Ohne Gewähr bei Fuß

Von der Morgenlektüre eines jungen Widerständlers

"Wo sind denn bloß meine Schulterklappen?" Für den jungen Rekruten Ole Schweikart ist es eine Frage von Schein und Nichtschein. Und heute ist ja auch ein ganz besonderer Tag. Er will zwischen all den anderen stehen, und all die anderen haben Schulterklappen. Mutter Schweikart weiß Rat: "Junge, ich geh' deine Schulterklappen suchen. Lies derweil doch was zur Entspannung. Hier!" Oles Stirn runzelt sich ob der kapitalen Schwarte. Franzacken-Philosophie ohne Titel auf dem Buchrücken. "Ich schwöre es" bedeutet etwas anderes, je nach dem, ob man es in der Familie, in der Schule, in einer Liebesbeziehung, in einer Geheimgesellschaft oder vor Gericht sagt: es ist nicht dieselbe Sache und auch nicht dieselbe Aussage; es ist nicht dieselbe körperliche Situation und auch nicht dieselbe körperlose Transformation. Bei Körpern spricht man von Transformation, aber sie selber ist körperlos, geschieht innerhalb der Äußerung. "Uiuiui, Mutti, ,körperlos', wozu hab' ich denn heute morgen geduscht?" - "Das war schon ganz richtig, Ole, und warum fängst du auch auf Seite 115 an? Dann lies halt die neue Bundeswehr aktuell, da kannst du wenigstens mitreden nachher beim Gelöbnis." "Au ja, ein buntes Heft!" Ole will einfach nur leben, und da ist ja auch schon die Rubrik "Lifestyle": Sie stürzen sich in eine atemberaubende 3-D-Welt, die Sie aus allen erdenklichen Positionen betrachten können. Der erste Feindkontakt wird nicht lange auf sich warten lassen. Jetzt zeigt sich die wahre Stärke der Truppe. Ohne Schulterklappen ist man in so einer Situation geliefert, denkt Ole. "Mutti, was ist 3 D?" Mutter Schweikart lacht auf. "Das war mal, Ole. Da gehörte Österreich noch dazu, und, warte mal..." Eine Schublade hat sich verkantet. Der Alltag verstellt für Momente Mutter Schweikarts Blick auf die Historie. Schon liest Ole gebannt weiter. Nach einer gewissen Zeit ist die Truppe schlagkräftig genug, um den Kampf mit den Gegenparteien aufzunehmen. Dabei gilt stets: Angriff ist die beste Verteidigung! "Die Zeitschrift ist total spannend!" ruft Ole zum Dachboden hinauf, einem jener Dachböden, in denen Schulterklappen so rar sind. Und was tut die Jugend, wenn sie unbeaufsichtigt bleibt? Sie bildet sich. Langeweile kommt bei diesem Echtzeit-Strategiespiel garantiert niemals auf. Dafür sorgen allein schon die neuentdeckten Technologien, aus denen immer bessere und schlagkräftigere Truppengattungen entwickelt werden können. Weiterer Pluspunkt: Was in der ersten Mission einer Kampagne aufgebaut wurde, bleibt bestehen. Der nervtötende Neuaufbau am Anfang jeder Mission - durch den sich so manches Strategiespiel "auszeichnet" - entfällt. Gott sei Dank! "Mutti, hier steht, wenn ich durch die Grundausbildung bin, ist richtig Action beim Bund." - "Da hast du recht. Es sind aber längst nicht alle so gut vorbereitet wie du. Wie war dein letzter Highscore?" Noch bevor Ole antworten kann, knöpft sich Mutter Schweikart den Keller vor. An den Schulterklappen soll ihre kleine Kampfmaschine nicht scheitern. Verschlafen sieht sich Ole um. Da liegt noch eine Zeitung. Die Vorsitzende der Gruppe der Frauen der CDU/CSU-Fraktion, Bärbel Sothmann, hat einen Einsatz von Frauen in allen verfassungsrechtlich möglichen Bereichen der Bundeswehr gefordert. Oles Kopf sinkt auf den Küchentisch. Er träumt von seiner Kompanie. Und plötzlich sind da auch Mädchen. Und Scharping in tarnfarbenem Nachthemd, der lauthals von tausend Plateaustiefeln träumt, die er den Mädchen schenken will. Naumann betritt den Traum und warnt Ole eindringlich vor den Waffen der Frauen - doch da weckt ihn Mutter Schweikart. Ole blinzelt und merkt: Das muß wohl Echtzeit sein.

Daniel Hermsdorf


taz Nr. 5890 vom 20.7.1999 Seite 20 Die Wahrheit 118 Zeilen TAZ-Bericht Daniel Hermsdorf © Contrapress media GmbH Vervielfältigung nur mit Genehmigung des taz-Verlags