Auseinanderdriftens der Kontinente, mit jenem frischen Blubb individueller Grausamkeit erhob sich schließ1ich der eingebildete Gigant, den wir Geschichte nennen.
An die triefenden Mundwinkel ihrer Prototypen mögen sich heute die wenigsten Menschen erinnern, bestand doch der größte Innovationsschub der Zeit "davor" in der Frage: "Hast du mal Feuer?"
"Let's go living in the past" – manchmal kann es so einfach sein! Das Vergangene ist zwar per definitionem "vorbei", aber wenn man lange genug hinschaut, nachfragt, ausgräbt oder sich einfach nur treiben läßt, kann man sie im warmen Licht der Jahrtausenddämmerung entziffern: die Spuren des Gewesenen, wie sie leiben und leben.

Zweiter Teil

3. Renaissance – Falsch Antik

Die Renaissance – nicht zu verwechseln mit der Wiedergeburt Jesu – war Schlußpunkt und Neubeginn, wie sie fast jeder Moment in der Geschichte zu markieren scheint.
Das Mittelalter, dessen Motti zwar auf charmant-einfache Art und Weise den Sünder auf den Kopf trafen, beschränkte die Persönlichkeitsentfaltung des einzelnen auf ein Minimum. Eine Gesellschaft, in der Individualisten nicht nur zum Scheitern, sondern bei ungünstiger Beweislage sogar zum Haufen verurteilt werden, verkommt schnell zu einer staubigen Bagage prinzipienreitender Thronpuper. Der Renaissancemensch fegte gleichsam ordentlich durch und stellte die Fenster auf Kippe. Ein uomo universale hatte ein offenes Herz für alle Ab- und Einfälle des menschlichen Geistes.
Ein zünftiges Revival erfuhr z.B. das platonische Gedankengut. Es glich einer Beatlemania, wie Gernedenker die Funzel am Caelum für ein Symbol hielten und weitreichende Überlegungen zum Gehalt des nämlichen anstellten. Da Schallwellen noch nicht entdeckt waren, begnügte man sich mit Schalklängen des Universums, die angeblich das Gedudel der fahrenden Folk-Ensembles und Hofschranzen-Combos denkmodellmartig spiegelte. Daß die Musik stets bei einem kräftigen Trunk goutiert wurde, tat ein übriges dazu, daß das Weltbild immer metaphysischer wurde.
Platons "Höhlengleichnis" wurde neu aufgerollt und verkaufte sich millionenfach. Nun konnte jeder in die Haut der Höhlenhocker schlüpfen und selbst nachvollziehen, welch irrlichternes Trugbild das Leben war. Und wenn man aus der Höhle kam, mußte man sich zunächst daran gewohnen, wieder in der Realität zu sein. Ebenso viele Erkenntnisse, wie die Renaissance uns vererbt hat, sind durch mangelnde Vorsicht und Erfahrung mit der Forschung damals verlorengegangen. Wieviele Geistesblitze blieben uns vorenthalten, weil Leonardo bei seinem ersten Atlantikflug ertrank? Wer kann schon beurteilen, ob es bereits damals Taschenrechner und die dazugehörigen Mignon-Zellen gab'? Dies würde in der Tat die Leistungen der "alten Meister" in ein weniger spektakuläres Licht rücken - wir hätten es in diesem Fall auch selbst gekonnt.
Was einmal berechnet wurde, kann nie wieder ein anderes Ergehnis haben, uund so sollte die westliche Welt getrost Fünfe gerade sein lassen. In anderen Kulturen gibt es sicherlich andere Bemessungsgrundlagen, doch ein halb leeres Glas ist selbst dort nicht halb voll, wo man statt Äpfeln und Birnen Datteln und Kalaschnikows addiert.
