Finanz-Suizid mit verteilten Rollen

Das Bemerkenswerte an der Euro-Krise derzeit ist nicht nur, dass wichtige Aspekte nicht weithin bekannt sind. Es kommt auch darauf an, wie das, was bekannt ist, von Kommentatoren beschrieben und eingeordnet wird. Dies schließt ein, dass man andere Schlagzeilen schreiben könnte wie: Banken fördern Verschuldung nach jahrhundertealtem Rezept oder Profiteure der Finanzkrise dieselben Eliten wie in den 1920ern.

Die 1920er? Carroll Quigley, der universitäre Lehrer von Bill Clinton, beschreibt sie in „Katastrophe und Hoffnung“ (1966) z. B. so:

Anstatt die Steuern zu erhöhen und sich zurückzuhalten, fuhr die deutsche Regierung Jahr für Jahr fort, Haushalte vorzulegen, die nicht ausgeglichen waren, und kompensierte die Defizite durch Anleihen bei der Reichsbank. Das Ergebnis war eine akute Inflation. Diese Inflation wurde den Deutschen nicht durch die Notwendigkeit, Reparationen zu bezahlen (wie sie selbst damals behaupteten), aufgezwungen, sondern durch die Art, in der sie die Reparationen bezahlten (oder eigentlich, in der sie es vermieden, Reparationen zu bezahlen). Die Inflation schädigte die einflussreichen Gruppen in der deutschen Gesellschaft nicht, war aber im Allgemeinen katastrophal für die Mittelklasse und gab damit den extremistischen Elementen Auftrieb. Jene Gruppen, deren Eigentum in realen Reichtümern bestand, entweder in Form von Grundbesitz oder Betriebseigentum, profitierten von der Inflation, die den Wert ihres Eigentums erhöhte und ihre Schulden (die hauptsächlich die Form von Hypotheken und Industrieanleihen hatten) annullierte.
(Basel 2006, S. 196)

Ein Fehler aktueller Beschreibungen (wenn auch nicht aller) ist es, dass Differenzen zu dieser Grundsituation ebensowenig wie die deutlichen Parallelen nicht klar aufgezeigt werden. Aktuelle Ausgaben und Einnahmen in Deutschland waren zwar 2011 erstmals wieder ausgeglichen, doch die damit zusammenhängende Verschuldung wurde auf den Euro-Raum umgelegt, von wo aus sie wie ein Bumerang zurückkommen wird (erklärt im „Krisen-Abriss“ als Gratis-E-Book). Nur zeitlich verschoben und deshalb (nur) bei oberflächlicher Betrachtung nicht kausal verknüpft mit dem Auslöser der Verschuldung ist in der Gegenwart also schon die erste Diagnose Quigleys über die 1920er prinzipiell wiederholt.

Und welche besorgniserregenden Aspekte sind weithin bekannt? Es ist keine Apokalyptik, eine von Quigley geschilderte Situation wiederkehren zu sehen, sondern Meinung des Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble (CDU), so „Spiegel Online“ (15.10.2012):

Eindringliche Warnung an die Notenbanken: Die Geldschwemme erhöhe die Gefahr einer Inflation, warnt Wolfgang Schäuble. Die Währungshüter müssten rechtzeitig umsteuern.

Bei jeder neuen Stufe von sog. ‚Euro-Rettungsmaßnahmen‘ wiederholt sich jedoch das Spiel eines überstürzten angeblichen Sachzwangs. Man kann über ein Jahrzehnt hinweg nicht bemerken, dass Griechenland unter Vorspiegelung falscher Tatsachen für den Euro zugelassen wurde. Dann aber müssen innerhalb weniger Tage weitreichende Verbindlichkeiten eingegangen werden, ohne die sonst unmittelbar eine Katastrophe drohe (von der Quigleys Buchtitel so einfach wie zutreffend als historischer Konstante erzählt).

Man muss nur die Hauptnachrichten der letzten Tage ansehen, um dieses Spiel mit verteilten Rollen abermals im deutschen Parlament vonstatten gehen zu sehen: Am 27.11.2012 berichtet die „tagesschau“ (ARD), die SPD wolle das von Schäuble gewünschte „Eilverfahren“ bremsen, „weil viele Details noch unklar sind.“ Aber Schäuble sieht akute Hilfen für Griechenland „als Teil einer Solidarität in einer schwierigen Zeit“. Die Sprachverwendung dieses Spitzenpolitikers ist Paradebeispiel unzulässiger Vereinfachungen („schwierige Zeit“), die Verursacher der Krise in sanftem Ton brachial aus Sichtweite und Schussbahn der Debatte bringt. So seift man ein Volk ein, wie es zur Propaganda anderer Zeiten (mit anderen vordergründigen Vorzeichen) hieß.

