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Daniel Hermsdorf, Benjamin Heßler
Was wir einmal vermissen würden
Den, der zurückschaut, überrascht von hinten,
was da kommen mag. In unserem Fall immerhin: das Ende der Welt, wie
wir sie gerade erst kennen- und liebengelernt haben. Ganz gleich, ob
wir es Y2K oder millenium bug nennen, ob wir Experten bemühen,
die den Computern die Doppelnull abgewöhnen eitles Trachten.
Das Desaster ist im besten Sinne vorprogrammiert. Aus die mouse. Zeit
für den finalen Flashback. Über die letzten 2000 Jahre zu
sprechen, heißt immer auch, über Brüche zu sprechen.
Es ist ein Drahtseilakt, gleichzeitig zu raffen und ins Detail zu gehen,
den Blick des/der Allmächtigen mit den eigenen Dioptrien zu versöhnen.
Unser Blickwinkel: eurozentristisch und dabei nüchtern abwägend;
der Rest sind Geigen.
Nach Jahrtausenden dumpfen Keulenschwingens, schwindelerregender Hochkulturen
und uneffizienter Pyramidalbauweise, nach dem Erlernen unansehnlicher
Keilschriften und anhaltendem Anbeten von Steinmetzarbeiten, nach Äonen
ziellosen Auseinanderdriftens der Kontinente, mit jenem frischen Blubb
individueller Grausamkeit erhob sich schließ1ich der eingebildete
Gigant, den wir Geschichte nennen.
An die triefenden Mundwinkel ihrer Prototypen mögen sich heute
die wenigsten Menschen erinnern, bestand doch der größte
Innovationsschub der Zeit "davor" in der Frage: "Hast
du mal Feuer?"
"Let's go living in the past" manchmal kann es so einfach
sein! Das Vergangene ist zwar per definitionem "vorbei", aber
wenn man lange genug hinschaut, nachfragt, ausgräbt oder sich einfach
nur treiben läßt, kann man sie im warmen Licht der Jahrtausenddämmerung
entziffern: die Spuren des Gewesenen, wie sie leiben und leben.
l. Im Anfang war ein Ort
Für die Jungfrau Maria war es milde überraschend. Für die
abendländische Kultur kam es einer Initialzündung gleich.
In Bethlehem erblickte ein Babe namens Jesus die Welt. Es wußte
nicht, weshalb dieser Ochse in sein Schlafzimmer gekommen war, und so
sollte ein ungutes Gefühl es nie ganz verlassen. Doch das war erst
der Anfang. Was sich in den folgenden gut dreißig Jahren laut Überlieferung
abspielte, sollte Jesus noch lange
anhängen. Vom ersten Schrei bis zum letzten Seufzer von Speichelleckern,
Neidern, Gefühlsduseligen und pathologischen Sinnsuchern umgeben
es war die Hölle.
Schon früh begann er, Opium ans Volk zu verteilen, um wenigstens
ab und an seine Ruhe zu haben. Bis zum bitteren Ende behielt er sich vor,
zu entscheiden, welche Anekdoten aus seinem Leben kanonisiert wurden.
Wenige wissen, daß die Speisung der Zehntausend für den gelernten
Konditor eine reine Übungssache war. Kaum überraschend auch
das leere Grab: Der Erlöser war aufgefahren in den Himmel.
Ein Bucherfolg half der Tradition auf die Sprünge, und seither sind
Jesu Wähnen und Werden Allgemeinwissen. "Die Bibel" war
vielen Entscheidungshilfe und Leitfaden im Alltag.
Ganz so, wie heute die amerikanische Kultur unser Leben erfüllt,
lauschten die Damaligen dem mystischen Raunen des Nahen Ostens. Sie waren
jedoch auch fähig, den Irrationalismus mit erlernten Tugenden ihrer
Heimat zu versöhnen. Die Kreuzzüge wären ohne ritterliche
Kultur sicherlich zu Mummenschanz verkommen. So aber fand der Geist des
Nordens ins Mekka des Christentums und verpaßte dabei manchem am
Wegesrand einen herz-, nicht selten auch schmerzhaften Denkzettel.
Der Einfluß von "Codename: Jesus" war allgegenwärtig.
Auge um Auge stachen sich die Rivalen die Glubscher aus, bis sie die Unterscheidung
von Altem und Neuem Testament durchgeholt hatten. So fanden auch die softskills
wie Barmherzigkeit und Unempfindlichkeit gegen Ohrfeigen immer mehr Anhänger.
