Aufklärung zur Geisterstunde: "Ware Tier"

03.11.2006

Die Website der ARD empfängt heute mit den Worten: "Die Politikverdrossenheit der Bundesbürger schlägt sich nicht nur in sinkenden Umfragewerten der Politiker nieder. Erstmals im ARD-Deutschlandtrend hat sich auch eine Mehrheit unzufrieden mit der Demokratie gezeigt. Zudem wächst das Empfinden, dass es in der Gesellschaft ungerecht zugeht."

Das liest man auf dem Weg zur Info über eine Sendung, die gerade zu Ende gegangen ist: der dritte Teil einer Sendereihe, "Ware Tier", zum Thema "Auf der Suche nach dem frischen Fisch" (R: Christian Rohde).

Was man da hört, überrascht die am Thema Interessierten nicht prinzipiell. Es ist ein Beitrag zur Bewusstseinsbildung darüber, dass unsere Art zu leben Raubbau an der Natur ist. Gerade deshalb ist eine solche dokumentarische Arbeit notwendig: Rohde zeigt an Beispielen aus ganz Europa und an diversen Fangmethoden, wie der Fisch ins Netz kommt, verarbeitet, verpackt und konsumiert wird. Die Präsentation des Films weist mehrfach darauf hin, dass die Fangquoten in den Meeren zurückgehen, Bestände in den letzten Jahrzehnten dramatisch dezimiert wurden und noch werden.

Das Präzise an diesem Film ist einerseits die wortlose Teilnahmslosigkeit, in der die Kamera dem Umgang mit den Massen von Lebewesen und ihren zum Verzehr bestimmten Leichnamen beiwohnt, ihren Weg aus dem Wasser in die Fangmaschinerie und den Vertriebsweg in gekühlten Behältern, auf Versteigerungen und in Büros von Geschmackstestern verfolgt.

Und dann sprechen alltägliche Szenen für sich: die Nordseefischer, die die Hälfte ihres Fangs, vorwiegend verendete Tiere, wieder ins Meer zurückkippen, weil sie den vom Großhandel vorgegebenen Maßen nicht ganz entsprechen ("Beifang") - und sich damit langfristig selbst der Lebensgrundlage berauben, weil so die Zahl der jungen Fische sinkt und der Nachwuchs ausbleibt.

Da wird die Absurdität der entfremdeten Produktionsweise augenscheinlich; ebenso bei der bebrillten Expertin, die das zum rechteckigen Block gepresste Fischfleisch für die Herstellung von Fischstäbchen abmisst und auf seine Gradlinigkeit überprüft.

An diesen Stellen spricht die Realität für sich selbst. Die vorwiegende Zurückhaltung des Kommentartextes in puncto expliziter Wertungen wirkt da teils als berechtigtes Konzept, teils als Effekt einer Diplomatie, ohne die solche Bilder wohl erst gar nicht möglich wären. Ein Experte des World Wildlife Fund kommt nur für Sekunden zu Wort (mehr von dieser Seite: www.panda.org), doch der Tenor seiner Aussage ist die Prämisse des gesamten Films: So geht es wohl nicht weiter - auch wenn es so aussieht, dass es eher schlimmer wird. Über den ersten Teil der Serie, der sich mit Hühnerzucht beschäftigt, heißt es auf der Phoenix-Website: "Rohdes Kamerateam konnte nach langer Überzeugungsarbeit hinter die gut verborgenen Kulissen der Hühner- und Eierproduktion schauen." Eine vernünftige Idee für eine Gesetzesinitiative wäre es wohl, Produktionsbetrieben dieser Art die Pflicht zur Unterstützung journalistischer Berichterstattung zu verordnen. Ihre Werbespots dürfen sie auf diesen Sendern doch auch platzieren. Entweder oder.

Womit wir bei einer entscheidenden Frage wären: Wer sieht eine solche Sendung? Der ARD-Fernsehabend ist lang, bis eine solche Sendung auf den Plan tritt: Sendezeit 0.15 Uhr. Davor zählt noch Harald Schmidt die letzten Tage des Fernsehens, und Ulrich Wickert lässt sich von der Krimi-Autorin Anne Chaplet erzählen, wie angeblich Leser von "Regionalkrimis" Wegbeschreibungen aus literarischen Texten nachlaufen und sich ärgern, wenn diese nicht korrekt sind. Was Menschen eben so alles tun - Menschen, wie Chaplet sie sah. Der ARD mag es zur aufklärerischen Ehre gereichen, dass sie dem Publikum von 21.45 bis 22.15 Uhr in "Kontraste" bereits eine 30-Minuten-Dosis Gesellschafts- und Zeitkritik verabreicht hat (Themen u.a.: "Patientenverfügung - Ärzte entscheiden über Leben und Tod; Freibrief für Stasi-Spitzel - Ende der Überprüfung; Rechtsextremismus - Judenhass auf dem Schulhof").

