Hurra-Nachrichten für das Altern auf dem Schuldenberg

Man möchte nur einen kurzen Artikel lesen und verheddert sich sofort in einem Gespinst aus Fragwürdigkeiten, Halbwahrheiten und manipulierten Informationen. So geht es mir gerade, als ich auf dem Blog „Polenum“ den Beitrag Demografie unproblematisch“ aufrufe. Als „Textquelle“ ist am Ende die Website www.tam.de angegeben, ein Nachrichtendienst der Energiebranche. Diese Quelle ist es also, die wiederum auf einen Bericht der „Süddeutschen Zeitung“ verweist (der aber nicht verlinkt ist). Und dort äußert sich einer der notorischen Experten auf diesem Gebiet, Prof. Gerd Bosbach.

Bei Bosbach heißt es: Produktivität schlägt Demografie.“ Mit dieser Losung ist Bosbach auf allen Kanälen immer wieder präsent. Was dabei auffällt: Soziopsychologische Faktoren einer überalternden Gesellschaft kommen bei Bosbach nie (wenn ich gehört und gelesen habe) vor. Ihm scheint es nicht aufzufallen, dass die durchschnittliche Überalterung die angestammte Bevölkerung noch stärker betrifft als das Mittel der Gesamtbevölkerung. Da versteckt sich in der Darstellung des linksliberalen Statistik-Professors pure Menschenverachtung: Hinter seinen angeblich hoffnungverheißenden Zahlen werden ihm alle Individuen gleich. Durchschnitt ist Durchschnitt, das Individuum und sein Erleben werden eingeebnet. Als ich einmal zwei Stunden Bosbach-Interview auf dem „Deutschlandfunk“ hörte, habe ich von Familienleben in seinem Fall nichts mitbekommen. – Das ist keine Häme, ich habe derzeit selbst wenig. – Ich hörte bei ihm von Ausdauersport und Rockkonzerten. Aber er scheint sich auszukennen mit den Folgen von Kinderlosigkeit und Geriatrie – zumindest theoretisch, und auch unter Ausblendung von Statistiken zu Depressionen, Alter und Vereinsamung.

Man sollte sich also vielleicht einmal fragen, welche soziopsychologischen und ökonomischen Realitäten Gerd Bosbach schon heute ausblendet. Dass die Überalterung seit 40 Jahren parallel zu einer allgemeinen Verschuldung steigt, erwähnt er selten oder gar nicht. So arbeiten die Gehilfen der Schulden-Herrschaft, ob sie Bosbach oder Wolfgang Schäuble heißen: Krisen-Entwicklungen werden isoliert auf ihrem Gebiet konsequent kleingeredet. Bosbach träumt also von einer linear steigenden Produktivität, die schließlich einen sehr hohen Anteil alter Menschen in Deutschland spielend finanzieren werde. Daraus resultiert ja in jedem Fall eine viel größere Bedeutung von Altenpflege, natürlicherweise auch Krankheit und Demenz im öffentlichen und privaten Leben. Dass sie finanziert werden kann, bedeutet praktisch, dass für diese Alten dann Pflegekräfte angeworben werden. Diese erhielten dann immer mehr aus jenen Gewinnen, die, so hofft Bosbach, realwirtschaftlich gewonnen werden.

Dass die zu erwartenden Zuwanderer bruchlos ein sich erhöhendes Produktivitätsniveau garantieren, ist also dabei die Voraussetzung. In dieses Horn tutete auch vor knapp einem Jahr die „Bertelsmann-Stiftung“. Die „Süddeutsche“ machte in diesem Fall auf mit der Überschrift „Zuwanderer besser ausgebildet als Deutsche“. (Der Link zu Bertelsmann in diesem Artikel funktioniert nicht mehr. Auch eine Suche nach „Bildungsniveau Studie“ oder „Zuwanderer Studie“ führt bei den Bertelsmännern selbst ins Leere. Keine irgendwie relevanten Ergebnisse.) Nun stammt diese Nachricht aus dem Mai 2013, und am Ende des Artikels wird auch angemahnt, Deutschland „dürfe sich nicht darauf verlassen, dass der Zuzug aus den südeuropäischen Krisenländern unvermindert anhalte.“ Die Aussage der Überschrift basiert jedoch auf der Tatsache, dass es in den Jahren der Eurokrise einen stark erhöhten Zuzug aus anderen europäischen Ländern gibt, die ein höheres Bildungsniveau haben als fast alle anderen Weltregionen, aus denen überhaupt nennenswerte Zuwanderung stattfindet oder zu erwarten wäre. (Ich habe im „Krisen-Abriss“ etwa mit Argumenten der FDP- und Grünen-nahen Stiftungen gezeigt, dass die für folgende Jahrzehnte zu erwartenden Zuwanderer-Gruppen keine hohen Durchschnittswerte bei Bildungsabschlüssen aufweisen.)

