Inszenierte Blicke, starrende Fronten Was das Kino und seine Theorie
von Gesichtern sagen von Daniel Hermsdorf |
März 2005 |
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Der Welt ein Gesicht zu geben ist ein Weg, sich selbst im Anderen zu finden. Darin liegt ein Versprechen für alle Kulturen der Maske: das Unfassbare fassbar, das Abstrakte individuell, das Tote lebendig, den Toten unsterblich zu machen. Ethnografen, Kunsthistoriker, Sammler und Archivare haben diese Geschichte sichtbar gemacht. Die Gesichter „werden klassifiziert, etikettiert, hinter dem Glas der Vitrinen und Kollektionen konserviert, sie gehen in die Geschichte der Kunst ein. In dem Paradies der Form stellen sich geheimnisvolle Bezüge her: wir erkennen Griechenland in einem afrikanischen Kopf, der älter als 2000 Jahre ist, Japan in einer Maske aus Ogoue, wir erkennen Indien, die sumerischen Idole, unsere romanischen Christusbilder oder unsere moderne Kunst“, erzählt dazu Chris. Marker im Kommentartext zu seinem gemeinsamen Film mit Alain Resnais, „Les Statues meurent aussi“ (Auch die Statuen, F 1953). Es ist ein Dokumentarfilm, der von einer musealen Präsentation afrikanischer Skulpturen ausgeht (Abb.3). Jenseits der Kontroversen um seine Kritik des Kolonialismus ist er aus heutiger Sicht eine frühe Historisierung der Maskenkultur mit filmischen Mitteln. Sie erzählt als Meditation von kulturellen Zeugnissen, die der europäischen Kultur einen fernen Spiegel der Ornamentik, der Magie und des Anthropomorphismus vorhalten. Resnais’ nächste dokumentarische Arbeit ist „Nuit et Brouillard“ (Nacht und Nebel, F 1955), in dem die abgetrennten, blutbefleckten Häupter von Opfern des Holocaust zu einem bildfüllenden Schrecken werden. Auch sein erster Spielfilm „Hiroshima mon Amour“ (F 1959) zeigt vom Krieg zerstörte Gesichter. In seinem zweiten Spielfilm „L'Année Dernière à Marienbad“ (Letztes Jahr in Marienbad, F 1961) schließlich sind es die opulenten Architekturen zweier bayerischer Barockschlösser, die in der Inszenierung als ein einziges Ganzes ausgegeben sind und die Sacha Viernys Kamerablick zu einem ornamentalen Vlies verwebt. Hier entsteht ein bildliches Oxymoron aus dem Erbgut europäischer Kunstbeflissenheit – das Schauplatz eines modernen erzählerischen Experiments wird – und einer archaisierenden Tendenz. Schablonenhafte Figuren spielen ein artifizielles Handlungsspiel in einer architektonischen Umgebung, wo barocke Dekoration zur symmetrischen Abstraktion wird (Abb.4). Konkrete Bauwerke und florale Verzierungen vereisen in der Fläche zu einem Kristall, in dem auch die Form der Maske wiederkehrt, wie es der Filmtheoretiker Béla Balázs schon 1924 in „Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films“ beschreibt: „Auf einer Fläche, in homogenem Kolorit, werden die Formen einander nähergerückt und aufeinander bezogen.“ So erahne man das „Gesicht der Dinge“. Die konkrete Form der Maske hat ihre Entsprechung gefunden in einer filmischen Bildsprache, in der ihre Gestalt allem möglichen jenseits menschlicher Gesichter aufgeprägt werden kann: einzelnen Gegenständen und Dekors oder der Anordnung von Formen innerhalb des Bildes, in Teilflächen oder dem gesamten Kader. Um 1900 werden eine solche Sichtweise und ihre kognitive Fundierung von der Gestaltpsychologie wissenschaftlich beschrieben. Das Ganze sei mehr als die Summe seiner Teile – das menschliche Gesicht ist ein solches Gestaltmuster, das die sichtbaren Einzelheiten in