Aber dennoch: Vollzieht man den Weg einer Dokumentation wie "Ware Tier" nach, beginnt sie im dritten Programm des produzierenden Regionalsenders NDR im Februar 2006 (Sendetermin nach 23 Uhr). Spartensender Phoenix sendet Wiederholungen des Dreiteilers im März, z.T. um 20.15 Uhr, z.T. nur oder zusätzlich nach 22 Uhr. 

Gut, dass der Deutsche zu Zeiten, wo er sich meistens die Packung Fischstäbchen reinzieht, eher seltener von derlei unschönem unsichtbarem Inhalt der Einschweißfolie belästigen lassen muss. Die statistisch stark überwiegenden Inhalte auch eines öffentlichen-rechtlichen Programms besteht in ganz anderen Umgangsweisen mit der "Ware Tier": Wochentäglich spielen "Giraffe, Erdmännchen & Co." um 16.10 Uhr auf einer Länge von 50 Minuten possierlichen Zoo-Alltag vor. Hier geht es um so nachhaltig bedeutende Ereignisse wie die Mühen eines Tierpflegers, der am kommenden Dienstag über die Schirme flimmert: "Er muss alle Wasserschildkröten aus dem Flamingobecken holen, weil sich die eingeschüchterten Vögel sonst nicht mehr ins Wasser trauen."

Als noch geistferner ist dann die fiktionale Variante zu erahnen, die im ARD-Programm sehr heavy angetrailert wird: "Tierärztin Dr. Mertens", dienstags um 20.15 Uhr, Länge: 50 Minuten und damit ebenfalls wöchentlich länger als eine der drei Folgen von "Ware Tier" (je 45 Min.). Der Ankündigungstext ist ein Labsal für jeden, der die masochistische Neigung dazu hat, sich dem zu widmen, was symbolisch vorherrscht. So verheißt die ARD-Website bezüglich "Tierärztin Dr. Mertens" am 7.11.: "Aber auch Papageien-Dame Lora macht Susanne Sorgen: Seit ihr Partner Amadeus gestorben ist, rupft sie sich in ihrer Einsamkeit alle Federn aus." Etwas anders hört sich das an, was vier Stunden später - und deshalb für die meisten Berufstätigen zu nachtschlafender Stunde - gesendet wird. Zum ersten Teil von "Ware Tier" heißt es an der erwähnte Stelle der Phoenix-Website: "Fast nackte Legehennen in Bodenhaltung, die wegen der angezüchteten Legeleistung ihr Federkleid abgeworfen haben und die sich tot hacken würden, schnitten ihre Halter ihnen nicht die Schnäbel ab." Schizoid wäre das TV-Programm nur dann nicht, wenn es seinen Konsumenten nicht erlaubte, in der einen oder anderen Parallelwelt zu verharren. Stattdessen heißt "Freiheit" jedoch, entweder die Viecher nur zu fressen und sich von Papageien-Dame Lora Sorgen machen zu lassen, oder sich die Laune von Massentierhaltung, Artensterben und Lebensmittelchemie verderben zu lassen. Na - "unzufrieden mit der Demokratie"?

Das Resümee über unsere Massenkultur und ihre Behandlung des lieben Viehs lässt sich schnell ziehen: Wenn Tiere eingesperrt oder vermenschlicht und dann möglichst noch als Filmbild repräsentiert erscheinen, nehmen wir das gerne an. Wenn Journalisten wie Christian Rohde mit einem wichtigen Anliegen die Welt bereisen und uns zeigen, wer wir sind, was wir essen und unseren Nachkommen hinterlassen, scheinen die Programmdirektoren per "demokratischem" Quotenentscheid gezwungen, die Sendezeit auf 22-0 Uhr anzusetzen, Werbung dafür eher zu vermeiden und den Rest der Sendezeit der Gehirnwäsche zu reservieren.

waretierdrmertens
Ware Tier  / Tierärztin Dr. Mertens
D 2006

ARD

Dies ist ein Beispiel für das Realismuskonzept unseres massenmedialen symbolischen Systems: Eine von manchen theoretischen Konzeptionen mit Prädikaten wie "Wahlfreiheit" oder "Operationalisierbarkeit" versehene Spaltung verkündet sich jäh in der Gegenüberstellung etwa ihres dokumentarischen und narrativen Gestus. Was kein Problem wäre, hätten diese Realitäten nichts miteinander zu tun. Nicht nur in der "Gesellschaft" geht es manchmal "ungerecht" zu. Die Frage ist, ob die Institutionen einer Gerechtigkeit so mächtig sind wie jene zur Verdrängung ihrer Argumente.


Daniel Hermsdorf

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 Nachtrag: Siehe zum Thema einen aktuellen Beitrag in Telepolis filmdenken.de-Index