Auch die Realität der unmittelbar vorausgehenden Jahre spiegelt dies keineswegs wieder – und deshalb auch nicht die Realität in einer Zukunft, in der die Zuwanderer weniger zahlreich aus den EU-Ländern und stattdessen, wenn überhaupt, aus anderen Regionen kommen. Im Dezember 2012 hieß es in derselben „Süddeutschen“ noch: „Migranten in Deutschland haben Bildungs- statt Armutssorgen. Akteure wie die Bertelsmann-Stiftung kreieren einen künstlichen Hype um erwartbar höher gebildete Zuwanderer aus brutal Euro-geschädigten anderen EU-Ländern, um den Begriff der Zuwanderung zu entproblematisieren. Überall dort, wo dieser Kunstgriff vor der Eurokrise nicht möglich war, lautete der Tenor ganz anders. Nochmal dieselbe „Süddeutsche“, nun von 2011:

Einer Studie des Statistischen Bundesamts zufolge sind Zuwanderer doppelt so häufig armutsgefährdet wie die übrige Bevölkerung. Eklatante Unterschiede gibt es auch bei den Bildungsabschlüssen.

So, wie man durch steigende Verschuldung der EU-Partner einen Schuldenberg erhöhte, der über den ESM in den nächsten Jahren über Deutschland hereinstürzen wird, freut man sich also auch migrationspolitisch über den Regen, nachdem man vor dem Fenster eine Gießkanne aufgehängt hat. Nicht „Zuwanderer“ sind „besser ausgebildet als Deutsche“, sondern die Rate besser gebildeter Zuwanderer steigt kurzzeitig – mit absehbaren schlimmen Folgen für die Wirtschaften der Nachbarländer.

Was mittlerweile noch seltener als in der Hochzeit des Bewusstseins von der anhaltenden Eurokrise erwähnt wird, ist, dass die in südeuropäischen Ländern grassierende Arbeitslosigkeit der Jüngeren eine sozialpolitische Zeitbombe ist. Die Export-Gewinne Deutschlands in den letzten Jahren waren ein wirtschaftspolitischer Zweiter Weltkrieg, der die reale Gefahr birgt, dass die umso höher verschuldeten südlichen Länder zusammenbrechen. Jedes Jahr der Arbeitslosigkeit beschädigt und frustriert dort die Massen der Arbeitslosen. Wer besser gebildet ist, mag in Deutschland auf Arbeitssuche gehen und ist natürlich willkommen. Die mittelfristigen Auswirkungen in den Heimatländern dürften verheerend sein und werden die dortigen Arbeitslosen und Verarmten sicher nicht von sozialen Unruhen, ggf. auch berechtigten Vorwürfen gegen ein durch das Euro-System übervorteiltes exportstarkes Deutschland abhalten.

Es soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, eine bessere Förderung von Nicht-Muttersprachlern sei unmöglich oder nicht wünschenswert. Sie bringt nur einen erheblichen Mehraufwand und eine lange Übergangszeit mit sich, in der sich Erwachsene und schließlich in Deutschland geborene Kinder der hiesigen Sprach- und Lernkultur zuwenden und anpassen. Dies kostet nicht nur Zeit, sondern auch Geld. Und sie hat sich im statistischen Durchschnitt in vergangenen Jahrzehnten nicht als Allheilmittel erwiesen.

Es gibt noch andere Aspekte etwa von Bosbachs Argumentation zu kritisieren: Er verweist gebetsmühlenartig auf das Reservoir von Arbeitslosen, an dem ersichtlich werde, dass hierzulande das Potenzial ja gar nicht ausgeschöpft werde, während man die wachsenden Anforderungen durch Überalterung beklage. Warum dies so ist, mag Bosbach mit detaillierteren Studien über Arbeitsplatzangebot und Qualifikationsniveau beweisen. In jedem Fall scheint es nicht so einfach zu sein, mit real existierenden Mitgliedern einer Gesellschaft beliebige Produktivitäts-Kunststücke durchzuführen. Sonst würden Privatunternehmen doch vermutlich alle verfügbaren hochqualifizierten Kräfte einstellen und noch mehr Gewinn machen, oder? Übersehe ich da etwas? Ist es nicht vielmehr so, dass schon jetzt ein gewisser Teil der arbeitsfähigen Bevölkerung in der hiesigen Infrastruktur kaum oder gar nicht mehr gebraucht wird? Hat dies nicht eher mit abgewanderten Arbeitsmärkten in Industrie und produzierendem Gewerbe zu tun statt mit der Tatsache, dass Ingenieure und Informatiker hierzulande keine Stelle finden? Jedenfalls ist die Lage nicht völlig eindeutig (so die „Deutsche Welle“), und eine der Einschätzungen lautet:

Denn “insgesamt spielt sich die Arbeitslosigkeit im Ingenieurbereich 2013 auf einem Niveau ab, bei dem man von Vollbeschäftigung spricht” […].

