Vorsicht 9/11-Verunklärung!

Die Debatte um die Terroranschläge des 11. Septembers 2001 in 12 Minuten aufzurollen – diesen abenteuerlichen Versuch unternahm am 28.02.2012 die ZDF-Dokumentation „Vorsicht Verschwörungstheorie!“ von Michael Renz und Martina Schindelka.

In einem magazinigen Format mag man das in der Redaktion für ein probates Mittel gehalten haben. Es wurde auch schon in vorherigen Produktionen von „ZDF History“ erprobt, die hier z. T. ins Recycling gingen. Der Effekt in Präsentation und potenzieller Erkenntnis bleibt derselbe und ist höchst fragwürdig: In scheinbarer Ausgewogenheit stellen Renz/Schindelka mit Dylan Avery („Loose Change“, USA 2006-11) zunächst einen truther vor, dessen Reputation jedoch durch zahlreiche Revisionen gelitten hat. Wie zur Illustration der staatsfeindlichen Rolle eines „autorisierten Helden“, der in Wirklichkeit dem System dient (indem er sich angreifbar macht), trägt Avery ein Sweatshirt mit Teufelsfratze:

Dylan Avery, Macher von Loose Change

Screenshot: ZDF, 28.02.2012

Dies bestätigt meinen Hinweis auf die Inszenierung von Terroristen – und hier also Kritikern der US-Regierung – im 9/11-Komplex als Dämonen. Und Avery ist auch vom Namen her sehr verdächtig: Mit (Bob) Dylan und (Tex) Avery sind zwei – sehr unterschiedliche – Persönlichkeiten der Pop-Kultur angesprochen: eine Galionsfigur der außerparlamentarischen Opposition der 1960er/70er Jahre und ein Trickfilm-Zeichner, der für seine besonders drastisch-gewalttätigen Cartoons aus dem Studio der „Warner Bros.“ bekannt ist. (Solcherart sind oft die Verweise in der kollektiven Traumarbeit der Kulturindustrie. Wer das verstiegen findet, wird seine Umwelt wohl nie begreifen.) Zu den letztgenannten Produktionen gehört auch der im 9/11-Kontext des Internets mittlerweile vielzitierte Kurz-Trickfilm „Often an Orphan“ (USA 1949) eines anderen Warner-Chef-Regisseurs, Chuck Jones, in dem es heißt: „Look, it’s the towers – they’re falling!“

Von solchen Dokumenten und daraus abzuleitenden Interpretationansätzen weiß man beim ZDF angeblich erst recht nichts.

Zu „Loose Change“ wird das vereinzelte Argument angeführt, es seien entgegen Averys Darstellung Flugzeugtrümmer am Pentagon gefunden worden. Damit sind die offenen Fragen jedoch keineswegs beantwortet. Das Problem ist eher, dass die Diskussion im Laufe der Jahre immer umfänglicher und unübersichtlicher geworden ist. (Als Beispiel für detailliertere Erörterungen zum genannten Thema sei einmal diese englischsprachige Seite verlinkt.) Haltlose Spekulationen und valide Argumente zu ordnen und in eine konsumierbare Form zu bringen, ist eine der wesentlichen anstehenden Arbeiten. ZDF-Mitarbeiter, die zu den am besten bezahlten ihres Metiers gehören, tun gerade dies (aus Faulheit und/oder mit politisch motivierter Absicht) nicht. Zur Hauptsendezeit scheint es keine Informationen aus Buchveröffentlichungen und dem Internet als Optionen der Differenzierung zu geben. Man wendet sich offensichtlich an ein Publikum aus den Reihen der 27 Mio. deutschen Offliner, von denen eine Studie ausgeht.

