Nr. 19, November 1999

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Die Marginalie

 

Daniel Hermsdorf, Benjamin Heßler

Was wir einmal vermissen würden

Den, der zurückschaut, überrascht von hinten, was da kommen mag. In unserem Fall immerhin: das Ende der Welt, wie wir sie gerade erst kennen- und liebengelernt haben. Ganz gleich, ob wir es Y2K oder millenium bug nennen, ob wir Experten bemühen, die den Computern die Doppelnull abgewöhnen – eitles Trachten. Das Desaster ist im besten Sinne vorprogrammiert. Aus die mouse. Zeit für den finalen Flashback. Über die letzten 2000 Jahre zu sprechen, heißt immer auch, über Brüche zu sprechen. Es ist ein Drahtseilakt, gleichzeitig zu raffen und ins Detail zu gehen, den Blick des/der Allmächtigen mit den eigenen Dioptrien zu versöhnen. Unser Blickwinkel: eurozentristisch und dabei nüchtern abwägend; der Rest sind Geigen.
Nach Jahrtausenden dumpfen Keulenschwingens, schwindelerregender Hochkulturen und uneffizienter Pyramidalbauweise, nach dem Erlernen unansehnlicher Keilschriften und anhaltendem Anbeten von Steinmetzarbeiten, nach Äonen ziellosen Auseinanderdriftens der Kontinente, mit jenem frischen Blubb individueller Grausamkeit erhob sich schließ1ich der eingebildete Gigant, den wir Geschichte nennen.
An die triefenden Mundwinkel ihrer Prototypen mögen sich heute die wenigsten Menschen erinnern, bestand doch der größte Innovationsschub der Zeit "davor" in der Frage: "Hast du mal Feuer?"
"Let's go living in the past" – manchmal kann es so einfach sein! Das Vergangene ist zwar per definitionem "vorbei", aber wenn man lange genug hinschaut, nachfragt, ausgräbt oder sich einfach nur treiben läßt, kann man sie im warmen Licht der Jahrtausenddämmerung entziffern: die Spuren des Gewesenen, wie sie leiben und leben.