Vor allem aber führte das wiedergebärfreudige Klima der damaligen Zeit zu einer Rückbesinnung auf die Antike, die man vor lauter Stories über Steintafeln und Hinrichtungen aus den Augen verloren hatte. Vor allem die Günstler nutzten die Kunst der Stunde. Vergleichbar nur mit dem rigiden Stilwillen der Walt-Disney-Studios waren die Kreativen über Jahrhunderte hinweg gehalten gewesen, Bibelepisoden zu bebildern und Heiland & Konsorten in teils süßliche, teils brachial-blutige Comicstrips und Plakate zu bannen. Aus Zeitgründen malten sie die Räume sehr flach und lustlos.
Damit machte die Renaissance Schluß: Leicht faßliche Malanleitungen ermöglichten es nun, den Raum in seiner ganzen Pracht zu zeigen – sofern ein Bild hierzu imstande ist. Was ist überhaupt ein Bild? würde man später deshalb wissen wollen, doch sollte es dann bereits zu spät sein. Zunächst war es ein unglaublicher Fortschritt, fotoähnliche Bilder malen zu können, und erst zig Würfe später geborene Künstler sollten sich aus der Realität wieder einen Jux machen – siehe Pablo Picasso ("Weinende Frau", 1937).
Für die populäre Kunst blieb die Renaissance nachhaltig bedeutsam. Der erwähnte Leonardo entwickelte durch Zufall sogar die wichtigste Kulturtechnik der Neuzeit. Aufgrund seiner Leidenschaft für Vorstudien brachte er einmal einen ganzen Abend mit emsiger Bewegung seines selbstgedrechselten Bleistifts zu. Ziel seiner Bemühungen waren Skizzen für ein Abendmahlfresko. Es entstanden wirre Tierzeichnungen, und Leonardo wurde mit zunehmender auch geistiger Umnachtung seiner genialen Art nicht froh. Als er nachts um Viere schließlich dem Fenster zutaumelte und es öffnete, um den reinigenden Odem der Nacht zu empfangen, wurde er eines heftigen Luftzug gewahr, der den Stoß Papier auf seinem Tisch entblätterte. Er stürzte zurück an seinen Arbeitsplatz und sah eines jener Wunder, die seinen Ruf begründen sollten: Durch die fliegenden Variationen seiner Vorstudien war Leonardo der erste Zuschauer einer gezeichneten Figur, die sich bewegte. Der Legende zufolge gab Leo ihr auch einen Namen: "This is Mickey Mouse!" So hatte Leonardo noch vor dem spanischen Flotte-1-Piloten Kolumbus Amerika entdeckt, dessen Kultur sogleich ihren Höhepunkt erreichte. Kolumbus entdeckte dafür selbständig das ostasiatische Kuba und zeugte in jedem Hafen ein Kind, was noch heute spürbar ist.
Weil der Renaissance-Mensch aus Prinzip sehr früh mit dem Malen begann, hatte man in späteren Lebensphasen sogar die Muße, sich der Medizin und anderen Gedankenspielen zu widmen. Obwohl man sich auch damals nur von außen sah, machte man sich einen Kopf über das Innere des Körpers. Lineal und Maßband kamen in Mode. Nicht selten lag der Verkehr lahm, wenn Kulturmenschen in großer Zahl ihre Geschlechtsteile mit geeichelten Urlatten verglichen, und manch ein Architekt vergaß über den Maßverhältnissen seiner Bauten ganz deren Form. Beispiele hierfür sind jedoch nicht bekannt. Was uns aus der Renaissance geblieben ist, kann sich wahrlich sehen lassen.
Geblieben ist nicht nur genialer Wohnungsbau, sondern eine ganze Geisteshaltung. Der Wissensdrang dieser Zeit sollte überdauern. Das alles mußte einen Sinn haben, so die Generalintuition der zusehends systematischen Forschung. Und, siehe da, immer wieder tat sich für Bruchteile von Sekunden ein solcher Sinn auf.

