Philosophische TV-Gesprächskult-Rolex-Replica
05.12.2005
Aus dem im letzten Monat
angeschwemmten Info-Strandgut ist mir eine Folge des "Philosophischen
Quartetts" (ZDF, 13.11.2005) in wiederholter Erinnerung geblieben,
die nach Verschriftlichung ruft. Thema der Sendung: "Die Diktatur
des Kapitals oder: Schlägt das Geld die Demokratie?" Gäste
sind der Wirtschaftspublizist und Vorsitzende der Bonner Ludwig-Erhard-Stiftung
Hans D. Barbier und der Soziologe und Ökonom Gunnar Heinsohn.
Die beiden sind als Antagonisten gewählt: Barbier redet konsequent
wirtschaftlichem Liberalismus das Wort, während Heinsohn auf historische
und aktuelle demografische Tendenzen abhebt und den Skeptiker gibt.
Interessant wie so oft zum Einen das Spiel der Gesten. Wenn Moderator
Peter Sloterdijk Barbier, mit dem er auf einer Couch sitzt, betont
freundlich anfasst, zeigt sich doch in seiner Mimik (Abb.2) durchaus Irritation
- ohne, dass er gleich Saddam Hussein mit Hitler vergleichen würde.
Barbier spitzt in während der gesamten Sendezeit mit angestrengt
ernsthaften, für Millisekunden auch mal in aufblitzende Erkenntnis
über von ihm geäußerten Flachsinn sich verwandelnden Gesichtszügen
die Lippen (Abb.1).
  
1/2 Das
philosophische Quartett
Hans D. Barbier und
Peter Sloterdijk
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ZDF
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Sloterdijk benetzt sich außerdem
für ebensolche Millisekunden in Hinwendung an den Liberalen die Lippen,
wobei Zufall und Intention des Zungezeigens untrennbar bleiben (Abb.3).
Und welche psychosexuellen Wirkungen jene Karaffe zeitigen mag, die in
den vermeintlich notwendigen Kamerafahrten um die Eloquierenden herum
vor der menschlichen Figur und ihren Körperpartien vorbeiwandert,
sei im so wahr als möglichen Sinne einmal dahingestellt (Abb.4).
  
3/4 Das
philosophische Quartett
Peter Sloterdijk und
Rüdiger Safranski
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ZDF
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Zum Anderen will ich hier einmal
eine Gesprächspassage herausgreifen, in der sich gut zeigt, wie Menschen
aneinander vorbeireden können, bis die Stunde Sendezeit vorbei
ist, wenn, so Sloterdijk sinngemäß in einem zum Ritual sich
verfestigenden Schlussmonolog, gerade die wesentlichen Fragen zur Debatte
stehen.
Also: Die Rede ist auf die Überalterung der Gesellschaft gekommen.
Interessant ist, wie Heinsohn und Barbier mit diesem Problem umgehen:
Nämlich symptomatisch für ihre Methode.
Heinsohn: 50% der 18-30jährigen
aus Deutschland können sich sehr gut vorstellen, ins Ausland zu gehen,
und zwar gerade die Tüchtigen - gerade die Tüchtigen.
Barbier (redet dazwischen): Ja, natürlich. Das Land kann man auch
fast nur meiden.
Heinsohn: Was sind die fatalistisch? Die können sich nicht mehr vorstellen,
dass sie selbst mit extremen Steuersätzen uns - (weist in die Runde)
wir sind alle 'n bisschen älter - dass die uns noch versorgen können
und sich selber etwas aufbauen können. Das können sie sich nicht
mehr vorstellen.
Barbier: Da sind wir hingekommen, ja.
Heinsohn: Das ist kein Fatalismus, das ist eine vernünftige Reaktion
auf - ich wiederhole mich - das Land mit der höchsten Vergreisungsgeschwindigkeit
der Menschheit.
Barbier: Aber die fällt doch nicht vom Himmel!
Heinsohn: Nein, die fällt nicht vom Himmel.
Barbier: Unsere Not fällt doch nicht vom Himmel, die ist politisch
gemacht. Das ist doch eine Schande.
Heinsohn: Wir haben 65 Nationen auf der Erde, die schrumpfende Bevölkerungen
haben, 65. Deutschland ist eine davon. Und es ist nicht in der allerschwersten
Lage. Da ist ein gemeinsames Problem von all diesen Ländern, das
Deutschland auch hat, und weil die das alle haben, jagt einer dem anderen
die Arbeitskräfte ab.
Barbier (redet dazwischen): Das kommt doch nicht daher, weil wir alt werden.
Also, wir werden alt, weil wir den medizinischen Fortschritt vorangetrieben
haben.
Heinsohn: Das Durchschnittsalter - nicht Ihr Alter!