l. Im Anfang war ein Ort

Für die Jungfrau Maria war es milde überraschend. Für die abendländische Kultur kam es einer Initialzündung gleich.
In Bethlehem erblickte ein Babe namens Jesus die Welt. Es wußte nicht, weshalb dieser Ochse in sein Schlafzimmer gekommen war, und so sollte ein ungutes Gefühl es nie ganz verlassen. Doch das war erst der Anfang. Was sich in den folgenden gut dreißig Jahren laut Überlieferung abspielte, sollte Jesus noch lange anhängen. Vom ersten Schrei bis zum letzten Seufzer von Speichelleckern, Neidern, Gefühlsduseligen und pathologischen Sinnsuchern umgeben – es war die Hölle.
Schon früh begann er, Opium ans Volk zu verteilen, um wenigstens ab und an seine Ruhe zu haben. Bis zum bitteren Ende behielt er sich vor, zu entscheiden, welche Anekdoten aus seinem Leben kanonisiert wurden. Wenige wissen, daß die Speisung der Zehntausend für den gelernten Konditor eine reine Übungssache war. Kaum überraschend auch das leere Grab: Der Erlöser war aufgefahren in den Himmel.
Ein Bucherfolg half der Tradition auf die Sprünge, und seither sind Jesu Wähnen und Werden Allgemeinwissen. "Die Bibel" war vielen Entscheidungshilfe und Leitfaden im Alltag.
Ganz so, wie heute die amerikanische Kultur unser Leben erfüllt, lauschten die Damaligen dem mystischen Raunen des Nahen Ostens. Sie waren jedoch auch fähig, den Irrationalismus mit erlernten Tugenden ihrer Heimat zu versöhnen. Die Kreuzzüge wären ohne ritterliche Kultur sicherlich zu Mummenschanz verkommen. So aber fand der Geist des Nordens ins Mekka des Christentums und verpaßte dabei manchem am Wegesrand einen herz-, nicht selten auch schmerzhaften Denkzettel.
Der Einfluß von "Codename: Jesus" war allgegenwärtig. Auge um Auge stachen sich die Rivalen die Glubscher aus, bis sie die Unterscheidung von Altem und Neuem Testament durchgeholt hatten. So fanden auch die softskills wie Barmherzigkeit und Unempfindlichkeit gegen Ohrfeigen immer mehr Anhänger.
Bis zu einem viel späteren Zeitpunkt ging es in Europa höchst sakrosankt her. Doch selbst Gallonen von Meßwein konnten nie vergessen machen, worum es eigentlich ging.
Viel früher war die erste Tier-Serie entstanden. "Black Bukephalos" und sein treues Herrchen Alexander hielt ein Millionenpublikum in Atem und sorgte ganz nebenbei für die Unterwerfung des Okzidents. Das Merchandising lief auf Hochtouren: Tausende erwarben die Mosaik-Lege-Sets für das heimische Herrscherbild und befaßten sich wie der berittene "Große" mit den Werken großer Denker der griechischen Antike (Heidexeros' "Sein zu zweit", Hubardopoulos' "Dianetik", Pythagoras' "Mathematik Sek. I" inklusive der berühmten Äpfel- und Birnengleichnissen und "a hoch 2"). Für die Sieger hochkultureller Jeopardy- Marathons gab's Abitur, der Rest starb dumm. Babystrich war Chefsache und Massensport zugleich.
À propos Caesar: Der römische Imperator hatte die Faust dick. Sicherlich hätte er größere Bedeutung in der Historie erlangt, wenn, ja, wenn nicht seine Leidenschaft für unsere vierbeinigen Freunde den Senatsdebatten ein Schnippchen geschlagen hätte. Caesars Amtszeit war geprägt von langwierigen Diskotionen, wessen Sklave das Yorkshire-Terrier- Pärchen Romulus und Remus Gassi führen sollte. Ihre "Sieben Häufchen" avancierten zum Sinnbild der römischen res publica, rochen jedoch unangenehm und wurden irgendwann weiß, trocken. Caesar hatte sich derweil zum Commissarius Rex hochgewedelt und war sich dementsprechend für nichts zu schade.
Auf seinem Altenteil, der Hundefarm "Politeia", brachte Caesar schließ1ich sein Vermächtnis, das Hundebuch "Bello Gallico", auf die damals gebräuchliche gegerbte Gotenhaut. Die Passagen über das Trojanische "Pferd" verursachten einen mittleren Skandal. Als Romulus und Remus von der Räude befallen verendeten, machte die Trauer Caesar zynisch. Seine letzten Worte "Beiß zu, Brutus" machen die Suizidvermutung plausibel, aber Verschwörungstheorien boten auch damals schon Raum für Spekulationen. Was bleibt? Mal wieder nur die Frisur.
Insgesamt waren die Jahre um Null epochal, obwohl ihre Bedeutung oft unterschätzt wird. Immerhin begann hier die Zeitrechnung, weswegen ein Theaterbesuch drei Tage dauern konnte. Völkermord und erste Höhepunkte abendländischer Kultur machten es sich miteinander bequem. Nie wieder sollte es so schön sein wie damals. Und damals wie heute.

