#Gauck in einem Boot mit Slavoj #Žižek und Alain #Badiou

Noch eine vielbeachtete Rede von Bundespräsident Joachim Gauck in kurzer Folge – und noch ein Anlass, seine Rhetorik und Argumentation zu kommentieren: „Berliner Symposium zum Flüchtlingsschutz“ (30.06.2014).

Auch hier ist der erste Eindruck: Gauck spricht prinzipiell die richtigen Sachverhalte an. Im Kontrast zu den nach wie vor sehr umstrittenen Fragen zur Entstehung des Ersten Weltkriegs geht es hier um ein aktuelles Thema, zu dem also politische Entscheidungen anstehen. Der Bundespräsident sprach:

Für mich gilt daher: Eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik hat sicherzustellen, dass jeder Flüchtling von seinen Rechten auch Gebrauch machen kann – nicht zurückgewiesen zu werden ohne Anhörung der Fluchtgründe, gegebenenfalls auch Schutz vor Verfolgung zu erhalten. Auch die Hohe See ist kein rechtsfreier Raum, auch dort gelten die Menschenrechte.

Die Argumentation ist insgesamt abgewogen. Gauck wies zurecht darauf hin, dass Deutschland proportional weniger Asylbewerber habe als andere europäische Länder. Und im ganz Großen setzt er sogar an derselben Stelle an wie Linksaußen-Philosophen: Slavoj Žižek oder Alain Badiou gehen in ihren Beiträgen der Frage des Universalismus von Prinzipien und Werten nach.

So kompliziert die philosophische Debatte in letzter Konsequenz, so allgemein-menschlich die Ausgangsfrage. Intuitiv geht die Antwort meist in Richtung eines Mitmenschlichen, das sich als universell anwendbare Ethik formulieren lässt. Die Realität Europas, an dessen Grenzen die polizeiliche Organisation „Frontex“ die Hoheit der Staatsgrenzen verteidigt, ist bereits eine andere. Und bei potenziell wachsenden Flüchtlingsströmen aus afrikanischen Staaten wird sich ab einem bestimmten Punkt immer die Frage stellen, wer in wohlhabenden Ländern das leisten soll, was arme Nachbarländer von Krisenstaaten in ungeheurem Ausmaß bewerkstelligen: Nothilfe für Massen von heimatlos Gewordenen.

Geht man also diesen Schritt weiter in der Reflexion, wird das Klima schon rauher. Gauck steht mit seinen Argumenten an der Stelle: ‚Uns geht es sehr gut, besonders viele Flüchtlinge nehmen wir gar nicht auf, obwohl Ängste gegenüber Flüchtlingsströmen geschürt werden.‘ Was an Gauck missfällt, ist z. B. fortgesetzt dies: Er redet Probleme klein – eindeutig aus der Erfahrung eines Menschen, der als Kirchenvertreter stets in gesicherten Einkommensverhältnissen gelebt hat, existenzielle Unsicherheit demnach aus eigener Erfahrung als Erwachsener gar nicht kennt.

Ein Grund für Gaucks Amt als Beauftragter für die Stasi-Unterlagen und seine Nominierung als Bundespräsident ist seine DDR-Vergangenheit, aus der er politisch unbelastet hervorging. Im öffentlichen Bewusstsein steht Gauck deshalb für eine politisch aufrichtige Haltung, die im DDR-Kontext sogar persönliche Risiken und Belastungen auf sich nahm. Ein Zeitgenosse wie Hans-Jochen Tschiche erinnert sich in der „Süddeutschen Zeitung“ (27.02.2012) jedoch zur exponierten oppositionellen Bewegung anders:

Aus dieser Bewegung kamen die Leute, die man heute die Bürgerrechtler nennt. Sie forderten die Demokratisierung des sozialistischen Staates. Ich war von Anfang an dabei. Von Gauck habe ich in dieser Zeit nie etwas gehört.

In der bundesrepublikanischen Gegenwart scheint sich Gauck jedenfalls vollends wohl zu fühlen. Selten – wie hier unter dem vorletzten Link im Video zitiert – bemerkt er die starke Wohlstandsungleichheit im reichen Deutschland. Etwa Zahnbehandlungen werden immer mehr zum Luxus – wo, bitte, bleibt bei den Betroffenen denn noch nennenswert überschüssiger Wohlstand, den sie zu verteilen hätten? Der existenzielle Vorteil von mehr als 70 % der deutschen Bevölkerung liegt in der noch bestehenden Garantie auf Nahrungsmittel, Kleidung, Wohnung und Heizung. Ihre aufwändige technische Infrastruktur beginnt zu bröckeln und kann jetzt schon kaum noch vollumfänglich finanziert werden.

Auch wenn ein Bundespräsident nicht vordringlich über Krankenkassen und Autobahn-Sanierung spricht – wo finden sich bei Gauck allgemeinere Begriffe zu solchen Problemen der Gegenwart? – Sein Weltbild ist in solchen bedeutenden Bereichen verzerrt, gar völlig unzureichend zu nennen. Und dies überträgt sich auch auf diejenigen, die bis vor wenigen Jahren noch das kritische Korrektiv einer bundesdeutschen Demokratie sein sollten: die Journalisten. Eine Google-Suche zu „Gauck Rede Kritik“ bringt auf den ersten Seiten überdurchschnittlich viele Ergebnisse dazu, dass Gauck den türkischen Premier Recep Tayyip Erdogan in einer Rede kritisierte – über dessen politisches Regime man sich relativ leicht erheben kann. Substanzielle Kritik an Gauck durch die landeseigene Presse? Weitgehend Fehlanzeige.

Je genauer man in Gaucks Redentexte hineinliest, desto mehr und haasträubendere Bestätigungen findet man für die These, dass bei ihm verständliche Denkansätze zu wohlklingenden, aber stark vereinseitigten und teilweise völlig irreführenden Schlüssen führen. Als wäre es ihm nicht bewusst, dass jede Art erzwungener Migration starke Belastungen für die Betroffenen und über Generationen hinweg einen enormen Aufwand in Spracherwerb und kultureller Integration nach sich zieht, geht Gauck von ausgehungerten und analphabetischen boat people vor Lampedusa über zum Beispiel der Hugenotten im 17. Jahrhundert:

Damals gab man den Neuankömmlingen die Möglichkeit, sich durch eigene Arbeit einen Platz in der neuen Heimat zu erarbeiten – zum Vorteil auch des Aufnahmelandes. Auch daran sollten wir denken in einer Gesellschaft, in der viel über den demografischen Wandel, Bevölkerungsrückgang und drohenden Fachkräftemangel diskutiert wird.

Wieder einmal von Spitzenpolitikern: kein Wort dazu, dass „Bevölkerungsrückgang“ auch durch Familienpolitik bekämpft werden könnte – mit vielen Konsequenzen, die lediglich egoistische Kapitalinteressen in die Schranken wiesen. Und mit diesen scheint Gauck schlicht im besten Bunde zu stehen. Das zuletzt zitierte Argument Gaucks ist, bezogen auf Bildungsstand und kulturelle Identität von Kriegs- und Armutsflüchtlingen von außerhalb Europas, purer Nonsens. Dies ist für ein Staatsoberhaupt ein bestürzendes Zeugnis. Es deutet immer mehr darauf hin, dass Gauck ein Instrument bestimmter Interessen ist – jedoch nicht derjenigen von Bevölkerungsmehrheiten seines Landes.

Daniel Hermsdorf

Verleger, Autor, Journalist bei filmdenken.de - Medienkritik, Verschwörungstheorie und Physiognomik

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