Bis zu einem viel späteren Zeitpunkt ging es in Europa höchst
sakrosankt her. Doch selbst Gallonen von Meßwein konnten nie vergessen
machen, worum es eigentlich ging.
Viel früher war die erste Tier-Serie entstanden. "Black Bukephalos"
und sein treues Herrchen Alexander hielt ein Millionenpublikum in Atem
und sorgte ganz nebenbei für die Unterwerfung des Okzidents. Das
Merchandising lief auf Hochtouren: Tausende erwarben die Mosaik-Lege-Sets
für das heimische Herrscherbild und befaßten sich wie der berittene
"Große" mit den Werken großer Denker der griechischen
Antike (Heidexeros' "Sein zu zweit", Hubardopoulos' "Dianetik",
Pythagoras' "Mathematik Sek. I" inklusive der berühmten
Äpfel- und Birnengleichnissen und "a hoch 2"). Für
die Sieger hochkultureller Jeopardy- Marathons gab's Abitur, der Rest
starb dumm. Babystrich war Chefsache und Massensport zugleich.
À propos Caesar: Der römische Imperator hatte die Faust dick.
Sicherlich hätte er größere Bedeutung in der Historie
erlangt, wenn, ja, wenn nicht seine Leidenschaft für unsere vierbeinigen
Freunde den Senatsdebatten ein Schnippchen geschlagen hätte. Caesars
Amtszeit war geprägt von langwierigen Diskotionen, wessen Sklave
das Yorkshire-Terrier- Pärchen Romulus und Remus Gassi führen
sollte. Ihre "Sieben Häufchen" avancierten zum Sinnbild
der römischen res publica, rochen jedoch unangenehm und wurden irgendwann
weiß, trocken. Caesar hatte sich derweil zum Commissarius Rex hochgewedelt
und war sich dementsprechend für nichts zu schade.
Auf seinem Altenteil, der Hundefarm "Politeia", brachte Caesar
schließ1ich sein Vermächtnis, das Hundebuch "Bello Gallico",
auf die damals gebräuchliche gegerbte Gotenhaut. Die Passagen über
das Trojanische "Pferd" verursachten einen mittleren Skandal.
Als Romulus und Remus von der Räude befallen verendeten, machte die
Trauer Caesar zynisch. Seine letzten Worte "Beiß zu, Brutus"
machen die Suizidvermutung plausibel, aber Verschwörungstheorien
boten auch damals schon Raum für Spekulationen. Was bleibt? Mal wieder
nur die Frisur.
Insgesamt waren die Jahre um Null epochal, obwohl ihre Bedeutung oft unterschätzt
wird. Immerhin begann hier die Zeitrechnung, weswegen ein Theaterbesuch
drei Tage dauern konnte. Völkermord und erste Höhepunkte abendländischer
Kultur machten es sich miteinander bequem. Nie wieder sollte es so schön
sein wie damals. Und damals wie heute.
2. Karolinger auf dem Prüfstand
Weil sich Alexanders Beiname so gut gemacht hatte, wollten auch andere
Herrscherdynastien ihre Sprößlinge attributiv aufs Trockene
bringen. Sehr witzig: "Karl" der Große. Auch wenn
oder gerade weil das Balg ein Spröß1ing des anrüchigen
Pippin war, sollte irgendwann ganz Europa von ihm eingenommen sein.
Schon der kleine Karl der Große machte es sich in dem Machtvakuum
bequem, das die Völkerwanderung hinterlassen hatte. Dort war er
sehr einsam. Er entwickelte sich zu einem bedeutenden Fernschachspieler,
kam aber die Telekommunikation steckte noch in den Kinderschuhen
zu Lebzeiten nie über die Eröffnung hinaus, da ein
Spielzug oft mehrere Jahre unterwegs war und seine Gegner auch nicht
mehr die Jüngsten.
Über einer dampfenden Schale "Manje", seinem Leibgericht,
das er selbst vor versammeltem Hofstaat und nur mit schimmernder Rüstung
bekleidet verfertigte, fällte er viele wichtige Entscheidungen.
Der berühmte Berliner Paravent beispielsweise wurde auf Erlaß
Karls errichtet und farbenprächtig mit Szenen aus seinem an Szenen
nicht armen Leben bestickt. Erst viel später erklärten die
puritanischen Berliner das transparente Ziergestell per Volksentscheid
für frivol und ersetzten es durch eine blickdichte Betonmauer.
Er war es auch, der den "Deutschen" zeigte, wie man über
2 m wird: "Nach den Sternen greifen sollt ihr, möglichst mehrmals
am Tag." Und ganz nebenbei konnte er immer wieder über den
Paravent schauen.
