#Fußball-Rhetorik, die Realität und das eigentlich Relevante

Es fällt mir seit vielen Jahren auf und es gäbe tausend Beispiele zu nennen. Ich beschränke mich hier aber einmal auf allgemeine Aussagen und zusammenfassende Konkretisierungen: Die während der laufenden Fußball-Europameisterschaft noch häufiger zu hörenden Kommentare und Nachbesprechungen von Spiel-Ereignissen sind wohl eines der heftigsten Beispiele einer in den Wahn abdriftenden Kultur.

Zentral für die Beurteilung dieses Vorgangs sind wiederum Einschätzungen, die ich hier nicht nochmals im Ganzen abarbeiten kann: Es geht darum, ob wir uns in einer stabilen Lage befinden – oder auf dem absteigenden Ast. Es geht darum, ob wir in überalternden Gesellschaften ein würdiges Überleben sichern können, ob immer mehr Zuwanderer an für sie und den Rest der Stamm-Bevölkerung akzeptablen Zuständen effektiv mitarbeiten können, ob die horrenden Schuldenstände in allen Industrieländern irgendwann zum globalen Finanz-Crash führen oder doch nicht bzw. vorerst immer noch nicht.

Das Programm meines “Krisen-Abriss” (2012) ist also leider nicht inaktuell geworden: Überalterung, Überschuldung, Multikultur als Schein-Alternative, (nicht zuletzt massenmedial induzierte) Verdrängung von Vergänglichkeit und Krisen.

Der Fußball ist – neben anderen Profi-Sportarten als deren erfolgreichste – zum einen das Fantasma von Sieg, Reichtum und sexueller Erfüllung (letzteres Beides in der yellow press zu den Spieler-Stars). Die Lebensrealität der Fans besteht leider allzu oft im besinnungslosen Besäufnis. Schon das ist ein eklatanter Widerspruch, der in der Berichterstattung fast gänzlich ausgespart wird – wir haben es mit Propaganda, nicht mit Journalismus zu tun. Sport-“Journalisten” sind eben eigentlich Verkäufer eines Produkts, von dem sie selbst profitieren – keine unabhängigen Beobachter.

Auch das ist ein Faktor, der zur Wahnbildung beiträgt. Zwar hat man bei Vertretern wie Béla Réthy durchaus den Eindruck, dass hier bereits eine versteckte Selbstparodie läuft. Auf der Oberfläche aber wird der Schein der familientauglichen Gaudi und des harmlosen Spiels gewahrt. (Von Korruption und Geldgier der Verbands- und Medien-Funktionäre will ich hier gar nicht reden.)

Der vordergründige gesellschaftliche Zweck ist die Ideologie der Gemeinschaft. Das, was in vielen Fällen in einer angeblich multikulturellen Gesellschaft nicht funktioniert, wird hier inszeniert: reibungslose Kooperation zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, Erfolg als Resultat. Dies überspielt ganz eindeutig die sich in Zeiten der sog. “Flüchtlingskrise” zuspitzenden Konflikte und Verteilungsprobleme: Integration ist prekär, der volkswirtschaftliche Beitrag von Zuwanderern nicht eindeutig positiv (verlässliche Statistiken sind Mangelware), die kulturellen Gegensätze sind oft über Jahrzehnte unüberwindlich.

Wenn 22 Menschen auf einem Platz gegen einen Ball treten, scheinen diese Realitäten jedoch verschwunden zu sein. An Nationalspieler Jérôme Boateng wurde zuletzt volkspädagogisch eingeübt, was sich in der außerfußballerischen Realität wohl leider nachhaltig nicht bewahrheitet: Weder sind kaum integrierte und in großer Zahl arbeitslose Zuwanderer in der Nachbarschaft vergleichbar mit einem, der vom Mediensystem zum Fußball-Millionär erkoren wurde; noch ist der friedliche Wettbewerb das, was aus Multikultur zwangsläufig resultiert. Schon manches Fußballspiel, das mit Flüchtlingen in guter Absicht arrangiert wird, endet in der Prügelei – nicht selten unter den Zugewanderten selbst.

