I. Ungebremstes Begehren
25.08.2005
Prof.
Dr. Dieter Stolte in dankbarer Erinnerung zugeeignet
Die
Welt der ZDF-Serie "Der Alte" ist eine kalte, eine sehr, sehr
kalte. Seit 1986 ist Rolf Schimpf (Jahrgang '24)
Kommissar der Münchener Mordkomission, Nachname "Kress"
(wie der Journalisten-Branchenreport), Vorname "Leo"...
Die vorsätzlich fortgesetzte Verwendung (Verwändung?) vorgeschraubten
Graufilters haucht den Bildern jedes Leben aus. In einer sehr, sehr kalten
Kältekammer also gedeihen jene Früchte des Repressiven, die
bis auf den Grund des verdrängten Unbewussten des Freitagabends blicken
lassen.
Unter dieser scheinbar so geschäftsmäßigen Oberfläche
jedoch pulsiert ungebremstes Begehren, ja, sogar dessen Erfüllung
wird als Möglichkeit ausgestellt. So, wie aber Ordnung und Sauberkeit
nichts Gegebenes sind, sondern der ständigen Erneuerung bedürfen,
müssen auch die Erregungskurven der Protagonisten zu immer neuen
Paroxysmen ausfabuliert werden. Dabei steht jeder Figur ein festes Repertoire
von sexuellen Obsessionen zur Verfügung, die die vordergründige
Krimi-Handlung in ein unterschwelliges Szenario der Dekadenz und gewollten
Perversion ausufern lässt.
Körperliche Berührung ist für diese Inszenierung gleichwohl
tabu, darin sich der Einbruch der sozialen Wirklichkeit des Arbeitslebens
in die Fiktion ereignet.
Neben Kommissar Kress agieren die Assistenten Gerd Heymann (Michael
Ande), Axel Richter (Pierre Sanoussi-Bliss) und
Werner Riedmann (Markus Böttcher). Betrachtet
man sie in einer Einstellung aus der Folge "Es ist alles vorbei"
(Folge 290, D 2003, R: Gero Erhardt, Abb.2), fächert
sich der ganze Facettenreichtum ihrer sexuellen Interdependenzen auf.
Riedmann (rechts) verkörpert die junge Unschuld (Jahrgang '64), permanent
bedroht durch sexuelle Anfechtung. Seine Unerfahrenheit, die zur Schändung
reizt, wird bitterernst inszeniert, weshalb seine Figur jeglicher Komik
entraten muss. Heymann (Mitte) lebt als die unausgesetzte postkoitale
Depression, deren Wissen um den vergangenen Exzess und das eigene Gefallensein
seine melancholische Mine durchwirkt. Als einziger Hoffnungsschein umspielt
diesen Ausdruck in seltenen Momenten eine versöhnliche Güte,
die zugleich schicksalsergeben zu sein scheint.
Die sex machine des Drehbuchs des wie diese Bilder unlängst
verblichenen Volker Vogeler (de mortui nihil nisi vere) ist Richter (links).
Das folgende Pas-de-trois in der fiktiven Anordnung eines büronalen
Interieurs enthüllt Sexualität wie auch Wahrheit dieser Konstellationen.
Wie ein Panther schnürt Richter hinter dem verängstigten Riedmann
her, dabei gellend: "Es bewegt sich was." Dieser Satz bezieht
sich ebenso auf die dramatische Nicht-Entwicklung der nebensächlichen
Spielhandlung - Vater und zwei Söhne vogelern dasselbe Callgirl;
Mutter Susanne Uhlen übt Blutrache ("Ich
habe diese Nutte erschossen.") -, als auch auf die unentwegt
im Dialog erwähnte Tatsache, dass das Opfer schwanger war.
Während Abb.1 (s.u.) in realistischer Manier den Wunschtraum des
schüchternen, aber leicht entflammbaren Riedmann in einer ephemeren
Skizze festhält - Richter als personifiziertes Es im Schattenriss,
Riedmann passiv, Heymann verdeckt -, fächert sich in Abb.2
das Tableau in einem pseudosakralen intrinsischen Triptychon auf, indem
der nun Befleckte symbolisch von der Zierleiste der Türfüllung
enthauptet wird. Richter und Heymann werden zu Allegorien des Eros und
der Melancholie. Eros verweilt dabei mit Riedmann in Isokephalie, während
die Melancholie ihr Haupt im platten Bilde auf beider Vordermänner
Schultern ruhen lässt.
  