Sloterdijk: Es ist in der Tat doch eine demografische Tendenz, die hier
diskutiert werden muss, und die reflektiert sozusagen auch den biologischen
Optimismus, der in den verschiedenen Kulturen sehr verschieden ausgeprägt
ist. Ich glaube, das muss man festhalten. Aber ich würde Sie gerne
fragen, Herr Heinsohn, wenn es so ist, dass die Eigentumswirtschaft -
und Sie haben ja eine großartige Begründung dafür skizziert
- in den Menschen unter dem Druck der Verschuldung Innovativität
freisetzt und dass das der sozialpsychologische intelligenzpolitische
Schlüsselmechanismus ist zum Verständnis der modernen Welt.
Wieso funktioniert bei diesen überalternden Gesellschaften dieser
Innovationsanreiz offenbar doch in viel geringerem Maß? Denn verschuldet
wären wir doch eigentlich genug, um kreativ zu sein. (Lachen im Saal)
Sagen Sie mir, wie in Ihrem System sich dieser Zusammenhang jetzt neu
darstellt.
Heinsohn: Ich muss doch...
Weil, glaube ich, Herr Barbier und ich ein Missverständnis haben.
Herr Barbier, das Problem ist, dass die Arbeitsbevölkerung im Durchschnittsalter,
und dass sie ihre Erfindungen macht in einem sehr frühen Alter und
dass eine Nation umso erfindungsreicher ist, je mehr Söhne bereits
um die Liebe der Mutter in den Familien konkurrieren. Und bei uns konkurrieren
keine Söhne mehr um die Liebe der Mutter, denn sie hat nur 0,6 Söhne.
Und von da ab geht es in die Schulsysteme, von da ab geht es in die Berufssysteme.
Jeder versucht, den anderen zu schlagen. Und mit einer schrumpfenden und
zugleich vergreisenden Bevölkerung verlieren Sie diesen Faktor. Nicht
nur Deutschland verliert diesen Faktor, sehr viele Nationen verlieren
diesen Faktor, und jetzt können wir sehen, wer bei diesem Heruntergehen
bleibt. Das ist ein Rückbau. Wie wir in Brandenburg vier Dörfer
schließen, damit das fünfte noch leben kann, erleben wir einen
solchen Rückbau in Europa. Vier, fünf Nationen - wir kennen
Sie: Russland, Ukraine, Weißrussland - die schmieren zuerst ab.
Und jetzt laufen die Leute raus, die anderen versuchen, die aufzufangen,
Deutschland versucht, die nicht aufzufangen. Als Fischer diese Millionen
Visa in Kiew vergeben hat, hat man hier geflucht, und tatsächlich
sind die gleich weiter nach Kanada und nach Australien gelaufen. Das heißt
also, auch noch das Potenzial an jungen dynamischen Leuten, das noch irgendwo
auf der Erde herumläuft, locken wir nicht an. Wir haben andere Leute
angelockt.
Barbier: Ja, aber das hängt doch nicht an irgendeiner Laune der Natur,
die plötzlich beschließt...
Heinsohn (unterbricht): Das ist ein politischer Fehler, dass man die nicht
anlockt.
Barbier: ... die europäischen Staaten machen wir jetzt alt, sondern:
Alt werden wir, weil wir den medizinischen Fortschritt vorangetrieben
haben, deswegen werden wir individuell alt, und die Gesellschaft wird
alt, weil - aus Gründen, die wir noch nicht genau kennen - die Leute
weniger Kinder kriegen.
Heinsohn (unterbricht): Doch, die kennen wir schon. Die Gründe kennen
wir sehr gut, weil 90% aller Männer und Frauen ihr Leben lang konkurrieren
müssen auf den Arbeitsmärkten für eine Position. Und wenn
jemand Zeit verausgabt für's Kinderaufziehen, dann verschlechtert
er seine Konkurrenzsituation. Und deshalb haben wir eben 65 Nationen mit
diesem Problem, weil die alle dieselbe Struktur der Konkurrenz haben.
China liegt bei 1,6 Kindern pro Frau - ich bitte Sie. Die haben also eine
geringere Geburtenrate als Irland oder England, haben dasselbe Problem,
versuchen, sich bereits Leute aus Indien zu holen.
Barbier: Aber bei uns ist doch unverkennbar ein sehr vordergründiges
und relativ leicht zu lösendes Problem, dass der Arbeitsmarkt Leute
nicht aufnimmt, deren Produktivität unterhalb des Mindestlohnes liegen
(sic). Das ist z.B. ein Fehler, der ist hausgemacht, der hat nichts mit
Biologie zu tun, der hat nichts mit unserem Alter zu tun, der hat auch
nichts mit dem Wettbewerbsverhalten anderer Staaten zu tun. Die Deutschen
könnten sagen: Wir wollen diesen Arbeitsmarkt auch in den Produktivitätsbereichen
- und damit auch in den Lohnbereichen - öffnen, den offenbar viele
Leute nur erreichen können.