Karl, Spitzname "Rex Langobardorum", wußte sich mit
grausamen Schlachten, aber auch mit kalkulierten Schmeicheleien Feind
und Freund zu machen. Ein Meilenstein unter den PR-Gags wird wohl für
ewig die Erneuerung der Pippinschen Schenkung sein; öffentlichkeitswirksam,
jedoch politisch folgenlos im Vatikan hatte man selten so, jedoch
auch selten so verbittert lachen müssen.
Das Kreuz mit Jesus, das schon dem ersten Teil unserer Rückschau
seinen unverwechselbaren Stempel aufgedrückt hat, brachte in den
folgenden Jahrhunderten immer neue Kalamitäten mit sich. Die Midlife
Crisis der ersten beiden postchristlichen Jahrtausende stürzte
Europa in eine Sinnkrise, die auch dem Aberglauben Schubkraft verlieh.
Man ging dazu über, die Religion bierernst zu nehmen. Zahllose
Klosterbauten, Kräuterschnäpse, Hexenverfolgungen, Hand-Abschriften
und schwarze Listen waren die Folge. Während Ablaßprediger
Papier und den sog. "Sperrsitz in Heaven" verscherbelten,
bedienten sich fahrende Quacksalber sprichwörtlicher Holzhammermethoden
bei spontanen medizinischen Eingriffen. Aber mit ein bißchen Glück
konnte man damals schon die Helden von Walt-Disney- Comicalben treffen
wenn die Geschichte sie einmal in diese Zeit verschlug. Es ist
heute kaum vorstellbar, wie Menschen damals zusammenlebten. In unzähligen
Häusern waren sie zusammengepfercht, aßen, lachten, verrichteten
ihre Arbeit. So gingen die Jahre ins Land.
Generell ist das Mittelalter aber für sein drolliges Gemüt
bekannt. Städte aus dieser Periode erkennt man an den unregelmäßig
behauenen Steinen, aus denen ihre Häuser bestehen. Und wer sich
einmal in diese Zeit zurückversetzt, kommt vielleicht nie mehr
zurück. Das Schicksal der Disney-Figuren ist hier nicht direkt
auf unsere Existenz übertragbar.
Im Mittelalter waren viele kulturelle Phänomene noch nicht so festgefahren,
wie sie in den Folgezeiten erfahren wurden. Neben religiösem Eifer
boten die verwinkelten Innenstädte viel Gelegenheit zum sexuellen
Experiment. Es war in diesem Sinne sogar eine Zeit, in der "Milch
und Honig" flossen wie anno dunnemals.
Weltsprache war, wie schon in den vergangenen Jahrhunderten, Nahuatl.
Das Toltekische war eine Lebensart, die man sich auf der ganzen Welt
gern gefallen ließ aztekisch goes ästhetisch. Neugeschlüpfte
Graugänse sind auf akustische und optische Reize von seiten ihrer
Eltern angewiesen, um eine Bindung zu diesen entwickeln zu können.
Aber der spanische Eroberer Bizarro störte sich nicht daran. Er
überzog mit seinen Burritos das Land mit Angst, Hungergefühlen
und Durchfall. Einzig und allein die Volkssage vom Pizzahut hielt die
von den Gringos Unterdrückten zusammen. Und immer am Tag des Pizzahuts
putschten sie gegen die spanischen Conquistadores, ohne zu bedenken,
da8 man als Staatsregierung Führungsqualitäten besitzen muß.
Der Pizzahut blieb eine Illusion, die zu immer neuen Greueln führte,
ja, führen mußte.
Um die 500 Jahre später sollten Menschen sich sogar zu den - geographischen
- Polen aufmachen. Und, dies am Rande, Amundsen und Scott hätten
überleben können, hätte man ihnen nicht billige Uhren
verkauft und die Joppen gezockt. Im 10. Jahrhundert war man von den
Polkappen zwar viel weiter entfernt, doch eine Expedition ins eigene
Unbewußte war es allemal, Erst mit der gedanklichen Durchdringung
isorhythmischer Motetten der Ars Nova in breiten Bevölkerungsschichten
konnte sich das durchsetzen, was wir gemeinhin als "Mittelalter"
bezeichnen. Hier nannte man Kontrapunkte beim Namen, und bald schon
machte man musikalisch aus einer Fuge einen Elefanten.
Wenn das mal gutging! Wir wollen es nicht übertreiben.
(Fortsetzung in der Dezember-Ausgabe)
Ihr
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