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Meilenweit
pikanter ein weiteres Blatt in der Erotica-Sammlung dieser Episode ist
hier als Abb.3 zu sehen. Riedmann gibt sich den Anschein, seine passive
Phase überwinden zu wollen und greift buchstäblich ins Geschehen
ein. Wie ein halb erigiertes Gemächt wirken die zusammengerollten
DIN-A-4-Blätter in Riedmanns masturbativ geschlossener rechter Faust.
Richter füllt die mittlere Bildachse aus und blickt offensiv gen
Kamera, während ein Detektiv (Thomas Schücke)
Auskunft über Handlungen eines um 8 Uhr morgens (zur Mordzeit) Observierten
geben soll.
Der schräge Schatten des Fensterholmens korreliert ebenso dem phallischen
Requisit, wie sie auch das Gefangensein in einer triebfeindlichen Kaserne
artikuliert. Der scheinbare sexuelle Triumph Riedmanns bleibt Phantasma,
ermöglicht einzig durch den Kamerablick und die Bildregie des Sohnes
von Heinz Erhardt. Der unversehens mit der auflodernden
Verstrickung der Kollegen konfrontierte Schnüffler biedert sich gleichsam
durch platte verbale Anzüglichkeiten den Liebenden an. Er behauptet,
er wäre im Falle der Beobachtung eines Mordes "von selbst gekommen".
So vermutet auch in einer späteren Szene der Sohn Frau Karens (Susanne
Uhlen), Mark Karen (Thomas Lawinky), sie habe ihn
"wohl kommen sehen."
Über den Darsteller des devoten Parts weiß die ZDF-Website:
"Wenn die Atmosphäre stimmt, geht es dem Schauspieler gut, nur ins
Flugzeug steigt er nicht gerne." Geoffenbarte Phobie oder gekonnte
Anspielung auf Erica
Jongs Sexbuch-Klassiker "Angst vorm Fliegen"? Die Verwirrungen
des Zöglings Riedmann werden uns wohl noch so manches Rätsel
aufgeben. Zum Beispiel so: "Ich liebe die Welt der Kaffeehäuser.
Sie geht zwar auch zugrunde ... Aber die haben einfach eine unverschämt
gute Gestik."
Reichlich verstiegen wird es dann in folgender Interview-Passage:
"ZDFonline: Was mögen Sie besonders gerne? / Markus Böttcher: Schönes
Wetter!"

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In
einer weiteren Szene (Abb.4/5) wird Richter mit der raumgreifenden Ausstülpung
seiner subkutanen Triebstrukturen konfrontiert. Als scheinbar Unterlegenes
der Spiegelphase regrediert er zum Proto-Ego seines Fetischcharakters.
Die Konfiguration ist eine beeindruckende Pietà sexueller Nicht-Erfüllung.
Richter verdeckt/umschließt die Figurine ungehemmter Promiskuität;
das angebetete, sich gleichzeitig entziehende Objekt ist jedoch nur ein
Automat. Der plötzliche Einbruch des Realen macht diese Sequenz so
bestürzend. Der kaputte Serien-Polizist, täglich watend durch
den Sumpf abgehackter Gliedmaßen, rekonstituiert leibliche Einheit
und findet spekuläre Bestätigung in der leblosen Körperlichkeit
des Kunststoffobjekts. Für den Getriebenen der ewig gleitenden Krimi-Fabel,
der vor dem Gesetz des Pantoffelkinos steht, ist auch dieser Augenblick
nur ein flüchtiger. Seine Pönitenz wird sich nicht lösen,
sein Ort bleibt das Nirgends.
  
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Die
Zurichtung des Subjekts durch die Indoktrinations- und Demütigungsmaschine
ZDF wird auch auf dessen Website offenbar, in deren Texten Akteure der
Serie "Privates" und sachdienliche Hinweise zu einem kuriosen
Flechtwerk der Sinnferne biegen.
"Ich will so werden, wie ich bin", weiß etwa schonungslos Pierre
Sanoussi-Bliss von sich zu berichten (ZDF-Überschrift: "Ein
typischer Schauspieler"). Passend zum vorabendlichen Wiederholungstermin
der Serie wendet er sich nun auch der jüngeren Generation zu. Er
schreibe "ein Kinderbuch, in dem es um das außergwöhnliche [sic]
Problem eines kleinen Jungen geht."
PR-Schergen des ZDFs betreiben derweil dezenten Rufmord. Sanoussi-Bliss
sei "kaum auf ein Fach festzulegen." Und: "Seine kreative
Persönlichkeit lebt er auch als Autor und Regisseur aus."
  
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Produzenten-Legende Helmut
Ringelmann
("Paths of Glory", USA 1957) wird auf ebendieser Website
ob seiner "spezifisch deutschen Krimis" beweihräuchert.
Die von ihm vom Bavariafilmplatz aus dirigierten Opi magni "haben
auch das Bild der Deutschen im Ausland positiv verändert und nachhaltig
geprägt, so ein Zitat von Hans-Dietrich
Genscher." Untrüglicher Nachweis und beredtes Zeugnis dafür
sind Abb.6/7.

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Wirkliche
Sorgen muss man sich nur um Michael Ande machen (Abb.8).
Michael
Böhnke / Daniel Hermsdorf
Zitierte
Websites:
http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/18/0,1872,2050930,00.html
http://www.zdf.de/ZDFde/portraet/0,1946,2047615,00.html
http://www.zdf.de/ZDFde/portraet/0,1946,2114065,00.html
http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/2/0,1872,2052962,00.html
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"Der Alte" - Anatomie einer Serie
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