einen Zusammenhang bringt, bestärkt durch das noch mächtigere Gesetz der Symmetrie. Filmische Inszenierungen machen Bilder oft auch dort zu einem Gesicht, wo kein Mensch zu sehen ist, und bedienen sich dieses Prinzips der Wahrnehmungspsychologie. In der Frühzeit des Kinos haben diese Theorien gesellschaftlich Konjunktur und sind Gesprächsstoff von Künstlern, Wissenschaftlern und anderen Interessierten. Was Balázs – ohne hierfür psychologische Begriffe zu erwähnen – als Poetik des expressionistischen Kinos der 1920er Jahre zur Diskussion stellt, wird die Filmgeschichte nicht loslassen. Mit den Exilanten dieses Kinos wandert auch der Expressionismus nach Hollywood aus. Es sind Regisseure wie Robert Siodmak und Billy Wilder (Abb.5), Kameraleute wie Karl Freund, Franz Planer und Eugen Schüfftan, Ausstatter wie Hans Dreier (ebf. Abb.5) oder Edgar Ulmer, der erst in den USA zum Regisseur wird. Andere bleiben in Deutschland und prägen bald seichtere Produktionen oder später den Heimatfilm wie Filmarchitekt Erich Kettelhut und Kameramann Fritz Arno Wagner. Auch Alfred Hitchcock hat in der deutschen Filmindustrie seine ersten Erfahrungen gesammelt, arbeitet in den USA mit Exilanten wie dem Kameramann Günther Krampf und macht expressionistische Filme après la lettre. Die Aufzählung ließe sich ergänzen. Ergebnis des brain drain der 1930er Jahre war, dass für immer mehr weltweit bis heute publikumswirksame Produktionen aus Kalifornien Filmkünstler aus Deutschland mitverantwortlich zeichneten. Siegfried Kracauer schreibt in seiner im amerikanischen Exil verfassten Geschichte des expressionistischen Films „Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films“ (1947) von der Traditionslinie Deutscher Expressionismus – Hollywood: „Die Analogie zu den Filmen der Nachkriegszeit liegt auf der Hand: es war ihre expressionistische Einstellung, die immer wieder deutsche Kameraleute dazu trieb, Schatten zu erzeugen, die wie Unkraut wucherten, und ätherische Phantome mit seltsam angeleuchteten Arabesken oder Gesichtern zu vermengen.“ Von den bildlichen Prinzipien des filmischen Expressionismus ausgehend ließe sich eine ganze Problemgeschichte der ästhetischen Theorie zurückverfolgen. Kracauer konstatiert für diese Filme: „geheimnisvolle Figuren ziehen die Seele in Irrwege nach.“ Dies sei „eine vollkommene Verwandlung materieller Dinge in emotionale Ornamente“ – eine letzthin idealistische Vorstellung, wie das Verhältnis von Geist und Materie, Körper und Seele zu denken sei. Die filmische Form ist mit der Hoheit des Sichtbaren und – darin von den älteren Künsten verschieden – einer minutiösen Kontrolle von Formverwandlungen in der Fläche, von Lichtsetzung und Blickrichtung eine symbolische Maschine dieses formalen Idealismus. Die Differenz zu Malerei, Skulptur und Theater besteht in dieser bewegten Flächigkeit auch in einer alles umfassenden abstrakten Organisation im scheinbaren fotografischen Realismus. Die Bildästhetik des Kinos ist so eine flottierende Ornamentik, in der Lebendiges und Gegenständliches in anderen Formgerippen changieren, in einer zweiten visuellen Struktur eingefasst sind, die auch unbewusst wirken kann. Das Gesicht der Dinge macht nicht nur die Dinge wesenhaft, sondern auch die Lebewesen zu Dingen und das ganze Bild zum maskenhaften Phänomen. „Der Film ist eine Flächenkunst, und ‚was innen ist, ist außen‘ bei ihm“ schreibt Balázs und beruft sich auf eine Tradition der Physiognomik, ausgehend von