Heinsohn: Aber den brauchen wir doch kaum.
Barbier: Den brauchen Sie, damit die Leute Arbeit haben.
Heinsohn: Ein Land ohne Bodenschätze braucht doch jetzt nicht diese
gering Bezahlten, Unqualifizierten...
Barbier: Aber die können Sie doch nicht einfach rausschmeißen...
Heinsohn: Nein, aber das wird doch irgendwo verstanden, dass das keine
Lösung bringt.
Barbier: Doch, das bringt für die Leute eine Lösung, die arbeiten
können.
Heinsohn: Für die Leute bringt es...
Barbier: Ja, aber, ist doch wunderbar... Zählen diese Leute nichts?
Heinsohn: Die zählen sehr viel, aber...
Barbier: Ja, bitte, dann wollen wir's doch machen.
Heinsohn: Wenn das im Land angeboten wird, wenn solche Arbeitsplätze
im Land angeboten werden... Natürlich können sie 'n paar Hausmädchen
anstellen, wie die Franzosen das machen...
Barbier: Ja, nicht 'n paar - viele!
Heinsohn: ... oder wie in England. Sie können eine Unterklasse, eine
Dienerschaftsklasse, wie wir sie bis 1920 hier hatten, natürlich
kann man die wieder rekreieren.
Barbier: Warum ist das eine Unterklasse?
Heinsohn: Aber Sie werden diese Nation nicht in der Konkurrenz halten.
Es folgt eine Moderation von Rüdiger
Safranski, in der er die unvereinbaren Positionen lediglich noch einmal
gegeneinanderstellt und dann den ersten Applaus seit Minuten erntet, indem
er sagt, dass vergreisende Gesellschaften wenigstens keine Kriege führen,
da sie im Altersheim sitzen. Dann will er das Pferd anders aufzäumen
und weist auf die Psychologie heutiger "Konsumenten" an, die
ihr Leben genießen und nicht Nachwuchs aufziehen wollten. Heinsohn
erklärt ihm daraufhin das hiesige Rentensystem und seine Implikation,
dass Rentner von den gerade vorhandenen Jüngeren finanziert werden,
weshalb es nur Rente gibt, wenn es zu diesem Zeitpunkt aktive Einzahler
gibt.
Es gilt festzuhalten: Während Heinsohn eine Fülle präziser
Daten und Argumente nennt, redet Barbier a) von einem anderen Thema,
b) in allgemeinen Begriffen, die nicht mit Beispielen belegt werden
und c) z.T. in rhetorischen Strukturen, die Füllsätze und
Allgemeinplätze beinhalten, die konsensfähig oder provokant,
aber wenig aussagekräftig sind. Was im Einzelnen heißt:
a) Auf Heinsohns Problematisierung der Vergreisung reagiert Barbier
mit dem Thema Niedriglohnsektor, dessen 'Öffnung' als Allheilmittel
für den Arbeitsmarkt - und damit implizit evtl. noch für die
Rentenkasse, wenn Barbier dies meint - aufgefasst wird. Außerdem
nennt er den medizinischen Fortschritt, der nur einen Teil des Problems
und nicht den von Heinsohn angesprochenen wesentlicheren Aspekt betrifft.
b) Beispiele: "Unsere Not fällt doch nicht vom Himmel,
die ist politisch gemacht. Das ist doch eine Schande." - "ein
Fehler, der ist hausgemacht, der hat nichts mit Biologie zu tun, der hat
nichts mit unserem Alter zu tun, der hat auch nichts mit dem Wettbewerbsverhalten
anderer Staaten zu tun".
c) Barbier hält sich - oder zumindest seine Zuhörer - mit
hoffnungsvollen Floskeln emotional über Wasser ("doch unverkennbar
ein sehr vordergründiges und relativ leicht zu lösendes Problem")
oder bewegt sich an der Grenze zum Nonsens mit Sätzen, die prinzipiell
nicht bestritten werden können ("Ja, aber das hängt doch
nicht an irgendeiner Laune der Natur, die plötzlich beschließt:
die europäischen Staaten machen wir jetzt alt"), während
Heinsohn die Apokalypse beschwört ("Russland, Ukraine, Weißrussland
- die schmieren zuerst ab"). Als Barbier nicht mehr verbergen kann,
dass sein Argument - mehr gering bezahlte Beschäftigung hilft der
Wirtschaft - nichts mit dem Geburtenrückgang zu tun hat und die verlängerte
Lebensdauer allein als Grund für Vergreisung nicht zählt, versucht
er, seinen Opponenten Heinsohn mit einer Einzelheit seines ersten unsachgemäßen
Arguments zu diffamieren. Heinsohn achte Menschen mit geringerem Einkommen
nicht: "Aber die können Sie doch nicht einfach rausschmeißen...