2. Karolinger auf dem Prüfstand

Weil sich Alexanders Beiname so gut gemacht hatte, wollten auch andere Herrscherdynastien ihre Sprößlinge attributiv aufs Trockene bringen. Sehr witzig: "Karl" der Große. Auch wenn – oder gerade weil – das Balg ein Spröß1ing des anrüchigen Pippin war, sollte irgendwann ganz Europa von ihm eingenommen sein.
Schon der kleine Karl der Große machte es sich in dem Machtvakuum bequem, das die Völkerwanderung hinterlassen hatte. Dort war er sehr einsam. Er entwickelte sich zu einem bedeutenden Fernschachspieler, kam aber – die Telekommunikation steckte noch in den Kinderschuhen – zu Lebzeiten nie über die Eröffnung hinaus, da ein Spielzug oft mehrere Jahre unterwegs war und seine Gegner auch nicht mehr die Jüngsten.
Über einer dampfenden Schale "Manje", seinem Leibgericht, das er selbst vor versammeltem Hofstaat und nur mit schimmernder Rüstung bekleidet verfertigte, fällte er viele wichtige Entscheidungen. Der berühmte Berliner Paravent beispielsweise wurde auf Erlaß Karls errichtet und farbenprächtig mit Szenen aus seinem an Szenen nicht armen Leben bestickt. Erst viel später erklärten die puritanischen Berliner das transparente Ziergestell per Volksentscheid für frivol und ersetzten es durch eine blickdichte Betonmauer. Er war es auch, der den "Deutschen" zeigte, wie man über 2 m wird: "Nach den Sternen greifen sollt ihr, möglichst mehrmals am Tag." Und ganz nebenbei konnte er immer wieder über den Paravent schauen.
Karl, Spitzname "Rex Langobardorum", wußte sich mit grausamen Schlachten, aber auch mit kalkulierten Schmeicheleien Feind und Freund zu machen. Ein Meilenstein unter den PR-Gags wird wohl für ewig die Erneuerung der Pippinschen Schenkung sein; öffentlichkeitswirksam, jedoch politisch folgenlos – im Vatikan hatte man selten so, jedoch auch selten so verbittert lachen müssen.
Das Kreuz mit Jesus, das schon dem ersten Teil unserer Rückschau seinen unverwechselbaren Stempel aufgedrückt hat, brachte in den folgenden Jahrhunderten immer neue Kalamitäten mit sich. Die Midlife Crisis der ersten beiden postchristlichen Jahrtausende stürzte Europa in eine Sinnkrise, die auch dem Aberglauben Schubkraft verlieh. Man ging dazu über, die Religion bierernst zu nehmen. Zahllose Klosterbauten, Kräuterschnäpse, Hexenverfolgungen, Hand-Abschriften und schwarze Listen waren die Folge. Während Ablaßprediger Papier und den sog. "Sperrsitz in Heaven" verscherbelten, bedienten sich fahrende Quacksalber sprichwörtlicher Holzhammermethoden bei spontanen medizinischen Eingriffen. Aber mit ein bißchen Glück konnte man damals schon die Helden von Walt-Disney- Comicalben treffen – wenn die Geschichte sie einmal in diese Zeit verschlug. Es ist heute kaum vorstellbar, wie Menschen damals zusammenlebten. In unzähligen Häusern waren sie zusammengepfercht, aßen, lachten, verrichteten ihre Arbeit. So gingen die Jahre ins Land.
Generell ist das Mittelalter aber für sein drolliges Gemüt bekannt. Städte aus dieser Periode erkennt man an den unregelmäßig behauenen Steinen, aus denen ihre Häuser bestehen. Und wer sich einmal in diese Zeit zurückversetzt, kommt vielleicht nie mehr zurück. Das Schicksal der Disney-Figuren ist hier nicht direkt auf unsere Existenz übertragbar.
Im Mittelalter waren viele kulturelle Phänomene noch nicht so festgefahren, wie sie in den Folgezeiten erfahren wurden. Neben religiösem Eifer boten die verwinkelten Innenstädte viel Gelegenheit zum sexuellen Experiment. Es war in diesem Sinne sogar eine Zeit, in der "Milch und Honig" flossen wie anno dunnemals.
Weltsprache war, wie schon in den vergangenen Jahrhunderten, Nahuatl. Das Toltekische war eine Lebensart, die man sich auf der ganzen Welt gern gefallen ließ – aztekisch goes ästhetisch. Neugeschlüpfte Graugänse sind auf akustische und optische Reize von seiten ihrer Eltern angewiesen, um eine Bindung zu diesen entwickeln zu können. Aber der spanische Eroberer Bizarro störte sich nicht daran. Er überzog mit seinen Burritos das Land mit Angst, Hungergefühlen und Durchfall. Einzig und allein die Volkssage vom Pizzahut hielt die von den Gringos Unterdrückten zusammen. Und immer am Tag des Pizzahuts putschten sie gegen die spanischen Conquistadores, ohne zu bedenken, da8 man als Staatsregierung Führungsqualitäten besitzen muß. Der Pizzahut blieb eine Illusion, die zu immer neuen Greueln führte, ja, führen mußte.
Um die 500 Jahre später sollten Menschen sich sogar zu den - geographischen - Polen aufmachen. Und, dies am Rande, Amundsen und Scott hätten überleben können, hätte man ihnen nicht billige Uhren verkauft und die Joppen gezockt. Im 10. Jahrhundert war man von den Polkappen zwar viel weiter entfernt, doch eine Expedition ins eigene Unbewußte war es allemal, Erst mit der gedanklichen Durchdringung isorhythmischer Motetten der Ars Nova in breiten Bevölkerungsschichten konnte sich das durchsetzen, was wir gemeinhin als "Mittelalter" bezeichnen. Hier nannte man Kontrapunkte beim Namen, und bald schon machte man musikalisch aus einer Fuge einen Elefanten.
Wenn das mal gutging! Wir wollen es nicht übertreiben.

(Fortsetzung in der Dezember-Ausgabe)

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