Johann Caspar Lavater und Goethe, deren Interpretation bald in der Rassentheorie und Kunstideologie der Nationalsozialisten zum kulturpolitischen Problemfall wird. Die akademische Forschung, zuletzt noch Hanno Loewy in seiner kenntnisreichen Studie „Béla Balázs – Märchen, Ritual und Film“ (2003), schweigt zu dieser Parallele weitgehend. Zeitsprung. Hollywood, 2005. Mit Lawrence Gutermans „Son of the Mask“ (Die Maske 2 – Die nächste Generation) findet ein Film seine Fortsetzung, der 1994 die Hoffnungen auf eine schöne neue Welt digitaler Filmtricks beflügelte. Hier ist es der altnordische Gott Loki, an dessen Sage man mit dem Motiv der Maske anknüpft. In Chuck Russells erster Filmversion macht die Maske den Bankangestellten Stanley Ipkiss (Jim Carrey) zum Superhelden und Kriminellen in einer Jekyll-und-Hyde-Variation. In Gutermans Produktion spielen ein Comiczeichner und ein Baby mit den Mächten der Maske. So konkret erzählt das Kino immer wieder von diesem Phänomen – aber selten ist die Maske das zentrale Thema der Handlung. In Jean Cocteaus „Le Sang d'un Poète“ (Das Blut eines Dichters, F 1931) gehört sie zum Inventar des Selbstporträts als Künstler-Narziss. In John Boormans „Zardoz“ (GB 1974) wird sie zum Symbol eines totalitären Regimes. In Horrorfilmen wie John Carpenters „Halloween“-Filmen (USA 1978ff.) und zuletzt Wes Cravens „Scream“-Reihe (USA 1996ff.) ist sie Schreckgespenst und Signum einer abgründigen Persona, die Menschen zu Mördern macht. Die Maske ist stets eine von ihrem Träger abgelöste Form. Sie ist ein Symbol der Individuation, aber auch des Rollenspiels. Fritz Langs „Dr. Mabuse“ konnte seit 1922 in mehreren Filmversionen der Spieler, Psychoanalytiker oder Börsenspekulant sein – je nach präpariertem Gesicht. In Filmen wie Georges Franjus „Les Yeux sans Visage“ (Augen ohne Gesicht, F 1959) oder Alejandro Amenábars „Abre los Ochos“ (Öffne die Augen, E 1997) und seinem Hollywood-Remake „Vanilla Sky“ (USA 2001) wird die Maske zur Medizin gegen die Entstellung. Aus der Perspektive von Balázs’ Ästhetik des expressionistischen Kinos ist die Maske jedoch nicht nur das, was sie seit mehreren tausend Jahren menschlicher Kulturgeschichte ist: Kultobjekt, Instrument der memoria, Requisit der Tragödie oder Commedia dell’Arte. Im Kino ist sie auch ein Medieneffekt, ein Resultat filmischer Bildlichkeit. Alles Sichtbare spielt hier mit, und menschliche Träger von Masken führen zugleich vor, dass dieses Spiel ein gefährliches ist: Sie spiegeln und verlieren sich, sie werden manipuliert und manipulieren andere. Sie werden ergriffen von einer apersonalen Instanz, die erst die filmische Inszenierung selbst beschwört. Wenn in William Friedkins „The Exorcist“ (Der Exorzist, USA 1973) ein Schrank die verschreckte Mutter einer vom Teufel besessenen Tochter wie ein lebendiges Etwas bedroht, starrt die gesprengte Giebelform des Mobiliars anthropomorphisiert in die Kamera (Abb.6). So ist es schon – dort eher pittoresk – in Ernst Lubitschs „The Student Prince of Old Heidelberg“ (Alt Heidelberg, USA 1927) und einer Vielzahl anderer Studiodekorationen. Filmarchitektur, Production Design und Set Decoration sind die Funktionen, denen zuletzt auch ein retrospektives Filmprogramm der Berlinale nebst Ausstellung Aufmerksamkeit geschenkt hat und die den Animismus magischer Formgebungen als moderne Spielart inszenieren – in einer Weise das totemistische Blendwerk im Zeitalter seiner filmischen Produzierbarkeit. Die