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Aufbruch zu einer neuen Ethik: Kinderarbeit als Chance
Kinder in den Schacht!
In den Umwälzungen der Arbeitswelt sollen auch die Kleinsten 
mitschwimmen - doch tun wir genug, um unsere Jugend auf die Ware Leben 
vorzubereiten? In der untätigen Haltlosigkeit ihrer Freizeit verlieren 
die Kleinen meist jeden Bezug zur Realität. Formlose Schmierereien mit 
Fingerfarbe und "Spiel" machen jeden Menschen auf Dauer lebensuntüchtig. 
Sinnlose familiäre "Wärme" verklärt früh den Blick für unverrückbare 
Realitäten. Diese skrupellose Idyllisierung durch verantwortungslose 
Erziehungsberechtigte macht die Heranwachsenden schon im Säuglingsalter 
zu unselbständigen Pflegefällen.
  
Bundeskanzler Gerhard Schröder zeigt oft seine verständliche Abneigung 
gegen juvenile Asoziale, die in Sandkästen herumlungern und eisessend 
die Fußgängerzonen bevölkern. "Wer Tretboot fährt, kann auch arbeiten", 
resümiert Schröder griffig seine Grundsätze. Gemeinsam mit der 
Werbeagentur Spinner & Jablonsky präsentiert er nun seine neue 
Imagekampagne. "Die Kinder haben sich die Welt von uns nur geliehen", 
heißt es sinnig in den großflächigen Anzeigen. Blondschopf Kevin (9), 
dessen zerfurchtes Gesicht in der Werbeaktion visuelle Akzente setzt, 
hat schon früh seine Brauchbarkeit bewiesen. "Ich arbeite bis zum 
Umfallen", sagt Kevin, und tausend Fältchen überziehen seine 
eingefallenen Wangen. Es sind Lachfalten.
  
"Natürlich ist Kevin nur ein Idealfall", räumt Werbemann Jablonsky 
vorsichtig ein. "Manche Kinder wollen einfach nicht arbeiten." Hier sind 
die Pädagogen gefragt. Ständiger Begleiter Schröders ist Herbert 
Grönemeyer, der jetzt einen seiner alten Hits entstaubt. "Kinder in den 
Schacht" - mit dieser mitreißenden Devise will er so manches Stadion zum 
Kochen bringen. Seine Roadies: Kinder im Vorschulalter. "Die schwersten 
Boxen tragen sie, wenn's sein muß halt zu zweit", schildert Grönemeyer 
den Touralltag. Schröder nickt zustimmend. "Wenn einer unserer 
Youngsters kollabiert, muß man eben Abstriche machen. Man kann nur im 
Vorfeld durch harte Strafen dafür sorgen, daß keiner ans Simulieren 
denkt."
  
Eigentlich sollten Klavierstunden schon längst mit Unverständnis 
belächelt werden. Doch während in Deutschland viele Unternehmen noch 
sehr zögerlich im Umgang mit dem "Rohstoff Kind" (Spiegel) sind, ist man 
in den USA wie immer einen Schritt voraus in Richtung Privatisierung. 
"Get rid of your kid" heißt die Initiative, in der Eltern ihre 
Sprößlinge unbürokratisch zum Bruttosozialprodukt beitragen können.
  
Auch im Internet macht das Thema Furore. In Chatrooms können Schleifer 
ihre besten Tips & Tricks austauschen, und ein Online-Bestellservice für 
kindgerechte Arbeitsdrogen - "Speedy Gonzales", "Koksschnitte", 
"Überraschungs-E" - ist schon eingerichtet. Auch die Wissenschaft 
schläft nicht. Erste Experimente mit Tiefkühlkindern sind zwar noch 
unbefriedigend - geeignete Auftauöfen sind noch nicht erfunden, 
Gefrierbrand ist an der Tagesordnung. "Aber wir werden das Kind schon 
pökeln", scherzt Wolfram Schl., Pressesprecher eines bekannten 
Speiseeisherstellers.
  
Viele Kinderarbeitsplätze gehen z.Zt. jedoch gerade in der 
Schwerindustrie verloren. Die Thyssen AG entließ zum letzten Quartal 
über 1.000 Bambino-Malocher, die Tätigkeiten wie das Reinigen von 
Benzintanks und die gefährliche Wartung defekter Hochöfen übernommen 
hatten. Thyssen-Manager Bert Weibel: "Immer öfter blieben verendete 
,Kurzarbeiter', wie wir sie etwas salopp nennen, in den Tanks zurück. 
Und gerade im Walzwerk hatten wir gegen Ende der Doppelschicht unserer 
Jüngsten eine hohe Verlustrate. Termine konnten nicht eingehalten 
werden. Da muß man nüchtern kalkulieren." Das Gütesiegel "Garantiert 
Kinderarbeit" prangt jedoch bereits auf vielen Produkten und gibt dem 
Konsumenten die Gewißheit, daß hier ordentlich ausgebeutet wird.
  
Es zeigt sich: Auch im Fall Kinderarbeit sind der Phantasie keine 
Grenzen gesetzt. Die schleppende Reaktion des Gesetzgebers auf die 
veränderten Anforderungen des globalen Marktes sind in einem 
konkurrenzfähigen Deutschland sicherlich nicht zukunftsweisend. Auch auf 
seiten der Grünen steigt die Akzeptanz des neuen Beschäftigungsmodells. 
Die leidige Tierversuchsdebatte könnte mit einem Schlag beendet sein; 
entsprechende Gesetzesvorschläge sind bereits eingereicht. "Die 
infantile Schiene werden wir noch eine Weile fahren können", so der 
Kanzler zufrieden, "doch langfristig ist auch die Erschließung des 
Seniorenmarktes eine Alternative." Endlich ist es soweit: Es bewegt sich 
etwas in unserem Land. 
  
Daniel Hermsdorf und Benjamin Heßler
  
taz Nr. 5661 vom 16.10.1998 Seite 20 Die Wahrheit 144 Zeilen
TAZ-Bericht D.Hermsdorf / B.Heßler
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