Fräulein Tagesschaus Gesang vom Schnee

06.01.2006

Nachdem noch im vergangenen Jahr Strommasten unter der Last des Schnees nachgaben, war es dieser Tage eine Eislaufbahn in Bad Reichenhall, die zusammenstürzte und mehrere Menschen für immer unter sich begrub.
Die Nachrichtenredaktionen beeilen sich, vor den vielen aufgrund "leerer Kassen" baufälligen Gebäude zu warnen, die man demnächst sperren müsse. Das mag den Tatsachen entsprechen. Eine Tatsache, aber auch ein Text ist ein Satz von Siegfried Kracauer aus dem Jahr 1927, der von der Fotografie handelt: "Die 'Bildidee' vertreibt die Idee, das Schneegestöber der Photographien verrät die Gleichgültigkeit gegen das mit den Sachen Gemeinte." (S.K.: Die Photographie [OA.: 1927], S.27. In: Ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt a.M. 1998, 7. Aufl. [OA.: 1963], S.21-39)
Um derlei kümmert man sich heute (es ist die historische Zeit, nicht das ZDF-Nachrichtenmagazin gemeint) nicht sonderlich gern. Man zeigt lieber stundenlang Trümmer und Rettungswagen und stellt zum dritten Mal Fragen, die schon beim ersten Mal so beantwortet wurden, dass man entweder weiß: Es gibt keine Antwort, oder: Die Antwort wird sich finden, aber nicht jetzt.
Heute hört man in den Nachrichten von Kindern, die mit Todesfolge in einen vereisten See eingebrochen sind. Auch dies sind Meldungen, die man jedes Jahr hört.
Zu den nirgendwo publizistisch bedachten Aspekten unserer Wirklichkeit gehört, dass es in künstlerischen Werken ebenfalls um jene Kälte geht, die uns irgendwie zu schaffen macht. Die filmische Motivgeschichte des Eises wird an anderer Stelle erzählt werden, doch die aktuellen Meldungen erinnern mich einmal mehr daran, wie ich vor ein paar Monaten mit anderen Menschen über den ersten Film des "Dekalogs" von Krzysztof Kieslowski sprach (Dekalog, jeden, Dekalog, eins, POL 1988). Da ertrinkt ein Junge (Wojciech Klata), weil sein Vater Krzysztof, ein Mathematiker und Dozent für Sprachtheorie (Henryk Baranowski), die Dicke des Eises auf dem benachbarten See falsch berechnet hat.
Es ist eine tragische Geschichte, und die offensichtliche Verbindung zum ersten biblischen Gebot besteht darin, dass der Agnostiker Krzysztof den Berechnungen seines Computers mehr Vertrauen schenkt als einer überirdischen Macht.
Man kann in der Geschichte aber auch eine medientheoretische Parabel sehen: Der grünliche Computerbildschirm ist nicht nur ein Instrument für Rechenaufgaben, sondern z.B. ein Mutterersatz für den Jungen Pawel. Sein Vater hat ein Programm geschrieben, das auf seine eingegebenen Fragen antworten soll - weil seine Mutter getrennt von der Familie lebt und im Film gänzlich abwesend bleibt. Ich weiß nicht, wie manche Menschen sich fühlen, wenn sie einen solchen Film sehen.
Wer mehr über den Film lesen möchte, kann sich einem Text in der Arbeitsfassung widmen, der sich mit Kieslowskis Film befasst. Dazu gibt es noch ein Arbeitspapier, das schematisch die erzählerischen und metaphorischen Strategien des Films behandelt. Auch Kritik daran ist erwünscht: dh@filmdenken.de.


DH

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