Hier spielen eine Menge Interessen gegeneinander: der Industrie, der Arbeitsmarktpolitiker, der Ideologien des Multikulturalismus, der Ideologien des mobilen Arbeitnehmers. Erprobt und erwiesen sind viele Auswirkungen laufender Agenden nicht, ebensowenig das Zuwanderungsgeschehen der Zukunft. Die Parameter hierfür sprechen in entscheidender Hinsicht nicht für eine willkürliche Fortschreibung noch anhaltender Wirtschaftsbooms. Die Verbreitung von Hurra-Nachrichten zur Demografie ist ein gefährliches Spiel mit Lebensrealität.

Daniel Hermsdorf

Verleger, Autor, Journalist bei filmdenken.de - Medienkritik, Verschwörungstheorie und Physiognomik

Eine Antwort

  1. Peter Hallonen sagt:

    “Die Export-Gewinne Deutschlands in den letzten Jahren waren ein wirtschaftspolitischer Zweiter Weltkrieg.” Das ist ein Thema, das m.E. viel zu wenig Beachtung findet, sowohl in der “Mainstream”-Öffentlichkeit als auch in der (verschwörungstheoretischen) Gegenöffentlichkeit. Schließlich gibt es so manche Indizien dafür, dass die Weltgeschichte – mit besonderem Augenmerk auf die deutsche – seit 1989 unter anderen Vorzeichen das Geschehen der Zeit ab 1919 wiederholt. Diese 70-Jahres-Differenz lässt sich nämlich für bedeutende Ereignisse dieser Zeit feststellen:

    – Das Jahr 1919 markiert den Anfangspunkt einer Ära, der Zwischenkriegszeit, ebenso wie das Jahr 1989 den Beginn der multipolaren Weltordnung markiert. In Deutschland konstituierte sich 1919 die erste deutsche Republik, 1989 fiel die Mauer zwischen beiden deutschen Staaten und “konstituierte” sich so gesehen wieder (bzw. mit der Wiedervereinigung im Jahr darauf) ein gesamtdeutscher Staat.
    – In den 1920er-Jahren, insbesondere seit Mitte des Jahrzehnts, durchlebte die Weltwirtschaft einen Aufschwung, der weltweit als “Goldene Zwanziger” (Deutschland) oder “Roaring Twenties” (USA) auch mit einem kulturellen Wandel – insgesamt gesehen einer wirtschaftlichen Globalisierung und kulturellen Liberalisierung – einherging. Dies ist den 1990er-Jahren nicht unähnlich, die bekanntlich das erste Jahrzehnt des globalen Kapitalismus der postkommunistischen Ära darstellen. Der Boom endete jeweils zum Ende des Jahrzehnts: am 24. Oktober 1929 mit dem “Schwarzen Donnerstag”, der als schwerwiegendster Börsencrash der Weltgeschichte gilt und zudem als Beginn der (ersten globalen?) Weltwirtschaftskrise – sowie 70 Jahre und wenige Monate später im März 2000 mit dem Zusammenbruch der “Dot-Com-Blase”.
    – Die globalen Aktienmärkte fanden jeweils in den Jahren 1932 und 2002 einen Boden, die einhergehende Rezession in den Industrieländern spätestens Anfang 1933 bzw. Anfang 2003.
    – Frappierender sind hingegen folgende Übereinstimmungen auf politischer Ebene: In Deutschland gab es Anfang 1933 die Machtergreifung des Nationalsozialismus (abgeschlossen durch das Ermächtigungsgesetz vom 23./24. März 1933), in den USA trat im März 1933 Franklin D. Roosevelt das Amt des US-Präsidenten an. Beide begründeten in ihren Ländern eine jeweils 12-jährige Ära, die zudem jeweils mit ihrem Tod im April 1945 endete. “National” und “sozialistisch” waren beide: für das Deutsche Reich 1933–1945 braucht dies nicht erläutert zu werden, in den USA war es jedenfalls der New Deal, der zu gewaltigen sozialen Veränderungen führte. In Deutschland gab es genau 70 Jahre nach Machtergreifung des Nationalsozialismus die Machtergreifung einer anderen Ideologie: des Neoliberalismus mit der im März 2003 verkündeten Agenda 2010. In den USA war es nicht der Neoliberalismus, der die Macht ergriff (die er dort schon längst ergriffen hatte?), wohl aber der Neokonservatismus, der mit dem Irakkrieg im März 2003 zeitgleich seine Macht “demonstrierte”, wenn nicht ergriff.
    – Nach 1933 begann Deutschlands politischer und wirtschaftlicher (Wieder)Aufstieg mit einer Reihe innen- und außenpolitischer Erfolge. Ebenso war es 70 Jahre später, als der vormalige “kranke Mann Europas” spätestens durch den 2005 einsetzenden und zunächst bis 2007/08 andauernden Aufschwung wie durch ein Wunder wieder als wirtschaftlich stärkste Nation Europas dastand. Gerade medial betrachtet war dies ebenso wie 70 Jahre zuvor eine 180°-Wendung der Wahrnehmung Deutschlands von sich selbst und in der Welt.
    – Die Sudetenkrise im Herbst 1938 war der Vorbote des im Jahr darauf folgenden Krieges, die Weltfinanzkrise im September/Oktober 2008 der Vorbote der im Jahr darauf einsetzenden Eurokrise, die sich letztlich als weit verheerender als die vorherige Krise darstellen könnte.
    – Im September 1939 begann Deutschland durch den Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg, im Oktober 2009 begann mit der Bekanntgabe einer massiv höheren Staatsverschuldung als zuvor angegeben durch die griechische Regierung die Eurokrise, als deren Verursacher letztlich – durch den systematisch niedrigeren Anstieg der Lohnstückkosten (=Inflationsrate) als der im Rahmen der Europäischen Währungsunion vereinbarten knapp 2 % – Deutschland dasteht oder dereinst dastehen wird (siehe Heiner Flassbeck). In beiden Fällen wurde die jeweilige Großkrise nicht bis zum darauffolgenden Frühjahr als solche wahrgenommen: 1939/40 war es der sogenannte “Sitzkrieg”, in dem beide wesentlichen Kriegsparteien bis zum Beginn des deutschen Westfeldzugs Anfang Mai 1940 weitgehend passiv blieben; 2009/10 dauerte es bis Mai 2010, bis eine weltweite konzertierte Aktion mehrerer Notenbanken und der Beschluss des ersten Rettungspakets ein öffentliches (Euro-)Krisenbewusstsein hervorrief.
    – Das Ende dieser geschichtlichen Widerholungsphase müsste das Jahr 2015 markieren, insoweit man als Referenzpunkt das Ende des Zweiten Weltkriegs nimmt, das in Europa bis zum Mai und in Japan bis September stattgefunden hatte. Die Eurokrise dauert jedenfalls noch an – doch wer will, kann den Wahlsieg von Syriza in Griechenland als das Anfang vom Ende der deutschen Vorherrschaft in Europa betrachten (wie es ja teilweise auch jetzt schon so gesehen wird).

    Verkompliziert wird das Ganze durch den derzeit laufenden Ost-West-Konflikt, bei dem Deutschland anders als vor 70 Jahren an der Seite der USA gegen Russland steht. Entscheidend ist meines Erachtens aber, dass Deutschland bald zum dritten Mal innerhalb eines Jahrhunderts als das Land dastehen könnte, das Not und Elend über einen ganzen Kontinent gebracht hat. Die in manchen Ländern Europas üblichen Vergleiche Angela Merkels mit Adolf Hitler sind jedenfalls bezeichnend: Letzterer führte einen militärischen Krieg, erstere führt (noch) einen ökonomischen Krieg gegen den Rest Europas.

    So oder so ähnlich könnte man es jedenfalls sehen. Was daran bewusste Planung oder auch nicht mehr als ein historischer Zufall sein könnte, wird sich vor allem in den kommenden Monaten erweisen – insbesondere daran, ob wir dieses Jahr das Ende der Ideologie (Neoliberalismus) erleben werden, die jedenfalls in Deutschland ihren definitiven Siegeszug 2003 begann. Auch erweisen wird sich, ob das Ganze nur Deutschland und Europa betreffen wird oder vermittels einer neuerlichen Weltwirtschaftskrise (ausgelöst durch Europa) wie vor 70 Jahren einen Wendepunkt der ganzen Weltgeschichte darstellen wird.

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