4. Die Volten der Revolten

Nachdem es ziemlich lange "immer so weiter" gegangen war, waren sich viele einig, daß sich etwas ändern müsse. Und wie so oft, wenn Veränderungen ins Haus stehen, war auch eine Revolution in Wurfweite.
Die temperamentvollen Franzosen übernahmen den Part des Eisbrechers und legten in den Straßen von Paris richtig los. Getränkeverkäufer an den Champs machten ein gutes Geschäft, wenn sie nicht enteignet wurden. Den vielen Enthauptungen verdankt sich die Erfindung des Fußballs in den Gassen der Metropole, und die anfallenden Fallbeilspiele legten den Grundstein der modernen Psychologie.
Der Alsbandaffäre (selbst konservative Historiker haben das H inzwischen als zu vernachlässigendes aspiré anerkannt) kam schließlich entscheidende Bedeutung bei der Ausdifferenzierung geschichtlicher Befindlichkeiten in der französischen Revolution zu. Diese Erkenntnis ist eigentlich schon die halbe Miete. Danach muß man die losen Fäden nur verschmelzen, und schon ensteht das plastische Bild einer Gesellschaft am Abgrund der Ungewißheit.
Besitz bedeutete Macht. Wer kein Pferd sein eigen nennen konnte, wurde von den Bessergestellten als "sans-u-otte" gehänselt. Wem morgens noch im Boudoir das Gesäß gepudert wurde, auf den wartete abends in der Bastille schon ein "chapeau hackque" nach Maß. So nannte der Pariser Pöbel jene Jahrmarktsattraktion, mit der man den Kopf eines beliebigen Adligen in einem Korb verschwinden lassen konnte. Erst Jahre später kam der Verdacht eines Zusammenhangs zwischen der Volksbelustigung und dem erdrutschartigen Bedeutungsverlust der oberen Zehntausend auf. Guillotine Alsband, Erfinderin des Geräts, berichtet in ihren Tagebüchern über einen frappierenden Sinneswandel der Probanden, "häufig gepaart mit besorgniserregendem Blutverlust".
Wenige Blocks weiter, Rive Gauche, Saint-Germain-prolongé-au-Sacre-Coeur, klebte Diderot unermüdlich Proben der Welt, die ihn um umgab, in sein Sammelalbum, und Voltaire schrieb dazu kurze Texte ("Encyclopédie"). Die berühmtesten Kinderbuchautoren der Zeit steuerten sogenannte "illustrations illuminantes" bei, denen die Bewegung, die unaufhaltsam ins Rollen kam, ihren Namen verdankt. Bye, bye Stände! So long, Klassen! Ciao bella, Unterdrückung des Proletariats!
Ungefähr da, zur Hochzeit der Aufklärung, wurde auf Korsika ein Junge geboren, der den Begriff "Dreikäsehoch" zu einem Ausdruck der Hochachtung umdefinieren sollte.
Napoleon Bonaparte hatte kurze, aber kräftige Beine, die im Ensemble mit seinem gestauchten Rumpf und dem kanonenkugelförmigen Haupt schon den Säugling zu einem Außenseiter machte. Seine Fingernägel waren nach hinten gekrümmt, und seine Statur prädestinierte ihn zum Tretbootkommandeur, doch die korsischen filles wollten nichts von ihm wissen, war seine Baguette doch nur ein halbes Croissant lang.
Auf frühen, einsamen Reisen sammelte er erste Erfahrungen im Demontieren von Kratien unterschiedlichster Vorsilben. Der bei Staatenlenkern beider Hemisphären als "arrogantes Arschloch" gefürchtete Furz strampelte sich mit der Gewalt eines korsischen Waldbrandes an die Spitze.
So war der aufstrebende animalische Tieretat erstmal an die Kette gelegt. In zahlreichen Kriegen ging es nun um die existentielle Wurst, nicht um freie Meinung und von kritischen Schöngeistern hinterfragte Staatsformen. Napoleon setzte Eckpunkte. Vor allem Waterloo ist sprichwörtlich geworden für eine Haltung der Welt gegenüber, die historische Verluste nicht scheut und unbeirrt voranschreitet, solange man sie läßt.
Gleich einer Zäsur brach dann endlich das Jahr 1848 herein. Riots im Stil des welschen Prototyps machten die Dynamik aus, den Inhalt lieferten alle inhaltgebenden Kräfte der Gesellschaft. '48 wurden die drängenden Antworten neu gemischt. Dieser Cocktail von drängenden Antworten war das explosive Gemisch, das die Verhältnisse zum Stanzen brachte. Wie ein Phoenix aus der Asche erhob schließlich die Hydra einer vielschichtigen neuen (Welt-)Ordnung ihr Haupt.
Es wurde abseits der revolutionären Umtriebe sehr viel gestanzt. Ganze Fabriken waren nur mit dem Stanzen befaßt, andere Industriezweige mit dem Rundflanschen von Gestanztem. Auch Distanzen wurden zurückgelegt.
Die Unerschrockenen unter den Kapitalismusdebütanten machten auch vor Manchester nicht halt. Sie durchpflügten mit ihren eleganten Schlitten das Kopfsteinpflaster der Altstadt, warfen brennende Kippen aus dem Seitenfenster, lachten irr und waren nie wieder gesehen. Gerüchteweise sollen sie in Las Vegas auf den Putz gehauen haben; mancher glaubt, sie nachts im Gebüsch rascheln zu hören oder wähnt sie unter seinem Bett. Magst Du es Geister, magst's Gespenster nennen – Mensch bleibt Mensch, und Geld macht die Welt geh rund.
Soviel zu den Tatsachen. Weniger an diese denn an eine Kunstwelt dachte Fjodor "Machinegun" Dostojewski, als er seine bannbrechende Justizposse "Körperverletzung und Bewährung" und die Generationen gleichsam umspannende Proto-Soap "Schuld und Söhne" verfaßte. Dostojewski schrieb stets in Trance. Den Rest seiner Zeit widmete er den zahlreichen Flaschen, die der Bote ihm ins Haus brachte und die so schön schwummrig machten. Ein gewisses Eigenleben erlangte eine der plausibelsten Schöpfungen des russischen Kult-Dichters: "Red" Butler aus "Schuld und Söhne" wurde gar einmal zum amerikanischen (!) Präsidenten nominiert. Nachdem er Truman unterlegen war, stilisierte man ihn zum US-Traum.
Damit war zugleich das Ende des Starsystems alter Prägung eingeläutet. Butler zog sich aufs Altenteil zurück, Dostojewski schrieb in Moskau seine Romane. Es war plötzlich still, immer wieder.

(dritter Teil und Schluß in der Januar-Ausgabe)

Ihr Kommentar

 Essays     Interview      Leseproben    Net-Ticker     TextBilder     Rubriken     Archiv