Am 30.11.2012 schon meldet die „tagesschau“ Vollzug, will sagen, die SPD in Person von Fraktionsvorsitzendem Frank-Walter Steinmeier darf ‚Du-du-du‘ machen, winkt aber das riskante Manöver innerhalb einer großen Parlamentsmehrheit durch. Steinmeier verkündet in halbdramatischem Gestus, „dass das alles auf einen Schuldenschnitt am Ende hinausläuft“. Wäre man der Überzeugung, müsste man also mit „Nein“ stimmen. Wäre man sich nicht sicher, könnte man dies nicht sagen. Wäre man anderer Meinung, wäre dies eine Lüge. Die SPD tut also nichts von dem, was sie sagt. Im Tonfall eines Märchenonkels erachtet die CDU mit Schäuble bei Unterlassung von Finanzhilfe in dieser Form „die Zukunft des Euro-Raums insgesamt“ als in Gefahr – einer der oben erwähnten (vermeintlichen, weil sehenden Auges herbeigeführten) Sachzwänge.

Das ändert nichts an der Bitternis der vorhersehbaren Konsequenzen, die, abgesehen von Nuancen, kaum anders gesehen werden können – ob als

Was dies für die Zukunft heißt? Sie wiederholt – mindestens bis zu einem für viele schmerzhaften Punkt – die Vergangenheit. In den 1920ern war der Vorzug eines vorübergehenden Wohlstands gesteigerte Industrialisierung, die dann in den Bombenhagel kam. Man tausche im Text von Carroll Quigley die nach dem Ersten Weltkrieg, den Versailler Verträgen und anderen Verhandlungen eingeleiteten Finanz-Transaktionen und Reparationszahlungen mit dem dysfunktionalen Euro-System von Staatsverschuldung und Schuldenunion sowie dem daraus mitresultierenden deutschen Export-Überschuss aus, und die Geschichte verläuft zugunsten derselben Banken und Großbesitzer, für Deutschland mit gefälschter überhitzter Wirtschaft – vorrausichtlich vor einem großen Zusammenbruch oder dessen langgestreckter Variante des Siechtums:

Mithilfe dieser amerikanischen Anleihen konnte Deutschland seine Industrie neu aufbauen und mit großem Abstand nach unten zur zweitbesten der Welt machen. Es wurde fähig, seinen Wohlstand und seinen Lebensstandard trotz Niederlage und Reparationen aufrecht zu erhalten und Reparationen zu bezahlen, obwohl es weder einen ausgeglichenen Haushalt noch eine günstige Handelsbilanz hatte. Mithilfe dieser Anleihen waren die Gläubiger Deutschlands fähig, ohne Lieferung entsprechender Güter oder Dienstleistungen ihre Kriegsschulden an England und die Vereinigten Staaten zu bezahlen. Devisen gingen als Anleihen an Deutschland, dann als Reparationen weiter an Italien, Belgien, Frankreich und Großbritannien und schließlich als Rückzahlung von Kriegsschulden zurück an die Vereinigten Staaten. Was an dem System nicht stimmte war nur, a) dass es in sich zusammenfallen würde, wenn die Vereinigten Staaten aufhören würden zu leihen und b) dass in der Zwischenzeit die Schulden nur von einem Konto auf ein anderes verschoben wurden, aber niemand der Zahlungsfähigkeit wirklich näher kam. Von 1924 bis 1931 zahlte Deutschland 10,5 Mrd. Mark Reparationen und lieh zugleich 18,6 Mrd. Mark aus dem Ausland. Dadurch wurde nichts wirklich geregelt, aber die internationalen Banker saßen im Himmel unter einem Dauerregen von Honoraren und Kommissionen.
(S. 198f.)

Die Verpflichtungen auf deutscher Ebene werden mit der auf die EZB-Geldschwemme folgenden Inflation und dem „Europäischen Stabilitätsmechanismus“ (ESM) erst greifen und sind jetzt logischerweise noch nicht spürbar. Die Frage, die die darauf folgenden Jahre beantworten werden, ist die, ob in den spiegelsymmetrischen Situationen von Finanzmarkt-Verschwörung, Mittelsmännern und politischen Helfershelfern auch der nächste Schritt vergleichbar sein wird. Nach 1930 war dies ein Zweiter Weltkrieg, da die wirtschaftliche Not in Deutschland zu drückend wurde, radikale politische Kräfte die einzige Rettung verhießen und die Konflikte zwischen den Nationen wieder aufbrachen. Die Hauptschuldigen daran kennen wir schon jetzt. Die an zweiter Stelle Schuldigen sind jene, die diese Entwicklung nicht bemerken wollen und sie nicht zu verhindern suchen.

Daniel Hermsdorf

Verleger, Autor, Journalist bei filmdenken.de - Medienkritik, Verschwörungstheorie und Physiognomik

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