Als Lichtfigur der besonnenen Aufklärung wird dann Guido Steinberg herangezogen. Er entkräftet scheinbar das Argument, Abfangjäger der Luftwaffe hätten eigentlich die Flugzeuge mit den Attentätern erreichen können. Dabei wird auf das vereinzelte Faktum hingewiesen, die Abfangjäger seien „ganz offensichtlich auf ein solches Szenario nicht vorbereitet“ gewesen. Was so ganz offensichtlich verschwiegen wird, ist die Tatsache, dass es just an diesem Morgen Übungen der Luftwaffe wie „Vigilant Guardian“ gab, wodurch eine nachhaltige Verwirrung von Piloten unausweichlich war – Manöver oder Realität? Steinberg, der laut ZDF „seit Jahren“ 9/11 erforscht, ist diese Tatsache im Interview keine Erwähnung wert – einer von mehreren „Terrorismus-Experten“ des Senders, die mit dem Zweiten schlechter sehen lassen.

Paul Schreyer äußert sich zu diesem Thema mit solchen Aussagen:

Das ZDF tut so, als hätte es eine jahrelange Debatte und zuletzt Buchveröffentlichungen wie jene von Schreyer (der sich verstärkt dem Aspekt der Flugüberwachung an 9/11 widmet) gar nicht gegeben. Und sicher ist dies auch ein Format-Problem: Bei 9/11 als einem Thema unter mehreren in 45 Min. kommt dabei, man muss es leider so deutlich sagen, nicht mehr als ein Pseudo-Info-Klumpatsch heraus. Dass hierfür Gebührengelder aufgewendet werden, ist reine Verschwendung – denn diejenigen, die bezahlen, werden von längst bekannten Tatsachen systematisch ferngehalten. Die Fundierung und Glaubwürdigkeit sog. „Verschwörungstheorien“ zu den Ereignissen sind freilich selbst zu hinterfragen; aber auch hier gilt es in der Tat zu differenzieren.

Die restlichen 33 Minuten von „Vorsicht Verschwörung!“ widmen sich einem Potpourri wichtiger und weniger wichtiger Beispiele für konspiratologische Forschung. Somit werden politisch und historisch höchst relevante Beispiele wie 9/11 mit dem zwar berechtigten, aber eher spielerischen Gedanken, die Mondlandung sei gefälscht worden, in eins gesetzt – vom Langzeit-Double eines angeblich toten Paul McCartney einmal ganz zu schweigen. Hier bedient sich die TV-Dokumentation derselben diffamierenden Konzeption wie zuletzt das Radiofeature „Mythos Bielefeld. Verschwörungstheorien und ihre Geschichte(n)“ (Deutschlandfunk, 29.01.2012) von Christian Blees. Mit vergleichbarem Recht könnte man in derselben Sendung über Journalisten berichten, die Umweltskandale aufdecken, und diese mit Autoren von Testberichten zu Scherzartikeln vergleichen. Als rhetorische Kontrastierung kann dies funktionieren – als Kontextualisierung ist es mehr als unsachlich. Es ist billige Propaganda. Was der Mainzer Sender wie auch der Deutschlandfunk zu diesem Thema aufzubieten haben, mutet Internet-Leser schon jetzt an wie jene verstaubten Wochenschau-Berichte, in denen die Produktionen Guido Knopps seit Jahrzehnten wühlen.

Das Wiki zu „Kino Okkult“ bietet zu offenen Kernfragen bezüglich 9/11 und den in Verschwörungstheorien ventilierten Begebenheiten und Personalien umfangreiche Informationen. Sie sind ein Zusatzangebot zur Buchveröffentlichung zum „11. September 2001“, die aufzeigt, welche Anzeichen in Spielfilmen es seit den 1920er Jahren gibt, dass in elitären Gruppierungen Vorausplanungen für den symbolträchtigen Einsturz von Hochhäusern stattfanden.

Sich mit solchen Recherchen und Hypothesen zu beschäftigen, liegt der zeitlich limitierten Form einer Dokumentation wie „Vorsicht Verschwörung!“ offensichtlich fern. Doch irgendwann muss man sich entscheiden: Tunnelblick, Desinformation und Irrelevanz – oder genaue Beobachtung, abgewogene Darbietung und Respekt vor anderen Perspektiven?

Daniel Hermsdorf

Verleger, Autor, Journalist bei filmdenken.de - Medienkritik, Verschwörungstheorie und Physiognomik

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