Es sind also zunächst gute Absichten, die diese Volkspädagogik anleitet – die die Realität jedoch allzu oft Lügen straft. Es ist die Frage, ob man nicht an anderen Punkten ansetzen müsste. Der Eindruck jedenfalls, gesellschaftliche Integration könne allein über Sport gelingen, scheint mir trügerisch zu sein. Das, worum es eigentlich geht, ist erheblich mühsamer – und führt bei Zuwanderern nicht selten zu lebenslanger Frustration: Schulbildung, anspruchsvolle Berufsbilder. – Das Sprichwort “Erst die Arbeit, dann das Vergnügen” wird hier umgekehrt. Erfahrungswissen zählt immer weniger. Es zählt die Illusion, die überbezahlte Medien-Eliten als kurzfristig erfolgreichen Programminhalt verinnerlicht haben.

Ob im Kommentar der laufenden Spiele oder in der Nachbesprechung im Interview mit Trainern – auch im sprachlichen Fußball-Jargon existieren solche Widersprüche zum gesamten realen Umfeld des Spiels. Ich stelle das einmal tabellarisch gegenüber:

Medien-Fußball-Jargon Realität
Gemeinschaft Ungleichheit, Konflikt, Abgrenzung
Nationalgefühl anti-deutsche Meinungsführerschaft
Erfolg prekarisierte Lebensformen
gezieltes Training, Planung mangelnde Fokussierung und Selbstorganisation
Aufmerksamkeit Desinteresse, Unwissen, Bequemlichkeit, Verdrängung

Ich denke, mit den Aspekten der rechten Spalte hat jeder – in eher zunehmendem Maße – zu tun, der sich politischen und gemeinschaftlichen Projekten, zivilgesellschaftlichem Engagement sowie Publizistik (zumal einer von Medienkonzernen unabhängigen) und Forschung widmet.

Ich sehe keine wesentlichen verallgemeinerten Informationen, die etwas anderes besagen: über den Rückgang von Mitgliederzahlen in Parteien und Kirchen zu sinkenden Auflagen von Zeitungen und Zeitschriften zu prekarisierten Anstellungsverhältnissen in Forschung und Lehre. Von der Selbstausbeutung der schreibenden und filmenden Zunft in den neuen Öffentlichkeiten des Internets mal gar nicht zu reden.

So sind die Fußball-Diskurse oft eine metaphorische Verschiebung dessen, worum es eigentlich gehen müsste – und was in der Realität irgendwann zum nachhaltig unbearbeiteten, endgültig unüberwindlichen Problem wird. (In “Glotze fatal” habe ich an der Causa Delling/Netzer auch den sexuellen Subtext des Fußball-Theaters thematisiert – und Sexualität sowie daraus entstehende Kinder fehlen in Deutschland wohl an erster Stelle.) Als historisches Phänomen ist das wohl noch weitgehend unerkannt. In früheren Zeiten gab es mehr zu tun und es wurde wesentlich weniger gelabert. Nicht alles an den späteren Entwicklungen ist falsch oder unerfreulich. Aber leider hat sich, wie hier gezeigt, in solchen Bereichen eine Seinsvergessenheit durchgesetzt, die man wohl durchaus als existenzielle Gefahr einstufen kann. Was die vergessenen und verdrängten relevanten Themen betrifft, versucht eine Website wie diese in ihren Beiträgen Gegenwehr zu leisten. Angesichts der Mächte des Falschen bleibt die Hoffnung derzeit allerdings bescheiden. Ich habe dazu keinen medientypischen Jubel-Jargon anzubieten.

Daniel Hermsdorf

Verleger, Autor, Journalist bei filmdenken.de - Medienkritik, Verschwörungstheorie und Physiognomik

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