niedliche bis aggressive Inszenierung der Masken-Geschichte in Russells und Gutermans Filmen unter Anrufung Lokis wendet diese Ikonografie ins Comichafte. Das digital gemorphte Gesicht der von der Maske befallenen Hauptfiguren ist so grün, wie jenes von Jean-Luc Godards „Pierrot le Fou“ (Elf Uhr nachts, F 1965) blau ist, blau geschminkt, bevor er sich zum Schluss mit Dynamit in die Luft sprengt (Abb.7). Explosivstoffe und andere Lieblingsspielzeuge des Kinos finden sich reichlich in den Versionen der „Maske“. Eine Action heischende Regie lässt so in auf Pixelbasis generierten Frames das filmische Gesicht als albernde Charge dieser Tradition des Kinos auferstehen. Ob das menschliche Antlitz nach diesen fortgesetzten Manövern noch mehr als eine Käsescheibe mit Guck- oder Einschusslöchern ist, bleibt abzuwarten. Die Inszenierungen in Russells und Gutermans „Maske“-Filmen könnten als aufklärerisch angesehen werden, weil sie ihrem Publikum einen wahrnehmungspsychologischen Wirkungs- und Machtmechanismus explizit vorführen, den sie selbst zur Anwendung bringen. Reflexion wird hier jedoch von Spezialeffekten überdeckt – hierauf zielen nicht nur die Filme selbst, sondern auch die Vermarktungsstrategie. Darüber hinaus trivialisieren und verharmlosen sie einen Zusammenhang von Bildwahrnehmung und Bildgestaltung, der so niedlich und willkürlich vielleicht nicht ist. Die unheimlichen Extreme des Horror-Genres stellen eine Tendenz heraus, die für diese Eigenart filmischer Bilder generell gelten könnte: Wo räumliche Orientierung, beweglicher Blick und körperliches Empfinden in die Bildfläche und eine wiederkehrende vereinfachte Struktur gepresst werden, resultiert daraus ein Schrecken der Medusa. Und dass in diesem Zusammenhang in Filmplots oft auf kindliche Wahrnehmung angespielt wird – dies gehört zu den Standards von Horrorfilmen – weist auf die Ursprünglichkeit dieser Weltsicht hin. Sie mag sich in der kindlichen Sicht von Bildschirmereignissen stärker auswirken als im späteren Leben der Medienkonsumenten. Bei Erwachsenen kehrt sie zurück – wohl eher als unbewusste, aber dennoch wirkmächtige Suggestion. Wenn „Son of the Mask“ mit der Wirkung von Lokis Maske auf ein Baby Gags produziert (Abb.1/2), kann man darin eine zynische Vollendung dessen sehen, was seit Jahrzehnten zu den in-jokes von Filmemachern gilt: ihr Publikum als Riesenbaby zu betrachten, das man mit Schocks traktieren, mit infantilen Reizen füttern muss, die niemals richtig sättigen; von Kindern zu erzählen, die man als Konsumenten sinnlich überfordert und – nicht nur nach Bildern – süchtig macht. Und das beliebt man den Zuschauern innerhalb der jeweiligen filmischen Erzählung auch noch kaum verhohlen mitzuteilen – mit ein paar Metaphern, unter denen die physiognomische Weltsicht schlummert, die aus allem ein Gesicht und ein Gespenst macht, ein beunruhigendes Gegenüber oder begehrenswertes Etwas, das schnell wieder zerstäubt und allein zurücklässt in einer entleerten Sehnsucht auf mehr von Irgendwas. Nach manch sanfter Huldigung der Dichter präsentiert das Kino eine Vision des Gesichts, die neben glamourös verheißungsvollen Großaufnahmen der Stars auch die hysterische, entindividualisierte, unheimlich lauernde, technisierte und entmenschlichte Seite kennt und hervorkehrt. Diese Geste filmischer Bilder stellt am Ende einer Geschichte einmal mehr die Frage, was hier der Blick des Anderen bedeutet. |
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