[...] Zählen diese Leute nichts?"
  
5/6 Das
philosophische Quartett
Hans D. Barbier und
Gunnar Heinsohn
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ZDF
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Letztlich wirkt es so, dass wir es
hier mindestens von Seiten Barbiers mit einer Fake-Debatte zu tun haben.
Wenn Barbier nicht so dumm ist, wie er tut, agiert er zumindest auf einer
anderen sprachlichen Bedeutungsebene als sein Kontrahent. Auf Heinsohns
Argument, Menschen in der Konkurrenzsituation des flexiblen freien Marktes
seien gezwungen, Nachwuchs zu vermeiden, um beruflich konkurrenzfähig
zu bleiben, übergeht Barbier schlicht.
Safranskis schließlich folgendes Argument, dass hierzu auch eine
Anspruchs- und Konsummentalität gehöre, ist dazu eine sinnvolle
Ergänzung, auch wenn der Moderator mit seinem blöden Altersheim-Gag
mehr Aufmerksamkeit erntet als mit dem Sachargument.
Noch weitere wichtige Argument fehlen - und diese sind sozial- und individualpsychologischer
sowie kulturgeschichtlicher Natur (Barbier dazu: "weil - aus Gründen,
die wir noch nicht genau kennen - die Leute weniger Kinder kriegen").
Sie betreffen die Angst vor AIDS, die irritierten Selbstbilder der Geschlechter
und die zunehmende Verfügbarkeit von Pornografie (also ein Resultat
der Ökonomisierung auch der sexuellen Fantasien, die Barbier zur
Marktliberalisierung zählen dürfte). Es regt sich der Verdacht
bei bestimmten sprachlichen Formen Barbiers, dass er - wohlerzogen, wie
er ist - Fragen der Fleischlichkeit nicht direkt in der Öffentlichkeit
anspricht, sondern in Bilder verkleidet. Zum Beispiel in der - in seiner
Generation wohl noch geläufigeren - erotischen Fantasie der Krankenschwester.
Wenn er also die Überalterung vordergründig mit der Medizin
begründet, gäbe es damit noch eine andere Möglichkeit,
den Satz zu verstehen, dass (implizit:) nicht Kinder gezeugt worden seien,
sondern (explizit:) der "medizinische Fortschritt vorangetrieben"
wurde. Dass man stattdessen den Niedriglohnbereich öffnen sollte,
ist in diesem Kontext wohl ebenso verfänglich. Und in einem muss
man Barbier in diesem Sinn Recht geben: "Ja, bitte, dann wollen wir's
doch machen." Im Bild folgt auf diese Worte ein eher merkwürdiger
Gesichtsausdruck (Abb.5), den die Montage unmittelbar nach diesem Einzelbild
umschneidet zu Heinsohn, der analog zu Barbiers Fuchteleien mit seinen
Händen vor dem Kopf immer wieder mit dem Finger auf sein Gesicht
zeigt (Abb.6).
Es ist also eine Konsequenz aus diesem Gespräch, dass Überalterung
sich zeitweilig im Nachvollzug der sinnlos zerfasernden Gesprächsunkultur
der Nicht-miteinander-Redenden realisiert. Barbier wie Heinsohn - und
in anderer Weise auch die Moderatoren - setzen sich gestisch von repräsentativen
und formalen Bedingungen der TV-Aufzeichnung ab, ohne dies zu exemplifizieren.
Nicht, dass es nicht interessant wäre, v.a. Heinsohn zuzuhören:
Da sind echte Argumente zu finden (ohne sie hier ausführlich auf
ihren Gehalt überprüfen zu können). Deprimierend ist aber,
dass sie in einem solchen Gespräch wie unverbunden im Raum stehen
bleiben. Es gibt im Gespräch keine Konsequenz, in der die Argumente
abgewägt würden, sondern nur eine letztlich hilflose Feststellung,
dass es zwei Argumente gibt, die - was von Safranski nicht thematisiert
wird - nichts miteinander zu tun haben. Während mit guten oder schlechten
Witzen Lacher einschließlich Applaus hervorgerufen werden, bleibt
es nach den bitteren und entschlossenen Referaten Heinsohns still. Ob
für Barbiers Blödeleien Rundfunkgebühren verausgabt werden
sollten, muss in Redaktionen ernsthaft diskutiert werden. Was hier vom
Liberalismus übriggeblieben ist, scheint allenfalls noch ein versteckter
Herrenwitz zu sein, gemacht für die, die sich sowas leisten können.
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